"Skispringen ist wie Todesangst"

Felix Götz
03. Dezember 201517:28
Dieter Thoma hat 1989/90 die Vierschanzentournee gewonnen
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Er holte 1994 Olympisches Gold mit der Mannschaft, gewann 1989/90 die Vierschanzen-tournee und ist heute unter anderem als TV-Experte tätig: Dieter Thoma. Ein Gespräch über die enorme psychische Belastung im Skispringen, die hervor-ragende Arbeit des Bundestrainers und das aktuelle Leistungsvermögen der DSV-Adler. Zudem verrät der 46-jährige Markenbotschafter des Menswear-Labels CAMP DAVID, warum er von den Sportlern verlangt, mehr von sich preiszugeben und sich eine Meinung zu bilden.

SPOX: Herr Thoma, der 43-jährige Noriaki Kasai hat neulich angekündigt, bis 2026 weitermachen zu wollen und mit dann fast 54 Jahren an den Olympischen Spielen in Sapporo teilzunehmen. Meint der das wirklich ernst?

Dieter Thoma: Dem traue ich mittlerweile wirklich alles zu. (lacht) Aber das sind nochmal zehn Jahre, die er springen müsste. Das muss man sich mal überlegen, das ist Wahnsinn. Ich weiß auch nicht, was der isst. Irgendwie muss sein Organismus anders funktionieren als ein normaler Körper. Wenn du mit 43 so viele Sprünge gemacht, so viel trainiert, Telemarklandungen im hohen Weitenbereich gemacht hast, und das dann immer noch alles auch im Kopf verarbeiten kannst, dann ticken die Uhren in Japan wohl anders. Das ist Stress auf lange Zeit.

SPOX: Was meinen Sie mit Stress?

Thoma: Für den Körper ist Skispringen neurologisch gesehen ein wahnsinniger Stress, vergleichbar mit der Beanspruchung eines Jetpiloten. Die werden relativ früh pensioniert, weil sie den Job psychisch irgendwann einfach nicht mehr hinbekommen. Skispringen ist wie Todesangst. Ich beziehe mich an dieser Stelle auf einen Hirnforscher, der das folgendermaßen erklärt hat: Da wir als Menschen nicht zum Fliegen gemacht sind, reagiert der Körper normalerweise wie in einer extremen Stresssituation, die der Todesangst ähnelt. Nur weil wir Skispringer es gewöhnt sind und es von klein auf gelernt haben, können wir damit umgehen. Auf Dauer können wir allerdings Körper und Geist nicht überlisten.

SPOX: Glücklicherweise sind die aktuellen DSV-Adler diesbezüglich noch in bester Verfassung. Welchen Eindruck haben Sie in der noch jungen Saison von den deutschen Springern gewonnen?

Thoma: Ich bin schwer beeindruckt. Ich habe das Training natürlich auch davor schon gesehen und war mir darüber im Klaren, dass sie gut drauf sind. Aber man hatte keinen direkten Vergleich mit anderen, weshalb man nicht genau wusste, wo man steht. Das Schöne ist: Die Ergebnisse in Klingenthal passten und trotzdem ist noch Luft nach oben. Beispielsweise können Richard Freitag und Severin Freund noch mehr. Und trotzdem ist Freund Dritter, Freitag Vierter geworden. Das ist phänomenal. Man muss aber festhalten: Die Saison ist noch jung, weshalb sich noch einiges verändern kann.

Die verrücktesten Typen des Wintersports

SPOX: Wir dürfen aber trotzdem auf einen richtig erfolgreichen Winter hoffen?

Thoma: Auf alle Fälle, die Qualität dazu ist vorhanden und die setzt sich auf lange Sicht immer durch. Ich denke, dass wir in diesem Jahr ziemlich gut im Rennen liegen. Neben Freund und Freitag traue ich auch Andreas Wellinger einiges zu. Das ist ein absoluter Wettkampftyp. Wenn es los geht, dann ist er da - einfach geil.

SPOX: Wie wird Wellinger mit seinem schlimmen Sturz im vergangenen Jahr in Kuusamo umgehen?

Thoma: Er hatte viel Zeit und inzwischen viele Sprünge, um den Sturz aus dem Kopf zu bekommen. Seine Technik und Skiführung wurde zudem leicht verändert, um sicherer ins Tal zu gleiten. Er braucht jetzt nicht die Welt einreißen, sondern soll einfach sichere, vernünftige Sprünge für die Zukunft bringen. Er ist noch so jung, hat noch viel Zeit. Dennoch muss man die Bedingungen abwarten und zur Not lässt der Trainer ihn einfach nicht runter, um ihn zu schützen. Wir werden in den kommenden Jahren jedenfalls noch sehr viel Freude an ihm haben.

SPOX: In dieser Saison stehen keine Olympischen Spiele an, es gibt abgesehen von der Skiflug-WM keine Weltmeisterschaft. Die Vierschanzentournee steht also als absolutes Highlight im Fokus. Was fehlt Freund, um das Ding zu gewinnen?

Thoma: Eigentlich fehlt gar nichts. Er hat meiner Meinung nach alles, was man braucht. Manchmal kommen günstige Umstände dazu oder eben nicht. Und da meine ich nicht nur den Wind.

SPOX: Was noch?

Thoma: Ich sag es mal so: Man kommt nach Oberstdorf, hat einfach ein gutes Gefühl, springt und die Rückmeldung ist sofort da. Man weiß nach einem guten Start: das läuft, ich bin voll dabei. Und dann geht so eine Tournee ratzfatz vorbei mit vier Wettkämpfen in neun Tagen. Es bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Es geht dann zwar immer noch nicht von alleine, aber die Qualität und vor allem die Stabilität in den Grundsprüngen ist bei Freund hoch. Deshalb hat er eine sehr realistische Chance, bei der Tournee ganz weit nach vorne zu kommen.

SPOX: Ist demnach ein entscheidender Faktor, den Kopf auszuschalten und einfach sein Ding zu machen?

Thoma: Das kann helfen, aber bei Severin würde ich es so nicht ausdrücken. Sehen Sie: Er ist ein aufgeräumter Mensch, der seine Situation und seine Sprünge neutral und nüchtern analysieren kann. Von außen betrachtet, sieht er viele Begebenheiten beim Skispringen mit weniger Emotionen als andere Springer. Das ist gut, gerade wenn es gilt, in schwierigen Situationen einen coolen Kopf zu bewahren. Wenn man emotionaler ist, kann das manchmal zwar auch helfen, allerdings auch hemmen.

SPOX: Sie waren früher eher der emotionale Typ.

Thoma: Ja, das stimmt. Ich kann es nicht ändern. Ich bin immer noch mit Leib und Seele dabei. Ritschi Freitag erinnert mich ein bisschen an mich früher. Wenn es läuft, dann strahlt er auch über das ganze Gesicht und ist so glücklich, dass vielleicht 110 Prozent rauskommen. Wenn es nicht läuft, geht es aber auch mal voll daneben. So war es bei mir doch auch: Entweder es klappt alles oder gar nichts. Dennoch ist es eine andere Zeit und man wird von außen besser reflektiert, das hilft in der Persönlichkeitsentwicklung.

SPOX: Und Freund hat diese extremen Schwankungen nicht.

Thoma: Genau, so sieht es zumindest aus. Freund hat im Moment ein höheres Grundniveau, weshalb Ausbrecher nach unten weniger vorkommen. Aber auch mit Freitags offener, ehrlicher Art und Weise kann man ganz vorne reinspringen und sich mit Erfolgserlebnissen oben halten. Warum nicht auch bei der Tournee? Wenn er direkt zum Auftakt in Oberstdorf seine Nervosität und seine neue Technik im Griff hat, kann viel passieren. Allerdings gibt es im Falle Freund und Freitag auch noch Gegner, die ein Wörtchen mitreden.

SPOX: Wen sehen Sie ganz vorne?

Thoma: Das Team von Werner Schuster hat mit den Slowenen die größte Chance, ganz nach vorne zu springen. Direkt dabei sehe ich die Norweger. Aus jetziger Sicht, wohlgemerkt. Natürlich kann noch jemand dazukommen, den ich jetzt noch nicht so auf dem Zettel habe.

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SPOX: Apropos Schuster. Wie bewerten Sie eigentlich die Arbeit des Bundestrainers?

Thoma: Er macht seinen Job sehr gut. Auch er lernt von Jahr zu Jahr immer mehr dazu. Das soll jetzt nicht blöd klingen. Er ist ein sehr gut ausgebildeter Trainer, der alles kann, was man können muss. Aber er lässt auch die Co-Trainer wirken, was ziemlich clever ist. Die können in Absprache in den jeweiligen Bereichen selbstständig arbeiten, so entsteht ein ganz anderes Gefüge. Der Werner hat die Trainer unter sich im positiven Sinne im Griff.

SPOX: Und das war vor ihm nicht immer so?

Thoma: In der Vergangenheit war es manchmal so, dass es völlig unterschiedliche Auffassungen von Training und Technik gab und jeder Landesverband um Einfluss kämpfte. Es ist im Prinzip immer so, aber es müsste heißen: Wir springen gemeinsam für Deutschland und nicht zum Beispiel wir für den Schwarzwald, wir für Bayern und ihr für Thüringen. Werner hat es geschafft, sich anzunähern, ein gesamtdeutsches Team ohne Grüppchen zu formen. Es ist immer mehr ein Miteinander, kein Gegeneinander. Und das ist soooo wichtig.

SPOX: Im Rodeln gab es ähnliche Schwierigkeiten. Da wurde den Bayern vorgeworfen, ihr eigenes Süppchen zu kochen.

Thoma: Jeder hat seine Befindlichkeiten und möchte seine Berechtigung, das ist auch irgendwo okay. Im Skispringen ist der Bundestrainer eher so eine Art Bundespräsident. Er muss das große Ganze im Blick haben. Ein Bundespräsident muss sich auf den unterschiedlichen Gebieten nicht immer selbst zu 100 Prozent auskennen.

SPOX: Also hat Schuster auch Schwächen?

Thoma: So meine ich das überhaupt nicht. Werner ist natürlich ein Fachmann, der sich überall auskennt. Er ist aber nicht ständig mit jedem Sportler zu Hause beim Training, sondern bekommt durch seine Co-Trainer alles mit. Und er versucht nicht, die zu überstimmen, sondern miteinander im Dialog die richtigen Schlüsse zu ziehen.

SPOX: Geben Sie uns bitte ein Beispiel.

Thoma: Wenn Freunds Heimtrainer Christian Winkler beispielsweise seinem Schützling etwas erklärt, würde Werner nicht währenddessen unterbrechen und sagen: Das sehe ich aber so oder so. Er wartet das Gespräch ab und redet im Nachhinein mit dem Trainer und bringt dann seine Ideen ein. Die Zusammenarbeit im deutschen Team funktioniert deshalb richtig gut, es herrscht auch eine tolle Atmosphäre. Und das ist - das weiß ich aus eigener Erfahrung - enorm wertvoll. Man geht dann als Springer mit einer ganz anderen Stärke an einen Wettkampf heran.

SPOX: Man merkt, dass Sie sich viele Gedanken über Ihren Sport machen. Auch darüber, wie das Skispringen für den Fernsehzuschauer und für das Publikum vor Ort insgesamt populärer gemacht werden kann. An was denken Sie dabei?

Thoma: Man darf natürlich keinen zu großen Einfluss auf die Sportler nehmen, aber man muss sie noch mehr einbinden. Man muss dem Zuschauer noch mehr eindeutige Informationen bieten und die Leute unterhalten. Die sollen sagen: Das war ein richtig tolles Event mit sportlichen Höchstleistungen, außerdem haben wir die Sportler auch mal ohne Helm zu Gesicht bekommen. Der Fan sollte die Jungs auch im Alltag kennen. Klar sind die, die schon seit Jahren dabei sind, oder auch die meisten deutschen Springer bekannt. Man muss den Fans aber alle Springer präsentieren und vorstellen, damit sie sich womöglich mit dem einen oder anderen Sportler identifizieren können. Oder was junge Zuschauer angeht, damit Sie sich einen Skispringer als Idol aussuchen können.

SPOX: Also müssen Skispringer mehr von sich preisgeben?

Thoma: Man kann sich in gewissen Bereichen natürlich weiterhin schützen. Man kann sagen: Ich möchte mein Privatleben raushalten, vor allem wenn man Kinder hat. Man möchte ja nicht unbedingt, dass sein Kind im Fernsehen gezeigt wird. Dennoch haben die Sportler nur eine relativ kurze Phase in ihrem Leben, in der sie auch finanziell etwas bewirken können. Wenn sie also eine Werbefigur sind, die man sieht und erkennt, dann gibt es bessere Sponsorenverträge. Natürlich bleibt die Leistung das Grundlegende. Ohne Leistung gibt es keinen Sponsorenvertrag. Trotzdem muss ein Sportler ein bisschen etwas von sich preisgeben.

SPOX: Wie kommt man als Sportler in der Öffentlichkeit gut an?

Thoma: Die Menschen wollen Typen haben, von denen sie sagen: Schau mal, das ist ein Mensch wie du und ich, aber der bringt Spitzenleistungen. Das ist geil, hinter dem kann ich stehen. Ein Skispringer muss sich jetzt nicht unbedingt zu politischen oder religiösen Themen äußern. Aber eine eigene Meinung zu haben und diese auch vertreten - das sollte man schon machen. So kann der Fan ja erst sehen: Der gefällt mir, der ist sympathisch, der gibt gute Interviews. Bodenständigkeit in der Kombination mit einer gewissen Offenheit kommt bei den Menschen meistens gut an. Der Mensch ist das, was übrig bleibt. Die Leistungen sind irgendwann weg.

SPOX: Welcher Skispringer war in dieser Hinsicht in der Vergangenheit besonders erfolgreich?

Thoma: Martin Schmitt ist ein gutes Beispiel. Der war sehr erfolgreich und gleichzeitig als Mensch immer top und nie neidisch oder so. Der wahre Mensch ist bei ihm herausgekommen, als er keine Erfolge mehr hatte. Es war wahnsinnig beeindruckend, wie er damit umgegangen ist. Auch mit der Kritik. Das war großer Sport, da muss ich noch heute den Hut vor ziehen. Er ist einfach immer ein guter Typ geblieben.

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