Die NFL verändert sich. Permanent.
Man sieht es an den auf den ersten Blick kleinen Dingen - no pun intended - wie der Tatsache, dass mit Baker Mayfield und Kyler Murray in aufeinanderfolgenden Jahren Quarterbacks mit einer Größe von unter 1,86 Metern mit dem ersten Pick im Draft ausgewählt wurden. Kein Football-Experte aus den 80ern, 90ern oder selbst aus dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts würde das vermutlich glauben, hätte man ihn damals damit konfrontiert.
Man sieht es ganz plastisch an den Veränderungen des Helms über die Jahre, am veränderten Zuschauerverhalten durch externe Einflüsse wie Social Media, Fantasy Football und Streaming-Optionen oder auch an der Internationalisierung der Liga, mit längst jährlich fest eingeplanten Auftritten in London, Stadion-Partnerschaften und internationalen Combines.
Und natürlich sieht man es auch auf dem Platz. Man muss gar nicht im Detail in die Statistiken und Trends eintauchen - auch wenn das sicher nicht schadet - um zu erkennen, dass der Football in der NFL über die letzten zehn Jahre mehrere große Schritte dahingehend gemacht hat, dass mehr im offenen Raum des Feldes und weniger in der Enge der Line of Scrimmage stattfindet.
Wohin geht die Reise?
Hal Mumme und der steinige Weg des Pioniers
Hal Mumme ist gewissermaßen der Schöpfer der Offense, die heute als "Air Raid" bekannt ist. Erfolge wies er mit seiner extrem passlastigen Offense in den 80er und 90er Jahren relativ schnell vor, dennoch blieb er lange unbemerkt. Copperas Cove High School, dann auf dem College-Level Iowa Wesleyan und Valdosta State - nicht gerade das "Who is who" der Football-Schulen.
Andere Coaches begegneten seiner Idee mit großer Skepsis, in jeder Liga, in die Mumme kam, herrschte zunächst die Meinung, dass dieser Football "hier auf keinen Fall funktioniert". Bis Mummes Teams ihnen 30, 40, 50 Punkte einschenkten.
Skepsis regierte primär aus eigener Überzeugung und dem Glauben daran, dass Football nur durch das physisch dominante Team gewonnen werden kann. Aber Zweifel an Mummes Idee, Defenses mit vier und fünf Receivern zu attackieren und den Ball 40, 50, 60 Mal zu werfen, kamen teilweise auch daher, dass sich Mummes Erfolge nur sehr träge verteilten.
Bevor man auf Twitter, YouTube und diversen Streaming-Angeboten jedes College-Spiel, das man sehen will, anschauen konnte, bekam man nicht mal eben Zusammenschnitte von Iowa Wesleyan zu Gesicht. Coaches Clinics waren der beste Weg, um Ideen auszutauschen - nur hatte lange kein Coach Interesse an Mummes Ideen, die zu weit weg von allem waren, was die anderen Coaches kannten.
Inspiration ist überall
Heute ist das selbstredend anders. College-Tapes sind, umso mehr für NFL-Coaches, in aller Regel nicht viel mehr als einen Telefonanruf entfernt, falls das überhaupt notwendig ist. Wer sich inspirieren lassen will, wird hier ohne Zweifel fündig; es ist mehr ein Problem der schieren Masse an Spielen, als ein Problem der Verfügbarkeit.
Und trotzdem sind Fortschritte in der NFL häufig zäh und langwierig. Coaches in der NFL sind deutlich weniger mutig als ihre Kollegen im College - teilweise, weil sie in der Regel weniger Jobsicherheit haben; aber auch aufgrund der Tatsache, dass sie schlicht und ergreifend nicht so sehr auf Innovation angewiesen sind, um konkurrenzfähig zu sein.
Einer der größten Antriebe für Innovationen im Football ist ein Ressourcen-Nachteil. Anders gesagt: Man wird kreativ, um qualitative Unterschiede auszugleichen. Wenn Alabama Anfang September New Mexico State empfängt, sollten die Aggies lieber mehr als nur ein paar kreative Ideen im Hinterkopf haben. Wenn die Miami Dolphins die New England Patriots in der kommenden Saison empfangen, dann sind die Patriots zwar das klar bessere Team, doch die Diskrepanz ist längst nicht so groß, dass revolutionäre Ideen notwendig sind, damit Miami das Spiel gewinnen kann.
Und so ist es umso auffälliger, wenn Coaches in der NFL Mut zeigen. Das kann sich auf unterschiedliche Arten darstellen, etwa wenn Doug Pederson bei Fourth Down aggressiver wird, wenn sich Coaches bereitwillig für Analytics-Experten öffnen oder wenn sie sich ganz simpel nach Play-Design-Ideen im College Football umschauen.
Andy Reid verändert die NFL
Letzteres ist ein fester Bestandteil der Routine von Andy Reid, Head Coach der Kansas City Chiefs und Architekt einer der schematisch besten Offenses der letzten drei Jahre. Tatsächlich legt Reid so großen Wert darauf, dass er mehrere seiner Assistenz-Coaches damit beauftragt hat, College-Spiele nach Plays zu durchsuchen, die auch für die Chiefs funktionieren könnten. Das kann ein Play bei Alabama sein, es kann aber auch North Dakota State sein.
Er hat damit eine permanente Vorreiterrolle und steht gleichzeitig sinnbildlich für den Trend der Zeit. "Im College werfen viele Teams so viel, und das gerne aus Spread Options heraus. Egal, ob man das mit der Read Option kombiniert oder nicht, man kann sie als Passer evaluieren", erklärte Reid in einem Interview mit The Undefeated. Für ihn ist das die wichtigste Veränderung in der NFL in den vergangenen Jahren: "Es gibt mehr Gelegenheiten, den Ball zu werfen. Das ist in der jüngeren Vergangenheit ein konstanter Bestandteil in der NFL."
Keine Offense arbeitete letztes Jahr derart intensiv mit Pre-Snap-Motions wie die Chiefs, um Abstimmungsfehler in der Defense zu erzwingen und Matchups zu kreieren. Reid gelingt es, für die Defense komplex zu wirken und gleichzeitig dem Quarterback die Arbeit möglichst leicht zu machen: Unter Quarterbacks mit mindestens 250 Pässen warf nur Nick Mullens prozentual weniger Pässe (12 Prozent) in enge Fenster als Mahomes (12,2 Prozent) - Mahomes gelang das Kunststück aber bei durchschnittlich 1,8 Yards weiterer Target-Tiefe.
Und das lässt sich fortsetzen: Nur die Steelers hatten letztes Jahr mehr Yards nach dem Catch (2.883) als die Chiefs (2.649) - Steelers-QB Ben Roethlisberger warf allerdings auch fast 100 Pässe mehr als Mahomes. Das Spiel für den eigenen Quarterback möglichst leicht zu machen, statt sich auf die Fähigkeiten eines Ausnahme-Quarterbacks zu verlassen, und diese Fähigkeiten eher als Bonus zu verstehen; das ist der Weg für eine außergewöhnliche Saison wie sie Mahomes letztes Jahr hatte.