Als zum letzten Mal Olympisches Gold um den Hals von deutschen Handballern baumelte, wurde noch auf Rasen gespielt. Die Partien endeten 22:0 gegen Ungarn, 29:1 gegen die USA oder im Finale 10:6 gegen Österreich. 1936 in Berlin war das, verdammt lange her also.
Seither gab es nur noch zwei Silbermedaillen - mit jeweils dramatischen Niederlagen in den Endspielen. 1984 in Los Angeles unterlag das DHB-Team dem damaligen Jugoslawien mit 17:18, 2004 in Athen gegen Kroatien mit 24:26. Das war es dann. Vor vier Jahren in London war das DHB-Team erstmals überhaupt nicht für Olympia qualifiziert.
Es wird höchste Zeit, mal wieder für Furore zu sorgen. Und lange waren die Hoffnungen auf eine Medaille nicht mehr so groß wie in Rio. "Natürlich ist das Interesse gestiegen, aber das muss nicht unbedingt Druck bedeuten. Dass mehr Leute mit uns mitfiebern, ist eine schöne Sache. Und wenn alles gut läuft, haben wir Hoffnung auf etwas Großes", weiß auch Bundestrainer Dagur Sigurdsson um die Erwartungshaltung in der Heimat.
Die Ausgangslage hat sich nicht nur in Bezug auf die Erwartungshaltung der eigenen Anhängerschaft verändert. Auch die anderen Nationen haben Deutschland nun auf dem Zettel. "Ich habe die Jungs darauf vorbereitet, was da kommt, aber kein riesiges Drama draus gemacht", sagte Sigurdsson dazu.
Sigurdsson trifft harte Entscheidungen
Das alles liegt selbstredend im Auftritt bei der Europameisterschaft in Polen im Januar begründet, als die deutsche Mannschaft trotz riesiger Verletzungsprobleme zu einem ungeahnten Höhenflug ansetzte und am Ende in Krakau gegen Spanien sensationell den Titel holte.
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Weil zahlreiche damals ausgefallene Stars zurück sind, musste Sigurdsson im Vorfeld der Spiele harte Entscheidungen treffen. Zumal bei Olympia der Kader nur aus 14 und nicht wie bei Welt- oder Europameisterschaften aus 16 Akteuren bestehen darf.
Rune Dahmke, Jannik Kohlbacher, Erik Schmidt, Niclas Pieczkowski, Simon Ernst und Johannes Sellin sind komplett rausgerutscht. Steffen Fäth, Steffen Weinhold und Carsten Lichtlein sind lediglich als Ersatzspieler mit an den Zuckerhut gereist.
Unbedingter Wille "noch zu wenig zu sehen"
Individuell scheint die Mannschaft noch besser als in Polen besetzt zu sein. Zum großen Wurf wird das alleine aber aufgrund der großen Konkurrenz aus Frankreich, Dänemark oder Kroatien nicht reichen. Es gilt, den Bad-Boys-Spirit, den Geist von Polen wieder zu aktivieren. Ohne mannschaftliche Geschlossenheit - so abgedroschen das klingen mag - wird es keinen Erfolg geben.
Und da lag in der Vorbereitung teilweise das Problem. Fast immer stimmte irgendetwas im Spiel der deutschen Mannschaft nicht. Mal war es die schwache Chancenverwertung, mal ungewohnte Lücken in der Abwehr aufgrund von mangelnder Aggressivität.
"Der unbedingte Wille, mehr in den Topf einzuzahlen als rauszunehmen, ist noch zu wenig zu sehen. Alle müssen noch mehr investieren. Die Mannschaft ist noch nicht in der Verfassung, in der ich sie mir gewünscht hätte", fand DHB-Vizepräsident Bob Hanning vor wenigen Tagen deutliche Worte.
Ablenkung als "Riesengefahr"
Eine weitere Hürde stellt Olympia im Allgemeinen dar. Im Olympischen Dorf ist die Ablenkung enorm und deshalb überhaupt nicht mit einer EM oder WM zu vergleichen. Der DHB muss also für klare Strukturen sorgen, ohne dadurch den Spielern das Erlebnis Olympia madig zu machen.
Auch Teammanager Oliver Roggisch erkennt in der Ablenkung eine "Riesengefahr". Man müsse versuchen, die Wettkämpfe in den anderen Sportarten mehr oder weniger zu vergessen. "Wenn wir in Rio keinen Erfolg haben, macht auch das ganze Leben im Olympischen Dorf keinen Spaß. Ich versuche, mich auf nichts anderes als Handball zu freuen. Handball ist genug", sagte Roggisch.
Er erhielt dabei Unterstützung von Kapitän Uwe Gensheimer, der Rio zwar als "den Höhepunkt seiner Karriere" bezeichnete, aber gleichzeitig erklärte: "Es ist für uns alle das erste Mal bei Olympischen Spielen, da kommt einiges auf uns zu. Es ist wichtig, trotzdem den Fokus auf den sportlichen Wettkampf zu halten. Das wird das A und O sein."
Gute Erinnerungen an Schweden
Womöglich ist Schweden unter allen genannten Aspekten der genau richtige Auftaktgegner. Schließlich verbindet die deutsche Mannschaft mit dem viermaligen Weltmeister ein ganz entscheidendes Erlebnis.
Als das DHB-Team nämlich nach der Auftaktpleite gegen Spanien bei der EM in Breslau im zweiten Spiel gegen die Skandinavier zum Siegen verdammt war, gelang ihr ein grandioses Comeback. Aus einem 13:17-Rückstand zur Halbzeit machten die Deutschen ein 27:26. Es war die Initialzündung für das gesamte Turnier.
"Wir haben ein schwieriges Spiel gegen Schweden vor der Nase. Beide Mannschaften sind gut drauf, die Schweden sind noch stärker als im Januar", sagte Sigurdsson: "Die Anspannung ist groß. Wir warten schon sehr lange auf diesen Tag."
Sigurdsson ist sich übrigens sicher, dass auch seine isländischen Landsleute Deutschland die Daumen drücken werden: "Da werden schon sehr viele mitfiebern. Das war auch bei der Europameisterschaft extrem: Island war früh raus und dann sind sie alle auf den deutschen Zug aufgesprungen."
Lernprozess mit Happy End?
Bleibt die Frage, was denn nun für Deutschland drin ist. Gold, Silber, Bronze oder doch nur Blech? Während Torhüter Andreas Wolff von seinem Ziel Olympiasieg nicht abzubringen ist, äußerte sich Hanning zurückhaltender. Er will erst einmal unter die ersten vier Teams der Gruppe kommen.
"Gemeinsamer Nenner muss sicherlich das Viertelfinale sein, dann ist alles möglich. Wir können nach wie vor gegen viele Teams verlieren, aber auch gegen alle gewinnen", sagte der Manager der Füchse Berlin.
Ohnehin geht es in erster Linie darum, die insgesamt positive Entwicklung der noch frischen Sigurdsson-Ära voranzutreiben, findet Hanning: "Wir wollen uns weiterentwickeln. Natürlich wollen wir auch erfolgreich sein, aber ich betrachte das bevorstehende Turnier vor allem als wichtigen Baustein im Lernprozess dieser Mannschaft."
Auch die EM in Polen war zum Lernen gedacht. Was dabei heraussprang, ist bekannt.