Ein Motto und seine Folgen

Tim Noller
04. Februar 201422:08
Das IOC sieht sich zunehmender internationaler Kritik an den Olympischen Spielen ausgesetztgetty
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Höher, schneller, weiter - das Olympische Motto entwickelt sich für das IOC allmählich zum Fluch. Die Werte des Sports geraten in den Hintergrund und Menschen weltweit entfernen sich von der Olympischen Idee. Gelingt es Präsident Thomas Bach nicht, dem Gigantismus Einhalt zu gebieten, droht der traditionsreichen Bewegung der Verfall.

"In freiheitlichen Gesellschaften hat die Olympische Idee offensichtlich ein Problem, noch Anklang zu finden. Es zeigt: Kommerz und Korruption, Intransparenz, Prunksucht und die Nähe zu fragwürdigen Mächten haben der Organisation eine Krise beschert, die tief reicht."

Die Enttäuschung über den verlorenen Bürgerentscheid saß bei den Befürwortern der Olympischen Spiele 2022 in München tief. Christian Neureuthers vernichtendes Urteil über das Internationale Olympische Komitee (IOC) reihte sich in zahlreiche kritische Stimmen ehemaliger und aktiver Sportler ein, die den Grund für das deutliche Scheitern im zweifelhaften Image der weltweit höchsten Sportorganisation suchten.

Vier bayrische Landkreise wurden befragt, vier votierten gegen eine erneute Bewerbung Münchens für die Olympischen Winterspiele. Dieses deutliche Zeichen der Menschen sollte auch den deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach zum Nachdenken bewegen. Denn München ist kein Einzelfall.

Skepsis am Mega-Event wächst

Der Missmut ob der gigantischen Auswüchse des IOC wächst rund um den Globus. Unruhen in Brasilien, Russland und auch das Nein des Schweizer Kantons Graubünden gegen die Bewerbung von St. Moritz verdeutlichen die zunehmende Skepsis am Mega-Event, die erstmals im Zuge der Bewerbung Torontos für die Sommerspiele 1996 mit der Kampagne "bread not circuses" öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck gebracht wurde. SPOX

Im Mittelpunkt des Zorns: nicht nur die gigantischen Steuerausgaben für die Ausrichtung der Olympischen Spiele, sondern auch die immensen Kosten einer Bewerbung, die sich im Fall München 2018 auf rund 33 Millionen Euro beliefen. Ergänzt wird die Kritik neuerdings von Umweltbedenken, die in den Infrastrukturmaßnahmen für das Sportspektakel schädliche Eingriffe in das Ökosystem der Region sehen.

Nicht unbegründet verweisen viele Kritiker auf die Olympische Charta, eine Art Verfassung des IOC, in der die Prinzipien des Olympismus, aber auch konkret die Rolle und Ziele der Sportorganisation beschrieben sind. Dort heißt es, die Rolle des IOC bestehe darin, "gegen jeden politischen oder kommerziellen Missbrauch des Sports und der Athleten vorzugehen" sowie "einen verantwortungsvollen Umgang mit Umweltbelangen zu stärken und zu unterstützen [...] und sicherzustellen, dass die Olympischen Spiele diesen Grundsätzen entsprechend veranstaltet werden."

Pierre de Coubertin als Wegbereiter

Die Grundgedanken dieser Charta bauen auf den Überlegungen und Überzeugungen Pierre de Coubertins auf, der als Wegbereiter der Olympischen Bewegung der Neuzeit gilt. Der französische Pädagoge erkannte im Sport eine erzieherische Funktion, die den Menschen "in der Einheit von Körper, Geist und Wille" formen sollte.

Durch die Einführung der Olympischen Spiele der Neuzeit, die 1896 erstmals in Athen ausgetragen wurden, verfolgte er das Ziel, auf individueller Ebene den Charakter, die Fairness und die Moral zu stärken, aber auch durch das Kennenlernen anderer Nationen den Frieden in der Welt zu fördern.

Aus der heutigen Perspektive scheinen diese Ideale des Olympismus überholt, angesichts der gigantischen Auswüchse der Olympischen Spiele werden sie an den Rand gedrängt und spielen allenfalls noch eine untergeordnete Rolle im großen Zirkus Olympia.

Eine Entwicklung, die Coubertin wohl zwiespältig gesehen hätte. "Er wäre sicherlich stolz darauf, welchen Einfluss die Spiele haben und wie weit die Olympische Idee mittlerweile verbreitet ist. 204 nationale Olympische Komitees hätten seiner Grundidee des Internationalismus durchaus entsprochen. Auf der anderen Seite wären die Größe und die Kosten überhaupt nicht in seinem Sinne", meint Jörg Krieger, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Sportgeschichte in Köln.

Coubertin habe sich schon nach den Olympischen Spielen 1908 in London dafür eingesetzt, auf temporäre Sportstätten zurückzugreifen, anstatt neue Wettkampfstätten mit hohem finanziellem Aufwand aus dem Boden zu stampfen.

Samaranch "rettet" die Spiele

Einen erzieherischen Gedanken hinter den Spielen erkennen angesichts der Korruptions- und Dopingproblematik wohl nur noch die wenigsten Beobachter. Es muss also die Frage gestellt werden: Wie kam es zu dieser Entwicklung? Wodurch gerieten die Prinzipien und Werte des Olympismus immer mehr in den Hintergrund, während die kommerzielle Verwertung des Events unaufhaltsam weiterzugehen scheint?

Bei der Beantwortung dieser Frage kommt man an Juan Antonio Samaranch nicht vorbei, der zwischen 1980 und 2001 dem IOC als Präsident vorstand und dessen Rolle vom "Spiegel" einst passend mit der Schlagzeile "Olympias Retter, Olympias Verräter?" beschrieben wurde.

Die Olympische Bewegung befand sich bei seinem Amtsantritt in einer tiefen Krise, politische Boykotte und finanzielle Probleme überschatteten die Spiele und den Sport. Diskussionen über die Zukunftsfähigkeit des IOC prägten die öffentliche Debatte.

Montreal als Alarmsignal

Der Spanier forcierte die Kommerzialisierung der Olympischen Spiele. Eine Hinwendung zum Professionalismus schien unausweichlich, um die größte Sportveranstaltung der Welt zu retten und zukunftsfähig zu machen. Schon die Kosten für die Spiele 1984 in Los Angeles wurden größtenteils von privaten Unternehmen gedeckt, die durch Gewinnbeteiligungen angelockt wurden.

Dies verhinderte ein erneutes finanzielles Desaster, wie es die Stadt Montreal rund um die Spiele 1976 erlebt hatte. 30 Jahre benötigte die kanadische Stadt, um die Schulden durch die überbordenden Kosten abzuzahlen.

Dieses Schreckensszenario sollte unter Samaranch ein Ende haben. Die TV-Rechtevermarktung wurde vorangetrieben und ein TOP-Sponsoren-Programm etabliert, das bis heute existiert. Exklusiv-Verträge großer Konzerne und Medienunternehmen spülen dem IOC seitdem große Geldmassen in die Kassen, sodass es mittlerweile als finanzstarke Organisation bezeichnet werden muss, die sich über die Jahre knapp eine Milliarde an Rücklagen aufbauen konnte.

Die Olympischen Spiele wachsen

Gleichzeitig mit den Einnahmen durch die Vermarktung der Spiele wächst auch die Größe des Events, was kurz nach der Jahrtausendwende zu Kritik aus den eigenen Reihen führte. "Die Spiele haben eine kritische Größe erreicht", stellte die Olympic Games Study Commission des IOC 2003 fest.

Es wurde gewarnt: Der Erfolg der Spiele gerate in Gefahr, sollte das schnelle Wachstum weiter voranschreiten, was mit eindrucksvollen Zahlen belegt wurde. Von 1948 bis zu den Spielen in Sydney 2000 stieg die Anzahl der Sportarten von 17 auf 28 und der teilnehmenden Sportler von 4092 auf 10.651, zusätzliche 164 Wettbewerbe wurden eingeführt.

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"Citius, altius, fortius - höher, schneller, weiter". Das Motto der Olympischen Spiele könnte sich zum Fluch für die Bewegung entwickeln. Ideale geraten in Vergessenheit, Kommerz und Korruption prägen das aktuelle Bild des IOC. Den besten Beleg für diese Entwicklung liefert der Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014.

In Sotschi treten gewissermaßen alle Probleme zugleich auf und lösen dadurch internationale Empörung aus. Mit 38 Milliarden Euro an Investitionskosten werden die Spiele in Russland nicht nur zu den teuersten Winterspielen, sondern sogar zu den teuersten Spielen der Olympiageschichte. Sinnbildlich für diesen Gigantismus steht der olympische Fackellauf, dessen Stationen weltweit für ein riesiges Medienecho gesorgt haben: Weltall mit Live-Übertragung, Nordpol und ein Ausflug in einer wasserdichten Kapsel auf den Grund des Baikalsees, den tiefsten See der Erde. SPOX

Kosten scheinen beim Prestigeobjekt Wladimir Putins keine Rolle zu spielen. So wurde der Olympiapark auf einer früheren Sumpflandschaft errichtet, was die Kalkulation der Ausgaben nahezu unmöglich machte. Eine Verbindungsautobahn zwischen den beiden primären Austragungsgebieten mit einer Länge von rund 50 Kilometern war für den Kremlchef ebenso selbstverständlich wie die Zwangsumsiedlung hunderter Familien.

Russland und die Homophobie

Ein weiteres Problem sehen viele Kritiker in der fehlenden Sporttradition in Sotschi. IOC-Mitglied Gianfranco Kasper bringt die Bedenken auf den Punkt und zeigt, dass die Vergabe an die subtropische Stadt auch intern kontrovers diskutiert wird: "Es wird kaum eine große Party werden. Das ist eine Region, die kaum Sport kennt: Es gibt keine Skiklubs oder Eishockey-Teams - nichts. Es wird schwierig sein, Atmosphäre zu schaffen."

Hinzu kommen zahlreiche Umweltproteste, die neben 20.000 Hektar gerodetem Wald auch die Zerstörung einer wertvollen Quellenlandschaft und des Msymta-Flussbettes anprangern. Menschenrechtsdemonstrationen runden das breite Spektrum der Kritik ab. Dabei steht die Homophobie in der Gesetzgebung im Mittelpunkt der Empörung. Mit seiner Bitte an die Homosexuellen, sie mögen die Kinder in Ruhe lassen, befeuerte der russische Präsident dieses Thema erneut.

Die Reaktion des IOC? "Wir müssen sichergehen können, dass die Olympische Charta eingehalten und es keinerlei Diskriminierungen geben wird. Dafür haben wir auch die Zusicherung der höchsten Autoritäten des Landes", sagte IOC-Präsident Bach, schränkte aber gleichzeitig ein, dass das IOC "kein übergeordnetes Parlament" sei, das anlässlich Olympischer Spiele "Gesetze über ein Land verhängen" könne.

Drei Maßnahmen gegen Gigantismus

Bachs Vorgänger versuchte während seiner Amtszeit, eine Trendwende einzuleiten und die Spiele organisierbar zu halten. Um dieses Ziel zu erreichen, verankerte man die Ratschläge der Olympic Games Study Commission in den Richtlinien für die Olympischen Spiele. Seitdem sollen drei Vorgaben verhindern, dass die Spiele noch größer werden: Erstens darf nur eine Stadt das Sportevent ausrichten, gemeinsame Bewerbungen zweier Städte sind verboten. Zweitens sind die Spiele auf 16 Tage begrenzt und drittens dürfen nur Schnee- und Eissportarten in das Olympische Programm der Winterspiele aufgenommen werden. SPOX

Weitere Maßnahmen des Sportverbandes sind die Einschränkung der Sportarten (28) sowie der Medaillenvergaben (300). Auch die Vorgaben für die Bewerberstädte wurden verschärft. "Es gibt die Forderung des IOC, dass die Bewerber zeigen müssen, dass die Bewerbung nachhaltig ist, auch wenn sie den Zuschlag für die Spiele nicht bekommen. Das heißt, die Bewerbung allein sollte schon einen Effekt auf die Gastgeberstadt haben", erläutert Jörg Krieger.

London als Positiv-Beispiel

Deshalb legen Bewerberstädte in ihren Bid Books zunehmend einen Wert auf Nachhaltigkeit, was sich zuallererst in der Verwendung temporärer Sportstätten ausdrückt. So sollen "Weiße Elefanten", wie die nach den Olympischen Spielen häufig leerstehenden Wettkampfstätten auch genannt werden, verhindert werden. Denn außer den Spielen in München 1972 und Atlanta 1996 wurde kein Olympisches Gelände weitergenutzt, sondern dem Verfall preisgegeben, oder es belastet durch hohe Instandhaltungskosten die Haushalte der Städte.

Zwar unterbrach London mit der Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2012 diesen kritikwürdigen Trend, indem Konzepte für die nachhaltige Nutzung sowohl der Sportstätten, als auch des Olympischen Dorfs entwickelt wurden, doch mit der Vergabe der Spiele an Sotschi, Rio de Janeiro und Pyeongchang wird sich diese erfreuliche Entwicklung voraussichtlich nicht fortsetzen lassen.

So ruhen die Hoffnungen der Anhänger der Olympischen Werte auf den neu gegründeten Olympischen Jugendspielen, die 2010 erstmals in Singapur ausgetragen wurden. Mit den Sportwettkämpfen für Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren möchte das IOC den Fokus wieder auf die Olympische Erziehung richten. Das Cultural and Educational Programme während der Wettkampftage verdeutlicht diesen Anspruch.

Mammutaufgabe steht bevor

Allerdings werden kritische Stimmen auch im Zusammenhang mit den Olympischen Jugendspielen immer lauter. Gestartet als kleines Gegenstück zum professionalisierten Sportspektakel der Erwachsenen und von den Medien kaum beäugt, entwickeln sich die Jugendspiele allmählich in eine ähnliche Richtung wie der große Bruder. Protestbewegungen rund um die diesjährige Austragungsstadt Nanjing sind ein Beleg für diese drohende Entwicklung.

Das IOC um den deutschen Präsidenten Bach steht vor einer Mammutaufgabe, Veränderungen scheinen aufgrund der vielen Probleme unausweichlich: Gigantismus, Doping, Korruption, Umwelt. Forderungen nach einer Rückbesinnung auf die Werte des Sports gewinnen international an Zuspruch.

"Sie werden das IOC nicht von heute auf morgen revolutionieren können, aber es muss ein Prozess eingeleitet werden, dass der Sport die Menschen wieder abholt und sich nicht von ihnen entfremdet, so wie zuletzt. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo es nicht immer größer, reicher, gigantischer weitergehen kann", so Christian Neureuther.

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