Das Ende der "Wilson-Offense" in Seattle?
Ich weiß natürlich, dass Pete Carroll viel Kritik eingesteckt hat über die letzten Jahre. Und das in meinen Augen durchaus berechtigt, ich habe mich ja selbst einige Male in die Reihen der Kritiker gestellt. Hier will ich aber mal kurzzeitig von seinem Game Management und von seiner generellen Philosophie was die Identität des Teams - nach wie vor ein Fokus auf die Defense und das Run Game - weg gehen; in diesen beiden Punkten bin ich sehr häufig deutlich anderer Meinung, aber sich daran immer wieder aufzureiben bringt uns ja auch nicht weiter.
Was wir aber mal klar festhalten müssen: Carroll, der vielleicht die herausragende Defense dieses Jahrtausends mitgeprägt und einen ligaweiten Trend eingeleitet hat, sucht seit einigen Jahren sein defensives Mojo. Und da spreche ich nicht von einigen Fehlern hier und da, ich spreche von der Defense, die seit 2019 auf Platz 19 in zugelassenen Expected Points Added pro Play und auf Platz 24 in defensiver Success Rate steht.
Eine Defense, von der Carroll nach der Niederlage gegen die Rams zugeben musste, dass die Spieler in den Spielen Fehler machen, an denen sie gezielt im Training arbeiten. Die ihre Basic-Coverages nicht konstant hinbekommt. Eine Defense, die zwei Erstrunden-Picks in Jamal Adams investiert hat, und abgesehen von einer exzellenten Rolle als Blitzer nach wie vor auf der Suche nach dem idealen Platz für den Safety zu sein scheint. Während Adams auch schlicht und ergreifend in Man Coverage gegen Tight Ends - eine seiner Spezialitäten noch zu Jets-Zeiten - teilweise verloren wirkt.
Mit dem wochenlangen Ausfall von Russell Wilson werden diese Probleme in meinen Augen nochmal stärker in den Fokus rücken. Denn jetzt fehlt die Offense, um die Defense mitzutragen, und dass wir jetzt seit Jahren auf Seattles Defense in diesem Licht schauen, spricht weder für das Kader-Management, noch für das defensive Coaching in Seattle.
Seahawks: Ist "Let Russ cook" noch zutreffend?
Aber wir müssen auch über die Offense sprechen, und spezifisch über Russell Wilson. Ich hatte das bereits einige Male - zumindest seit Woche 2, nachdem ich das Auftaktspiel in Indianapolis (zu?) positiv eingestuft hatte - in dieser Saison angemerkt: Der Offense fehlt die Baseline. Zu abhängig von den Big Plays, eine Art Rhythmus selbst nur innerhalb eines Drives war bisher viel zu häufig nur dann festzustellen, wenn Seattle aufs Tempo drückte. Die aufeinander aufbauenden Konzepte und in sich stimmigen Designs blitzten nur vereinzelt auf.
Das ist kein neues Muster. Das war ein Thema mit Darrell Bevell, es war ein Thema mit Brian Schottenheimer, und es ist jetzt über die ersten Wochen der Shane-Waldron-Ära ein Thema. Und es ist nicht so, als wäre es immer exakt die gleiche Diskussion gewesen, häufig überschattete die "Pete Carroll will den Ball laufen vs. Let Russ Cook"-Thematik ohnehin alles.
Aber der Kern der Problematik war gleich: Die Offense hatte keine Grundlage, keine schematische Baseline, auf die sie notfalls zurückfallen konnte, um offensiv eine gewisse Schlagzahl aufrecht zu erhalten. Und dann waren es häufig die Highlight-Plays von Wilson - nicht selten außerhalb der Struktur, spät im Down - welche die Offense gefährlich machten. Also, "Let Russ cook", und dann ist Seattle ein Titelkandidat!
Oder?
Wilson ist ein Elite-Quarterback, und seit nunmehr vier Jahren gehört er in diesen Kreis. Aber selbst in der vergangenen Saison, als er nach der ersten Saisonhälfte endlich bereit schien, sich ein paar MVP-Stimmen abzuholen, weil er fantastisch war, fiel sein Spiel in der zweiten Saisonhälfte auseinander.
Seahawks ohne Wilson: Geno Smith als Experiment
Wilson ist ein Elite-Quarterback, weil er in der "Boom-or-Bust"-Frage vermutlich mehr und spektakulärer als irgendein anderer Quarterback über die letzten zehn Jahre auf der "Boom"-Seite gelebt hat. Das Problem damit ist, dass es selbst für Wilson schwer ist, dieses Level konstant aufrecht zu erhalten.
Was dann immer wieder - in verschiedenen Schemes, in verschiedenen Umständen - aufgefallen ist, ist dass die Offense in ein Loch fällt, wenn Wilson nicht auf höchstem Level spielt und wenn Defenses die explosiven Plays minimieren.
Es gibt keine schematische Baseline, welche funktioniert und in diesen Fällen greift, und dieses Jahr ist das vielleicht die extremste Ausprägung davon bislang: Three-and-Out, oder Big Plays, in dieser Welt lebt die Seahawks-Offense dieses Jahr. Vielleicht findet Waldron noch einige Ansätze, um hier einen Ausgleich zu kreieren, aber was nach einem Play-Desginer-Problem klingt, ist vielleicht auch einfach ein Quarterback-Problem.
Vielleicht müssen wir weniger über Schottenheimer-, Bevell- und Waldron-Offense sprechen, und mehr über die Wilson-Offense und darüber, welche Limitierungen Wilson, bei all der unbestrittenen Qualität, die er hat, eben mitbringt. Und dann muss man darüber sprechen, ob man sich vielleicht nicht sogar noch mehr auf Wilsons Big-Play-Fähigkeiten einlässt, und den Versuch, der Offense anderweitig mehr Struktur zu geben, was die Vogelperspektive auf diese Offense angeht für gescheitert erklärt.
Wie geht es zwischen den Seahawks und Wilson weiter?
Wilson wird den Seahawks jetzt für einige Wochen fehlen, nach 149 Starts in Folge seit Beginn seiner Karriere endet diese eindrucksvolle Serie. Während ich das aus sportlicher Sicht extrem bitter und schade finde, weil es die Seahawks doch deutlich weniger explosiv und aus Gesamt-Liga-Perspektive interessant macht, bin ich schon gespannt, ob wir aus schematischer Perspektive eine effizientere, wenn auch weniger explosive Offense sehen könnten.
Aber die übergreifende Frage in Seattle ist jetzt natürlich: Ist die Wilson-Ära damit fast vorbei? Nachdem die vergangene Saison bereits von Trade-Debatten geprägt war, wird die laufende Saison wohl eher kein sportlicher Erfolg werden. Und wo stehen Wilson und die Seahawks dann?
Sieht Wilson vielleicht woanders eine größere Chance, in der zweiten Hälfte seiner Karriere nochmal zeitnah ein Titelfenster aufzustoßen und drängt doch auf einen Trade? Und will vielleicht sogar Pete Carroll seine Offense in eine andere Richtung lenken?
Die kommenden Wochen werden ein Vorgeschmack darauf sein, wie es ohne Wilson aussehen könnte. Meine Vermutung ist, dass die Erkenntnisse einige Augen öffnen könnten. Und ich denke ultimativ auch nicht, dass es das Ende der Wilson-Ära ist. Er wollte, nach allem was wir wissen, Shane Waldron als neuen Coordinator. Wäre die Saison enttäuschend verlaufen und die offensive Entwicklung ausgeblieben, wäre die Diskussion eine andere. Wilsons Ausfall legt die Erkenntnisse gewissermaßen auf Eis und verzögert alles. Meine Vermutung ist, dass beide Seiten im kommenden Jahr in eine "Last Dance"-ähnliche Saison gehen könnten.
Und Carrolls Perspektive? Ich habe jetzt viel über Wilson geschrieben, aber ich würde auch klar sagen, dass Carroll so wie er nach wie vor spielen will - mit einer starken Defense, welche er aber nunmehr seit mehreren Jahren nicht mehr hatte, sowie einer prominenten Rolle des Run Games - einen Quarterback wie Wilson braucht, um damit in der heutigen NFL konkurrenzfähig zu sein.