Es muss ein ungewöhnlicher, wenn nicht höchst amüsanter Anblick gewesen sein, der sich in einem Würzburger Musikstudio im Juni 2008 bot. Rick Carlisle, der neue Headcoach der Dallas Mavericks, war aus den Staaten nach Deutschland geflogen, um sich persönlich Dirk Nowitzki vorzustellen und anzusehen, in welchem Umfeld sich sein zukünftig wichtigster Spieler heimisch fühlt.
Carlisle beobachtete Nowitzki beim Privattraining mit Mentor Holger Geschwindner, besichtigte Sehenswürdigkeiten in Würzburg sowie Bamberg und verfolgte die Fußball-EM bei herrlichem Sommerwetter in einem Biergarten.
Das Interessanteste folgte jedoch zum Schluss: Am letzten Abend seines Aufenthalts wurde er von Nowitzki und Geschwindner zu einer Jam-Session eingeladen, bei der der talentierte Klavier-Spieler gemeinsam mit einem Saxophonisten, zwei Sängerinnen und einem Freestyle-Rapper musizierte. "Es war richtig witzig", erzählte damals Geschwindner.
Finals-Splitter: LeBron besser als Michael Jordan?
Es drohte dass dritte frühe K.o. im dritten Carlisle-Jahr
Auch drei Jahre später fällt es schwer, sich den bei der Arbeit so steifen und farblosen Carlisle beim fröhlichen Improvisieren vorzustellen. Zu unnahbar gibt sich der 51-Jährige. Selbst in den Momenten seiner größten Triumphe, dem Weiterkommen gegen die Lakers und die Thunder, lächelte er nur kurz, ballte die Faust - und kehrte Sekunden später zu seinem Ich zurück: "Wir müssen konzentriert weiterarbeiten."
Wer ihm zuhört, mag nicht glauben, dass die Mavericks jüngst zum zweiten Mal in der Franchise-Geschichte in die NBA-Finals eingezogen sind. Mit Carlisle, dessen Job in Dallas noch vor vier Wochen akut gefährdet war.
Die Mavs hatten gerade Spiel 4 der ersten Playoff-Runde in Portland trotz einer 23-Punkte-Führung verloren und den 2-2-Ausgleich hingenommen. Die Kritik fiel entsprechend aus, vor allem Carlisle wurde zu Recht vorgeworfen, dass er zu spät eingegriffen habe und mit seinem spröden, wenig einnehmenden Wesen keine Stütze für die Mannschaft sei. Im Falle eines Ausscheidens, dem dritten frühen K.o. im dritten Carlisle-Jahr, hätte sich Dallas von ihm getrennt.
Wade: "Spoelstra not my guy"
Das Gefühl einer bevorstehenden Entlassung kennt Miamis Coach Erik Spoelstra nur allzu gut, immerhin wurde er in dieser Saison bereits mehrmals virtuell gefeuert.
Schon vor der Vorbereitung hieß es, dass die Heat einen bekannten und bewährten Trainer bevorzugen würden, der kraft seiner Autorität von Dwyane Wade und den beiden Neuzugängen LeBron James sowie Chris Bosh Respekt einfordern könnte.
Doch Spoelstra durfte bleiben - genauso wie nach dem miserablen 9-8-Saisonstart und einem Interview von Wade, das als Beweis seiner Entfremdung vom Coach interpretiert wurde. "Er ist nicht mein Mann ('He's not my guy'), aber er ist mein Coach. Wir hören ihm zu und versuchen, seine Vorstellungen umzusetzen, aber manchmal ist man anderer Meinung."
Duell der meist unterschätzten Trainer
Nach vier Niederlagen in Folge im Januar und einer 0-5-Serie im März zweifelten ebenfalls etliche, ob der erst 40-jährige Spoelstra denn der richtige sei für die ambitionierten Heat.
Präsident und Mentor Pat Riley jedoch stütze ihn statt, wie kolportiert, selbst auf die Bank zurückzukehren, im Vertrauen darauf, dass er sich nach 16 gemeinsamen Jahren nicht in seinem Zögling geirrt hat.
Wenn in der Nacht auf Mittwoch das Auftaktspiel der NBA-Finals ansteht (2.45 Uhr im LIVE-TICKER), kommt es demnach nicht nur zum Vergleich zwischen den Heat und den Mavs, sondern auch zum Duell der zwei am meisten unterschätzten Trainer der NBA.
Karriereknick durch Brawl
Carlisles Start in der NBA verlief zauberhaft. Er genoss als Assistent einen vorzüglichen Leumund und war der Golden Boy der Trainergilde. 2001 übernahm er die Detroit Pistons, fuhr in seinen ersten beiden Jahren insgesamt 100 Siege ein und bekam 2002 den Coach-of-the-Year-Award.
Trotz des Erreichens des Conference Finals wurde er zur Überraschung aller 2003 entlassen, was Indiana die Möglichkeit gab, ihn sofort unter Vertrag zu nehmen. In der ersten Saison stellte er mit 61 Siegen einen Franchise-Rekord auf und erreichte erneut die Conference Finals, woraufhin die Pacers als Titelfavoriten in die folgende Spielzeit gingen.
Nach dem hässlichen Brawl im November 2004, ausgerechnet bei einem Auswärtsspiel in Detroit, fiel seine Mannschaft jedoch auseinander - wovon sich die Pacers-Franchise, aber auch Carlisle, erst spät erholten.
Spoelstra mit Deutschland-Vergangenheit
Spoelstras Karriere hat ebenfalls mehrere Wendungen genommen, bis sie mit den Finals 2011 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Ähnlich wie Carlisle war Spoelstra ein guter, aber kein begnadeter Basketballer, anders als seinem Kontrahenten gelang ihm jedoch nie der Sprung in die NBA, weswegen es ihn für einige Jahre nach Europa zog. Unter anderem arbeitete er als Spielertrainer im nordrhein-westfälischen Herten.
1995 zog er zurück in die USA und begann bei den Heat ganz weit unten in der Hierarchie - als Video-Koordiator, der die wichtigsten Spielszenen zusammenschnitt. 1997 folgte die Eingliederung in den Trainerstab, 2001 die Beförderung zum Scouting-Chef.
Immer unter der wohlwollenden Aufsicht von Übervater Riley, der ihn als seinen Nachfolger auserkor. Am 28. April 2008 wurde Spoelstra als jüngster NBA-Trainer aller Zeiten zum neuen Headcoach der Heat ernannt.
"Die Zeit ist gekommen für die neue Generation, die neue Ideen einbringt, innovativ ist und sich mit der neuesten Technologie auskennt", sagte Riley damals. Obwohl Spoelstras Bilanz in den ersten beiden Saisons mit zwei Playoff-Teilnahmen höchst respektabel war, blieb die Skepsis ob seiner Jugendlichkeit und Unerfahrenheit.
Spoelstra im Porträt: Grüße aus Miami nach Herten
Sieg im Duell gegen Trainer-Aufsteiger Thibodeau
Dass die Heat gleich im ersten Jahr nach der Ankunft von James und Bosh die Finals erreicht haben, ist jedoch auch ein Zeugnis der guten Arbeit des Trainers. In den Conference Finals war es nicht der allseits hoch gelobte und als Coach of the Year prämierte Bulls-Trainer Tom Thibodeau, der die Serie mitentschied. Vielmehr wurde er von Spoelstra in den Schatten gestellt.
Spoelstra veränderte nach der Niederlage in Spiel 1 die Rotation und setzte Udonis Haslem und Mike Miller vermehrt ein - eine der Schlüsselentscheidungen. Beim sensationellen Comeback in Spiel 5 gab er wiederum den wichtigen Impuls, als sich bereits alle mit einer Niederlage abgefunden hatten.
Wade: "Wir wissen gar nicht, wie wir das geschafft haben. Ich werde nicht lügen und sagen, wir wüssten es. Ich kann mich nicht an alle Spielzüge erinnern. Nur daran, dass es eine Auszeit gab und Coach Spoelstra uns angesehen und gesagt hat: 'Wir haben das schon mal geschafft und einen 12:0- oder 14:0-Lauf hinlegt. Glaubt einfach nur daran.'"
Noch fehlt Spoelstra eine eigene Philosophie. Mike D'Antoni steht für Run'n'Gun, Thibodeau für eine raffinierte Verteidigung, Phil Jackson für die Triangle Offense. Aber Spoelstra ist etwas gelungen, was nicht hoch genug einzuschätzen ist: Er schaffte es, eine Mannschaft zu formen, in der drei wurffreudige Stars erfolgreich koexistieren können.
Carlisle findet endlich Rotation
Die Mavs hingegen verfügen mit Dirk Nowitzki nur über eine Lichtgestalt, die größte Herausforderung für Carlisle bestand entsprechend darin, aus der Fülle an Rollenspielern eine stabile Rotation zu finden. Genau an dieser Aufgabe versagte er in der Vergangenheit.
Noch bis kurz vor den Playoffs variierte er die Startformation und die Spielzeit für den Einzelnen, was etwa Shawn Marion oder Peja Stojakovic spürbar verunsicherten. Doch pünktlich fand er die perfekte Mixtur, um der Mannschaft Stabilität zu verleihen, ohne für den Gegner berechenbarer zu sein. Oklahoma Citys Trainer Scott Brooks, wie Chicagos Thibodeau ein Medienliebling und dessen Vorgänger als Coach of the Year, fand auf Dallas' potente Bank keine Antwort.
"Ich bin nicht einmal müde. Der Coach macht in den Playoffs einen guten Job, wann er wen vom Platz holt. Er weiß immer genau, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist", sagt Marion, der noch vor kurzem öffentlich Carlisles Wechselstrategie bemängelt hatte.
General Manager Donnie Nelson ergänzt: "Einen solch tiefen Kader zu haben, kann ein Segen, aber auch ein Fluch sein. Er hat nun die richtigen Knöpfe gefunden."
Carlisle im exklusiven Klub
Am bezeichnendsten für Carlisles Coaching-Stil ist jedoch die Defense. Womöglich ist sie die beste, die die Mavs je gespielt haben. Entsprechend seines Charakters fordert er von seinen Spielern Konsequenz und das Beherrschen der fundamentalen Taktiken. Kein Team kann derart variabel zwischen Mann- und Zonenverteidigung wechseln. Und kein Team ist nach einem Timeout so gut auf den gegnerischen Spielzug vorbereitet.
Bei aller berechtigten Kritik in der vergangenen Zeit: Der Erfolg spricht für Carlisle. Erst als sechster Coach der NBA-Historie ist es ihm gelungen, mit drei verschiedenen Mannschaften ein Conference Finale zu erreichen. Doch das sei nur ein uninteressanter Randaspekt.
Carlisle in seinem typisch-ernsten Duktus: "Erst, wenn wir die Meisterschaft gewonnen haben, ist die Zeit zum Ausflippen gekommen."
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