Auswärtsspiel – die SPOX-Kolumne: Gian Piero Gasperini – die Heulsuse aus Bergamo

Fatih Demireli
14. April 202212:40
SPOXgetty
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Gian Piero Gasperini ist einer der erfolgreichsten Trainer Europas. Aus seinem Klub Atalanta Bergamo, den er mal mit einem Fiat 500 verglich, machte er eine Angriffsmaschine, die in Italien fast 100 Tore in einer Saison schoss. Doch trotz all seiner Erfolge ist er nicht gerade beliebt - auch weil er mal Diego Maradona bluten ließ.

Einen Sympathiepreis wird Gian Piero Gasperini in seinem Leben wahrscheinlich nicht mehr gewinnen. Würde man den 64 Jahre alten Trainer von Atalanta Bergamo fragen, ob er darüber traurig ist, dass er nicht als Il Simpatico ausgezeichnet wird, würde er wahrscheinlich antworten: "Zur Hölle damit!"

Darüber würden sich viele nicht wundern. Papu Gomez beispielsweise, sein ehemaliger Lieblingsspielmacher bei Atalanta, mit dem er im Streit und fast prügelnd auseinanderging. Oder die italienischen Nationalstürmer Federico Chiesa und Ciro Immobile, die er beide "Simulanten" nannte. Oder so ziemlich jeder Schiedsrichter der Serie A und sonst aller Wettwerbe, an denen "Gasp" als Spieler und Trainer teilnahm.

Auch die Herren Roberto De Zerbi, Stefano Pioli, Maurizio Sarri, Simone Inzaghi, Rolando Maran, Claudio Rainieri, allesamt Trainerkollegen, mit denen er schon mal Stress hatte. Sicher auch der Sampdoria-Mitarbeiter, den Gasperini im Kabinengang schubste, weil er sauer auf seinen Platzverweis war. Wohl auch der Doping-Kontrolleur, den er bepöbelte und eine Geldstrafe kassierte. Und auch Diego Maradona hätte sich nicht gewundert, dessen Lippe Gasperini als Spieler mal mit seinem Ehering platzen ließ und später so tat, als wäre das gar nicht so.

Gasperini ist seit seiner Geburt vor 64 Jahren in Grugliasco, 40 Kilometer entfernt von Turin, unter Dauerstrom. Seine Karriere, die damit begann, dass der Vater seinen Juventus-verrückten Sohn zum Probetraining der Alten Dame schleppte und der neun Jahre alte Gian Piero schon kurze Zeit später jeden Tag allein mit dem Zug nach Turin fuhr und dort so lange blieb, bis er Profi unter Giovanni Trapattoni wurde.

Gian Piero Gasperini: Guardiola und Mourinho sind Fans

Diese Hartnäckigkeit, die ihn als junger und alter Spieler auszeichnete, wurde später zu seinem Markenzeichen als Trainer. Einer, der nicht auf Anhieb zündete und auch herbe Rückschläge erleiden musste, aber heute ein Fußball-Denker ist, den andere Trainer - oft erfolglos - zu kopieren versuchen. Ein Trainer, der dreimal in Folge die "Goldene Bank" gewann. Der Preis für den besten Trainer Italiens. Er ist ein Trainer, den Pep Guardiola oder Jose Mourinho voller Respekt loben.

Wer es schafft, erst 98 Tore in einer Serie-A-Saison zu erzielen und das Ganze dann mit 90 Toren in der folgenden Saison bestätigt, wer einen Mittelklasseklub wie Atalanta dreimal in Folge auf Platz drei in der Serie A führt und dabei stilbildend Fußball spielen lässt, verdient diese Anerkennung.

In dieser Saison will es noch nicht so laufen und als würde man nur darauf warten, diesem Energiebolzen eins auszuwischen, gibt es in Italien teils übertriebene Kritik. Doch genau da kommt wieder die Hartnäckigkeit in Gasperini hervor. Zuletzt wehrte er sich: "Der Respekt uns gegenüber ist nicht derselbe wie bei anderen Mannschaften. Wir müssen im Rahmen unserer Möglichkeiten reagieren, aber was Atalanta angetan wird, ist verheerend."

Gasperini: Innenverteidiger passt, Innenverteidiger trifft

Es ist eine seiner vielen Tiraden gewesen, die manchmal sehr nervig sein können. "Wenn er gewinnt, ist er brillant, wenn er verliert, ist er eine Heulsuse", schrieb die seriöse Repubblica über Gasperini. Doch hat er ausgeweint, schaltet er schnell wieder auf Arbeit um.

Was für ihn spricht, ist die Tatsache, dass er trotz ausbleibender Ergebnisse in der laufenden Saison an seiner Philosophie nichts verändert hat. Atalanta ist weiter eine Offensiv-Maschine, der es extrem Spaß macht, zuzuschauen. Sie spielen einen kompromisslosen Angriffsfußball, in dem selbst die drei Innenverteidiger eine Rolle im Angriff spielen.

Als Ende Dezember in einem Ligaspiel bei der SSC Neapel Innenverteidiger Merih Demiral im Strafraum einen Steckpass von Innenverteidiger Rafael Toloi mit einem strammen Rechtsschuss zum Ausgleich verwertete, konnte Gasperini sein Glück nicht fassen: "Das wollte ich schon immer mit meinen Teams machen", frohlockte er, "jetzt hat Atalanta Spieler, die es mir ermöglichen, diese Ideen umzusetzen. Ich dachte schon immer, ein Verteidiger könnte nach vorne gehen und angreifen."

Gasperini liebt es, wenn man über seine Ideen spricht. Wenn er über seine Ideen sprechen darf. Wenn er den Respekt bekommt, von dem er glaubt, dass er ihn verdient. Er kann wunderbar über Fußball sinnieren und erklären, wie er es schaffte, mit einem System mit Dreierkette, von der man herleitete, dass Gasperini in Atalanta verteidigen lässt, eines der spannendsten Projekte Europas auf die Beine zu stellen. Fatih Demirelis Kolumnespox

Gasperini über Atalanta: "Dieser Klub ist ein Ferrari wert..."

"Der Fußball entwickelt sich ständig weiter. Vielleicht ist etwas von vor drei, vier Jahren schon überholt. Auf diese Entwicklung muss man vorbereitet sein, man muss sie erkennen und sich anpassen. Das gilt auch für mich: Es ist immer wichtig zu sehen, wie weit ich gehen kann", sagt Gasperini. Und er ging sehr weit.

Als er zu Atalanta kam, lief es nicht auf Anhieb so gut. Die Mannschaft stellte nichts dar. "Dieser Klub ist ein Ferrari wert, aber er wird wie ein Fiat 500 benutzt", sagte Gasperini bei einem seiner ersten Treffen mit der Mannschaft. Sie hatte in der Gesamtheit kein Gesicht, aus dem man etwas Großes erschaffen könnte. Aber inzwischen weiß man ja, dass er hartnäckig ist und in dieser Phase tat sich eine Stärke auf, die sich schon bei seinen vorherigen Stationen und vor allem in Genua zeigte: die Fähigkeit, Spieler besser zu machen.

Bei der EURO 2020, die 2021 gespielt wurde, standen acht Atalanta-Profis aus sieben verschiedenen Ländern im Achtelfinale. Damit war Atalanta in genauso vielen Nationalmannschaften vertreten wie die letztjährigen Champions-League-Finalisten FC Chelsea und Manchester City. Sieht man sich die Spieler an, haben sie ihren Karriere-Höhepunkt allesamt unter Gasperini erlebt.

Ob Robin Gosens, der damals sagte, dass sein vor allem gegen Portugal belebendes Offensivspiel Gasperinis Einfluss zu verdanken war, ob Marten de Roon, Ruslan Malinowski, Joakim Maehle, Remo Freuler, Rafael Toloi, Matteo Pessina oder Mario Pasalic. Sie waren Gasperinis Produkte für das kontinentale Turnier im letzten Sommer. Doch auch Duvan Zapata, Luis Muriel und Co. muss man dazuzählen.

Bergamo: Gasperini macht die Spieler besser

Ohne Gasperinis Mut, der der hervorragenden Scoutingabteilung Atalantas blind vertraute und ungeschliffene Spieler einsetzte, wären all diese Spieler wohl nicht so schnell auf ein Niveau gekommen, auf dem sie Stammspieler eines Titelaspiranten in Italien und wichtige Nationalspieler geworden sind.

Da spielt auch das Alter keine Rolle. Als Atalanta Ende März wieder eine lange Liste von Verletzten hatte, nahm Gasperini den 18 Jahre alten Moustapha Cisse aus der U19 mit nach Bologna und in seinem ersten Profispiel überhaupt traf der junge Mann aus Guinea zum 1:0-Sieg.

Erst vier Wochen zuvor wurde Cisse in der Atalanta-Akademie aufgenommen. Die meisten Fans des Klubs kannten Cisse bis zu dessen Tor überhaupt nicht. Entdeckt hatten ihn die Klubscouts bei einem Benefizspiel zwischen dem Zweitligisten US Lecce und ASD Rinascita Refugees, einer Mannschaft aus der 8. Liga, geschaffen für geflüchtete Erwachsene und Minderjährige, die vom sogenannten "Siproimi"-Projekt (Schutzsystem für Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz und für unbegleitete ausländische Minderjährige) betreut werden.

"Er trainiert jetzt seit einer Weile mit uns, aber wenn alle Stürmer verfügbar gewesen wären, wäre er wahrscheinlich gar nicht mit nach Bologna gekommen", sagt Atalantas Co-Trainer Tullio Gritti und fügte an: "Cisses Einwechslung war ein Geniestreich von Gasperini, der zuvor sagte, dass der Junge eine Menge Qualität hat. Vor allem seine Schussgenauigkeit."

Wurde mal von Pep Guardiola eingeladen: Gian Piero Gasperiniimago images

Michael Jordan als Vorbild für Gasperini

Zwar ist Cisse wieder zurück bei der U19 und schießt dort fleißig Tore, aber bei Atalanta weiß man, dass dem jungen Stürmer eine Profikarriere bevorsteht. Vor allem, wenn Atalanta im Sommer wieder Spieler verkauft. Über 200 Millionen Euro kamen seit Gasperinis Ankunft rein - der Einfluss des Trainers ist nicht von der Hand zu weisen und daher ist sein Vertrag auch längst verlängert worden.

Und wenn es diesmal nicht mit Platz 3 und der Champions League klappt? Kein Problem. Aufgeben kennt der Mann nicht, der als Spieler nicht talentierter als die anderen war und dennoch erfolgreich war.

Er ließ sich auch als Trainer auch nicht davon negativ beeinflussen, nur knapp 90 Tage Trainer von Inter Mailand gewesen zu sein, weil Inter-Präsident Massimo Moratti davon angetan war, wie Stadtrivale AC Milan ein Jahr zuvor mit einem jungen Italiener namens Massimiliano Allegri Meister wurde und das gleiche auch mal probieren wollte.

Seine Spieler, zu denen er keine besonders große Nähe aufbaut und ihnen mit seinem überharten Training sogar manchmal auf die Nerven geht, sind begeistert von seinen Motivationskünsten vor Spielen.

Vor einem wichtigen Spieler zitierte er mal Michael Jordan und bekam die Spieler auf seine Seite: "26-mal wurde mir der letzte Wurf anvertraut und ich habe nicht getroffen. Ich bin immer und immer wieder in meinem Leben gescheitert. Und das ist der Grund, warum ich gewinne." Man muss ihn nicht mögen, aber Gian Piero aus Grugliasco ist sicherlich keine Heulsuse.