"Skispringen ist wie Todesangst"

Dieter Thoma hat 1989/90 die Vierschanzentournee gewonnen

Er holte 1994 Olympisches Gold mit der Mannschaft, gewann 1989/90 die Vierschanzen-tournee und ist heute unter anderem als TV-Experte tätig: Dieter Thoma. Ein Gespräch über die enorme psychische Belastung im Skispringen, die hervor-ragende Arbeit des Bundestrainers und das aktuelle Leistungsvermögen der DSV-Adler. Zudem verrät der 46-jährige Markenbotschafter des Menswear-Labels CAMP DAVID, warum er von den Sportlern verlangt, mehr von sich preiszugeben und sich eine Meinung zu bilden.

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SPOX: Herr Thoma, der 43-jährige Noriaki Kasai hat neulich angekündigt, bis 2026 weitermachen zu wollen und mit dann fast 54 Jahren an den Olympischen Spielen in Sapporo teilzunehmen. Meint der das wirklich ernst?

Dieter Thoma: Dem traue ich mittlerweile wirklich alles zu. (lacht) Aber das sind nochmal zehn Jahre, die er springen müsste. Das muss man sich mal überlegen, das ist Wahnsinn. Ich weiß auch nicht, was der isst. Irgendwie muss sein Organismus anders funktionieren als ein normaler Körper. Wenn du mit 43 so viele Sprünge gemacht, so viel trainiert, Telemarklandungen im hohen Weitenbereich gemacht hast, und das dann immer noch alles auch im Kopf verarbeiten kannst, dann ticken die Uhren in Japan wohl anders. Das ist Stress auf lange Zeit.

SPOX: Was meinen Sie mit Stress?

Thoma: Für den Körper ist Skispringen neurologisch gesehen ein wahnsinniger Stress, vergleichbar mit der Beanspruchung eines Jetpiloten. Die werden relativ früh pensioniert, weil sie den Job psychisch irgendwann einfach nicht mehr hinbekommen. Skispringen ist wie Todesangst. Ich beziehe mich an dieser Stelle auf einen Hirnforscher, der das folgendermaßen erklärt hat: Da wir als Menschen nicht zum Fliegen gemacht sind, reagiert der Körper normalerweise wie in einer extremen Stresssituation, die der Todesangst ähnelt. Nur weil wir Skispringer es gewöhnt sind und es von klein auf gelernt haben, können wir damit umgehen. Auf Dauer können wir allerdings Körper und Geist nicht überlisten.

SPOX: Glücklicherweise sind die aktuellen DSV-Adler diesbezüglich noch in bester Verfassung. Welchen Eindruck haben Sie in der noch jungen Saison von den deutschen Springern gewonnen?

Thoma: Ich bin schwer beeindruckt. Ich habe das Training natürlich auch davor schon gesehen und war mir darüber im Klaren, dass sie gut drauf sind. Aber man hatte keinen direkten Vergleich mit anderen, weshalb man nicht genau wusste, wo man steht. Das Schöne ist: Die Ergebnisse in Klingenthal passten und trotzdem ist noch Luft nach oben. Beispielsweise können Richard Freitag und Severin Freund noch mehr. Und trotzdem ist Freund Dritter, Freitag Vierter geworden. Das ist phänomenal. Man muss aber festhalten: Die Saison ist noch jung, weshalb sich noch einiges verändern kann.

Die verrücktesten Typen des Wintersports

SPOX: Wir dürfen aber trotzdem auf einen richtig erfolgreichen Winter hoffen?

Thoma: Auf alle Fälle, die Qualität dazu ist vorhanden und die setzt sich auf lange Sicht immer durch. Ich denke, dass wir in diesem Jahr ziemlich gut im Rennen liegen. Neben Freund und Freitag traue ich auch Andreas Wellinger einiges zu. Das ist ein absoluter Wettkampftyp. Wenn es los geht, dann ist er da - einfach geil.

SPOX: Wie wird Wellinger mit seinem schlimmen Sturz im vergangenen Jahr in Kuusamo umgehen?

Thoma: Er hatte viel Zeit und inzwischen viele Sprünge, um den Sturz aus dem Kopf zu bekommen. Seine Technik und Skiführung wurde zudem leicht verändert, um sicherer ins Tal zu gleiten. Er braucht jetzt nicht die Welt einreißen, sondern soll einfach sichere, vernünftige Sprünge für die Zukunft bringen. Er ist noch so jung, hat noch viel Zeit. Dennoch muss man die Bedingungen abwarten und zur Not lässt der Trainer ihn einfach nicht runter, um ihn zu schützen. Wir werden in den kommenden Jahren jedenfalls noch sehr viel Freude an ihm haben.

SPOX: In dieser Saison stehen keine Olympischen Spiele an, es gibt abgesehen von der Skiflug-WM keine Weltmeisterschaft. Die Vierschanzentournee steht also als absolutes Highlight im Fokus. Was fehlt Freund, um das Ding zu gewinnen?

Thoma: Eigentlich fehlt gar nichts. Er hat meiner Meinung nach alles, was man braucht. Manchmal kommen günstige Umstände dazu oder eben nicht. Und da meine ich nicht nur den Wind.

SPOX: Was noch?

Thoma: Ich sag es mal so: Man kommt nach Oberstdorf, hat einfach ein gutes Gefühl, springt und die Rückmeldung ist sofort da. Man weiß nach einem guten Start: das läuft, ich bin voll dabei. Und dann geht so eine Tournee ratzfatz vorbei mit vier Wettkämpfen in neun Tagen. Es bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Es geht dann zwar immer noch nicht von alleine, aber die Qualität und vor allem die Stabilität in den Grundsprüngen ist bei Freund hoch. Deshalb hat er eine sehr realistische Chance, bei der Tournee ganz weit nach vorne zu kommen.

SPOX: Ist demnach ein entscheidender Faktor, den Kopf auszuschalten und einfach sein Ding zu machen?

Thoma: Das kann helfen, aber bei Severin würde ich es so nicht ausdrücken. Sehen Sie: Er ist ein aufgeräumter Mensch, der seine Situation und seine Sprünge neutral und nüchtern analysieren kann. Von außen betrachtet, sieht er viele Begebenheiten beim Skispringen mit weniger Emotionen als andere Springer. Das ist gut, gerade wenn es gilt, in schwierigen Situationen einen coolen Kopf zu bewahren. Wenn man emotionaler ist, kann das manchmal zwar auch helfen, allerdings auch hemmen.

SPOX: Sie waren früher eher der emotionale Typ.

Thoma: Ja, das stimmt. Ich kann es nicht ändern. Ich bin immer noch mit Leib und Seele dabei. Ritschi Freitag erinnert mich ein bisschen an mich früher. Wenn es läuft, dann strahlt er auch über das ganze Gesicht und ist so glücklich, dass vielleicht 110 Prozent rauskommen. Wenn es nicht läuft, geht es aber auch mal voll daneben. So war es bei mir doch auch: Entweder es klappt alles oder gar nichts. Dennoch ist es eine andere Zeit und man wird von außen besser reflektiert, das hilft in der Persönlichkeitsentwicklung.

SPOX: Und Freund hat diese extremen Schwankungen nicht.

Thoma: Genau, so sieht es zumindest aus. Freund hat im Moment ein höheres Grundniveau, weshalb Ausbrecher nach unten weniger vorkommen. Aber auch mit Freitags offener, ehrlicher Art und Weise kann man ganz vorne reinspringen und sich mit Erfolgserlebnissen oben halten. Warum nicht auch bei der Tournee? Wenn er direkt zum Auftakt in Oberstdorf seine Nervosität und seine neue Technik im Griff hat, kann viel passieren. Allerdings gibt es im Falle Freund und Freitag auch noch Gegner, die ein Wörtchen mitreden.

SPOX: Wen sehen Sie ganz vorne?

Thoma: Das Team von Werner Schuster hat mit den Slowenen die größte Chance, ganz nach vorne zu springen. Direkt dabei sehe ich die Norweger. Aus jetziger Sicht, wohlgemerkt. Natürlich kann noch jemand dazukommen, den ich jetzt noch nicht so auf dem Zettel habe.

Seite 1: Thoma über enorme Belastungen und die DSV-Adler

Seite 2: Thoma über Schuster, neue Ideen und Martin Schmitt

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