Zwischen Wodka, Koks und Fußfessel

Von Sebastian Hahn
Jamie Vardy führt derzeit die Torschützenliste der Premier League an
© getty

Leicester City ist nach zehn Spieltagen die Überraschungsmannschaft der Premier League und steht noch vor dem FC Chelsea oder dem FC Liverpool auf dem fünften Platz. Hauptverantwortlich dafür ist Jamie Vardy, der nicht nur mit zehn Treffern die Torjägerliste auf der Insel anführt, sondern auch vor drei Jahren noch im Amateurbereich sein Unwesen trieb.

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Es gibt Momente, da wird Louis van Gaal richtig "grumpy", wie der Brite gerne sagt. Dann verzieht der Niederländer in Diensten von Manchester United sein Gesicht und deutet allein mit seinem zornigen Blick an, dass er mit der Leistung seiner Millionärs-Mannschaft auf dem Platz alles andere als zufrieden ist.

So auch am fünften Spieltag der abgelaufenen Premier-League-Saison. Tatort: das King Power Stadium zu Leicester. United spielt knapp eine Stunde gegen die heimischen Foxes richtig starken Fußball, Ander Herrera scheint in der 57. Minute mit dem 3:1 für die Gäste alles klar zu machen.

"Bring your vodka and your charlie"

Doch dann dreht Leicester auf, vor allem in Person von Jamie Vardy. Der damals 27-Jährige, der bereits den ersten Treffer durch Leonardo Ulloa vorbeireitet hatte, legt binnen 120 Sekunden zunächst den Anschlusstreffer durch David Nugent auf, bevor er Abwehrchef Esteban Cambiasso per Flanke zum 3:3 findet. Eine Viertelstunde später netzt der Stürmer dann selber ein und spielt schließlich erneut auf Ulloa den entscheidenden Querpass zum 5:3. Wenig später wird der Engländer ausgewechselt. Vier Assists, ein Treffer, nuff said!

Von den Rängen schallt es: "Jamie Vardy's having a party, bring your vodka and your charlie." Mit "charlie" ist dabei nicht etwa der britische Thronfolger gemeint, sondern Kokain. Ein Gesang, der irgendwie perfekt den Werdegang von Jamie Vardy beschreibt. Denn der Engländer ist weder gewöhnlich, noch dachte der 28-Jährige vor wenigen Jahren überhaupt an Premier-League-Fußball.

Fußprothesen statt Fußball

Denn vor knapp zwölf Jahren schienen die Premier-League-Träume des damals 16-Jährigen eigentlich ausgeträumt. Mit 1,40 Metern ist er zu klein und schmächtig für die Jugendakadmie von Sheffield Wednesday - und wird vor die Tür gesetzt. "Das war echt hart. Ironischerweise hatte ich knapp zwei Monate später einen Wachstumsschub und bin 20 Zentimeter gewachsen", erinnert sich Vardy im Interview mit dem "Leicester Mercury".

Dennoch ist der Weg zurück in die Jugendabteilung des Traditionsklubs versperrt, Vardy macht also seinen Abschluss als Carbonfaser-Techniker und stellte nun eben - anstatt sich um einen Platz in den Auswahlteams der Premier-League-Klubs zu bemühen - Fußprothesen her.

Hobbykicks und achte Liga

Acht Monate lang ist der Ball für Vardy ein Fremdkörper, bis ihn ein Arbeitskollege zu einem Hobbykick am Sonntagnachmittag schleppt. »Ich war anfangs noch etwas skeptisch, aber irgendwann war ich dem Virus wieder verfallen. Bei Sheffield habe ich fast rund um die Uhr Fußball gespielt, da lässt dich die Liebe zum Spiel nicht einfach so los«, so der Angreifer.

Kurz darauf kommt er bei den Stocksbridge Park Steels unter, einem Amateur-Klub aus einem Vorort von Sheffield. »Ich hatte plötzlich wieder ein Ziel in meinem Leben und habe mir im jeden Training den Arsch aufgerissen, um mich weiter hochzuarbeiten«, erklärt er rückblickend.

Im Sommer 2007 ist es dann soweit: Vardy wird als 20-Jähriger erstmals in die erste Mannschaft der "Steels" berufen. Die spielen zu diesem Zeitpunkt in der Northern Premier League Division One South - der achten englischen Spielklasse. Gerade mal 30 Pfund bekommt er pro Spiel ausgezahlt. Vardy will gerade richtig durchstarten, doch dann wird ihm der nächste Knüppel zwischen die Beine geworfen.

Torjäger mit Fußfessel

Kurz vor Saisonbeginn im Sommer 2007 ist der Stürmer mit ein paar Freunden in einer Kneipe unterwegs, einer von ihnen trägt ein Hörgerät. Als er von zwei anderen Typen herumgeschubst wird, sieht sich Vardy in der Pflicht: »Ich wollte ihm helfen und bin dazwischen gegangen. Das hat mit im Nachhinein eine Menge Ärger eingebracht.«

Der Engländer wird wegen Körperverletzung dazu verurteilt, sechs Monate lang eine elektronische Fußfessel zu tragen. Zudem herrscht für Vardy eine Ausgangssperre zwischen 18 Uhr abends und 6 Uhr morgens. "Zum Glück hatte ich eine große DVD-Sammlung. Das hat die Abende etwas erträglicher gemacht, auch wenn ich nicht wie meine Freunde um die Häuser ziehen konnte", so Vardy.

Während ihn die Fußfessel nicht wirklich stört, sondern auf dem Platz sogar seinen Knöchel zusätzlich schützt, wird die Ausgangssperre für sein Engagement bei Stocksbridge kompliziert. "Ich musste teilweise über Zäune springen und nach Hause sprinten, um meine Auflagen nicht zu verletzen", berichtet er. Auch bei Auswärtsspielen können die "Steels" oft nur limitiert auf Vardy zurückgreifen. Denn wenn die Auswärtsfahrten etwas länger sind, kann der Stürmer meist nur eine Stunde mitwirken, bevor er mit seinen Eltern die Heimreise antreten muss.

Angebote aus Liga drei

"Die Fußfessel hat mich beim Fußball nicht wirklich behindert, aber es wurde halt komplizierter«, berichtet Vardy und gibt damit viel über seinen Charakter preis. Selbst in der achten Liga opfert er sich für die Mannschaft auf, ist ungemein lauffreudig und gibt keinen Ball verloren.

Mit Erfolg: In drei Jahren bei Stocksbridge gelingen ihm in 107 Spielen 66 Treffer, 2008/09 gelingt sogar der Aufstieg in die Northern Premier League Premier Division und im Folgejahr der Klassenerhalt. Vardy erhält Angebote aus der dritten Liga, entscheidet sich schließlich aber zum Ligarivalen Halifax Town zu wechseln - auch, weil er parallel immer noch Fußprothesen herstellt.

Blaumachen für den Sport

Die Arbeit belastet den mittlerweile 1,78 Meter großen Stürmer aber zunehmend: Oft muss er Kisten in hohe Regale stellen, was seinen Rücken unnötig belastet. "Um ehrlich zu sein habe ich morgens auch manchmal bei der Arbeit angerufen und erzählt, dass ich verletzt bin, um meiner Fußball-Karriere nicht zu schaden", erklärt Vardy.

Nachdem ihm die Doppelbelastung im Laufe der Saison 2010/11 zu viel wird und er in Halifax zudem genügend Geld verdient, kündigt er seinen Job und schnürt fortan nur noch die Fußballschuhe. Die Entscheidung erweist sich als goldrichtig: Mit 27 Treffern bombt er die "Shaymen" zum Aufstieg und wird von den Mitspielern zum Spieler der Saison gewählt. Kurz vor Saisonende gelingen ihm zwei Hattricks in Folge, gegen Nantwich Town fehlt ihm nur ein Treffer, um das "Triple" perfekt zu machen.

Nachdem er in der Folgesaison direkt drei Tore in vier Spielen erzielt, erfolgt der Wechsel zu Fleetwood Town in die Conference Premier, die fünfte englische Spielklasse. "Ich habe immer versucht, keine großen Träume zu haben und mich langsam hochzuarbeiten", sagt Vardy zu seinem stetigen Aufstieg im englischen Ligasystem.

Vardy ist die höhere Spielklasse herzlich egal, 31 Tore erzielt der Neuzugang für die "Cod Army", die zwischendurch 29 Spiele in Folge ungeschlagen bleibt und am Ende in die League Two aufsteigt. Vardy schnürt dabei nicht nur sieben Doppelpacks, sondern netzt auch noch zwei Hattricks.

Seite 1: Vardys Amateur-Karriere mit Fußfesseln und Schichtarbeit

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