Auch im allerletzten Moment siegte noch einmal die Frechheit. Jelena Ostapenko stand am Samstagnachmittag auf dem Roten Platz von Paris, sie hatte Matchball, sie erwartete den Aufschlag ihrer Gegnerin Simona Halep. Es wäre normal gewesen, den Ball sicher zurückzuschlagen, bloß keinen Fehler zu machen, taktisch vorzugehen. Doch was ist schon normal bei Ostapenko, dieser verwegenen Newcomerin? Nicht viel, und deshalb war im nächsten Moment ein krachender Volltreffer zu beobachten, eine unwiderstehliche, unerreichbare Rückhand zum 4:6, 6:4, 6:3-Erfolg, die Krönung des Alles-oder-Nichts-Tennis, das sie, Jelena Ostapenko, auf den Thron von Paris geführt hatte. "Es ist unbegreiflich. Ich bin erst 20 - und schon French-Open-Siegerin", sagte die kleine Flitzerin, die zwei Wochen lang die Tenniswelt und die angestammte Hackordnung fast provozierend auf den Kopf gestellt hatte.
Serena Williams in der Schwangerschaftspause, Maria Sharapova verletzt, Victoria Azarenka noch in Comeback-Vorbereitungen, die Weltranglisten-Erste Angelique Kerber außer Form und schnell auf den Heimweg geschickt - das Tor zum Grand-Slam-Ruhm stand für viele andere aus dem Establishment weit, weit offen. Doch hindurch spazierte sie, die Lettin Ostapenko, ein Teufelsbraten von einer Spielerin, wild, unberechenbar, couragiert, leidenschaftlich, giftig und streitbar. "Ein neuer Star ist geboren", befand die US-amerikanische Tennislegende Chris Evert, "es wurde auch Zeit. Das Damentennis braucht frisches Blut." Und eins schien tatsächlich gewiss: Langweilig würde es Fans und Beobachtern nicht werden mit dieser Himmelsstürmerin, die mal eben bei diesen French Open 299 direkte Gewinnschläge auspackte, mehr als jeder andere Spieler, mehr als jede andere Spielerin. Und die das Kunststück fertig brachte, in vier von sieben der Knockout-Partien einen 0:1-Satzrückstand noch umzubiegen, auch im Finale gegen die erklärte Wettfavoritin Halep, die schon mit 6:4 und 3:0 geführt hatte.
Ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch
Sie war allemal die mitreißendste, faszinierendste Erscheinung bei diesem Turnier, die erst am Donnerstag 20 Jahre alt gewordene Göre mit polarisierender Wirkung. Ostapenko hat viele Gesichter auf dem Tennisplatz, nicht alle sind schön, vieles, was sie da tut, ist nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen. Die Lettin spielt riskant, wagemutig, verblüffend, sie kennt keine Kompromisse, sie bestimmt fast gegen jede Gegnerin das Spiel in jede Richtung. Auch im Finale, ihrem bisher größten Spiel, war das so: Sie schlug 54 Volltreffer, machte aber auch 54 Fehler. Halep, die Gegnerin, bekannte frappiert: "Ich war oft nur eine Zuschauerin in diesem Match."
Ostapenko ist aber auch so volatil wie ein Zockerpapier an der Börse. Ein Vulkan, der irgendwie immer vor dem Ausbruch zu stehen scheint. Als Drama-Queen hat sie sich einen wenig schmeichelhaften Ruf auf der Tennistour erworben, ein aufmerksamer Zeitgenosse notierte in den sozialen Medien, dass die handelsüblichen Glückwünsche der lieben Kolleginnen nach dem Ostapenko-Sieg in Paris nahezu vollständig ausgeblieben seien. Es muss dann wohl mit den Eskapaden Ostapenkos zu tun haben, manch schrillem Auftritt, den vielen Tiraden, die sich gegen alles Mögliche und zuweilen auch gegen die eigene Entourage richten. Im Finale sah es so aus, als würde Ostapenko ihre eigene Mutter, die auch lange Zeit ihre alleinige Trainerin war, zum Verlassen des Stadions ermuntern. "Ich bin, wie ich bin. Ich versuche das abzustellen, aber es klappt nicht immer", sagt Ostapenko.
Die unwahrscheinlichste Grand-Slam-Siegerin der letzten Jahre
Aber man darf auch vermuten, dass sie nicht unterwegs ist, um Sympathiepunkte zu holen oder Beliebtheitswettbewerbe zu gewinnen. Sie will vor allem eins: Gewinnen, sich im Duell Frau gegen Frau durchzusetzen. "Sie ist die geborene Wettkämpferin", findet ihre neue Beraterin und Trainerin Anabel Medina (Spanien). Und tatschlich: An Furchtlosigkeit, Konsequenz und Aggressivität besteht kein Mangel bei ihr, der unwahrscheinlichsten Grand-Slam-Siegerin der letzten Jahre. Auch der jüngsten seit Iva Majoli, sie gewann die French Open 1997 mit 19 Jahren.
Ganz aus dem Nichts kommt Ostapenkos Erfolg natürlich nicht, dieser überhaupt erste Turniersieg. Vor drei Jahren siegte sie in Wimbledon im Juniorinnen-Wettbewerb, und wenn in letzter Zeit über die vielversprechendsten Talente aus der nächsten und übernächsten Generation hinter Williams und Co. geredet wurde, dann fiel auch immer der Name der Lettin. Doch viele hatten Zweifel, ob sie eine Herkulesaufgabe wie einen Grand-Slam-Triumph würde stemmen können, mit dieser charakterlichen Labilität, einem noch nicht voll ausgereiften Spiel. Doch die Unberechenbare hat trotz allem Unperfekten die Antwort gegeben: Sie hat viele Fehler gemacht, aber am Ende immer noch ein bisschen mehr richtig. Wird sie ein One-Hit-Wonder bleiben? Niemand weiß das, aber sie hat das Potenzial für eine strahlende Zukunft. Wahrscheinlich sogar am ehesten, wenn sie genau so bleibt wie sie ist. Nämlich Miss Powerplay.
Die French Open im Überblick