Die Gefahr, die Curry ausstrahlt, beschränkt sich bei weitem nicht nur auf die Dreierlinie. Er nutzt die Angst, die Verteidiger vor seinem Wurf haben, vielmehr sehr gut aus, um auch innerhalb des Perimeters gefährlich zu sein. Curry schließt zwar recht selten direkt am Ring ab, aus der Mitteldistanz nahm er seit vielen Jahren aber nicht mehr so viele Abschlüsse.
Es versteht sich nahezu von selbst, dass er auch von dort über 50 Prozent seiner Würfe trifft - überhaupt gibt es aktuell keinen Bereich auf dem Court, von dem aus er nicht effizient abschließt (witzigerweise sind die 39 Prozent bei Eckendreiern noch am ehesten unterdurchschnittlich).
Curry wirkt etwas spritziger und kräftiger als in vergangenen Jahren, was auch Kerr betonte. Das hilft ihm auch beim Zug zum Korb. 5,6 Freiwürfe pro Spiel sind zwar nicht enorm viel, aber mehr als in jeder Curry-Saison außer 17/18. Seine And-1-Frequenz, also die Anzahl von Fällen, in denen er trotz Foul noch den Wurf getroffen hat, war noch nie ansatzweise so hoch (in 37,7 Prozent der Fälle). Curry wird natürlich nie ein LeBron sein, aber es gelingt ihm besser denn je, Kontakt zu absorbieren und trotzdem abzuschließen.
Das ist eine weitere Stärke in einem Scoring-Arsenal, das eigentlich keine Lücke hat. Es gibt - gerade mit Blick auf die Alternativen im Kader, die allesamt nicht ansatzweise diese Effizienz mitbringen - nicht wenige Warriors-Fans, denen es daher sehr recht wäre, wenn Curry noch mehr wie einige andere Superstars - Damian Lillard in Portland, Luka Doncic in Dallas - zum Zentrum von allem gemacht werden würde.
Doncic führt die Liga mit 9,3 Minuten Ballbesitz pro Spiel an, Lillard (8,5) belegt Platz 3 - und Curry liegt mit 5,6 auf Platz 22. Er läuft etwas mehr Pick'n'Rolls als in früheren Jahren (und ist mit 1,22 Punkten pro Play aktuell der beste Spieler der Liga in dieser Hinsicht), trotzdem belegt er auch hier nur Platz 22 und läuft das Play nur knapp halb so oft wie Spitzenreiter Trae Young.
Kerr weigert sich schlichtweg, den Warriors und Curry eine "gewöhnlichere" Offense aufzutragen. Seine indirekte (Off-Ball-)Gefahr wird dabei ähnlich schwer gewichtet wie die direkte durch die Zeit in Ballbesitz.
Das kann man kritisch sehen und den Saisonstart hätte man Oubre oder Wiggins vielleicht mit simpleren Systemen erleichtern können. Es ist auch kein Zufall, dass Golden States Offense schlichtweg stinkt, wenn Curry nicht auf dem Court steht, weil niemand sonst ihr Motor sein kann. Das Ganze folgt einem Plan, der sich nicht nur auf die laufende Spielzeit bezieht.
20/21: Die Warriors mit und ohne Stephen Curry auf dem Court
Minuten | Off-Rtg. | Def-Rtg. | Net-Rtg. | |
Curry ON Court | 843 | 112,2 | 110,4 | +1,8 |
Curry OFF Court | 357 | 100,5 | 103,6 | -3,0 |
Gesamt | 1200 | 109,9 | 109,1 | +0,8 |
Kerrs Spielphilosophie sieht Systeme vor, in denen ständige Bewegung sowohl von Ball als auch Spielern im Fokus stehen und in denen so viel wie möglich instinktiv abläuft. Kreatives Chaos, gewissermaßen. Curry und Green ermöglichen dies, auch weil Curry eben nicht der klassische balldominante Superstar ist, sondern den Ball bereitwillig abgibt, sich weiterbewegt und auf die nächste Möglichkeit wartet beziehungsweise diese kreiert.
Den Relocation-Dreier hat Curry schon vor Jahren zur Kunstform erhoben. Mindestens ebenso oft entstehen durch seine Bewegungen, nachdem er den Ball abgegeben hat, aber auch Freiräume für andere, dann wird kein Assist für Curry notiert, die Punkte gehen trotzdem zu einem Großteil auf seine Kappe. Seit Jahren gehört er auch deshalb zu den gefährlichsten Blockstellern der Liga, auch wenn die freien Würfe nicht für Thompson oder Durant entstehen.
Die Uneigennützigkeit ist eine Eigenschaft, die Golden States Aufstieg zur Dynastie ähnlich stark prägte wie das explosive Shooting. Die (optimistische) Hoffnung lautet nun, dass sie früher oder später auch auf die neuen Spieler übergeht. Kommende Saison kehrt Klay zurück, Wiggins und Oubre kennen das System, Wiseman die NBA - dann wird vielleicht neu angegriffen.
Kerr verfolgt einen Langzeitplan, deswegen beschränkt er auch die Minuten seines Superstars, kein einziges Mal stand Curry in dieser Spielzeit bisher 40 Minuten auf dem Court. Das zeugt davon, dass die Warriors sich keine Illusionen machen. Sie sind an guten Tagen ein gutes Team, aber sie haben nichts mit dem Titelrennen zu tun. So wie Currys Spiel jedoch altert, ist die Hoffnung berechtigt, dass sich das bald wieder ändern könnte.
Der Verdacht liegt nahe, dass Curry auch mit Anfang 40 noch ohne Probleme ein effektiver NBA-Spieler sein könnte - das haben schließlich auch schon andere Shooter vor ihm geschafft, und kein Shooter war jemals so gut wie er. Wenn er das möchte, hat er vermutlich noch eine zweite Karriere als Edelschütze vor sich wie einst Ray Allen.
Bis dahin ist es jedoch noch lange hin. Nach den Verletzungen im Vorjahr wurde Curry vielerorts schon als Superstar erster Klasse abgeschrieben, doch das war verfrüht: Der Chefkoch befindet sich noch immer in seiner Prime. Und wenn man bedenkt, was um ihn herum so stattfindet, kann man durchaus dafür argumentieren, dass seine aktuellen Leistungen noch beeindruckender sind als die in der vielleicht besten Offensiv-Saison der jüngeren Vergangenheit.
Seine wichtigsten Weggefährten sehen das so. Und wer will ihnen schon widersprechen?