Bayer 04 Leverkusen spielt im Schatten von Bayern und Dortmund eine gute Saison, läuft dort aber fast komplett unter dem Radar. Dabei zeigt die Werkself unter Gerardo Seoane einen sehr attraktiven und unterhaltsamen Fußball. Auch ein ehemaliger Rivale zeigt sich angetan vom Bayer-Trainer.
Mit Bayer 04 Leverkusen hat die Bundesliga derzeit eines der unterhaltsamsten Teams zu bieten, das es im europäischen Spitzenfußball aktuell gibt. Die Werkself läuft schon beinahe chronisch unter dem Radar, wenn es um die positiven Aspekte im deutschen Fußball geht. Am Sonntag haben sie die Möglichkeit, ihre Qualitäten unter Beweis zu stellen. Dann geht es gegen den BVB (15.30 Uhr im LIVETICKER).
In dieser Saison scheint sich das Team von Gerardo Seoane abermals oben in der Tabelle festzubeißen. Auch wenn Dortmund bereits auf acht Punkte enteilt ist, wäre ein Sieg am Wochenende gleich doppelt wichtig: um den dritten Platz zu sichern und zu zeigen, dass man auf Augenhöhe mit dem BVB ist.
Das Hinspiel ging spektakulär mit 3:4 verloren, jetzt will sich Leverkusen auswärts revanchieren. Nach zwei Jahren Europa League könnten sie sich erstmals seit 2019 wieder für die Champions League qualifizieren.
gettyEx-Seoane-Rivale: "Emotionen kochten schon mal über"
Seoane hat daran einen großen Anteil. Das sagt zumindest Eduard Schmidt, der aktuell als Co-Trainer beim SC Paderborn für die Analyse zuständig ist. Schmidt wechselte wie Seoane im vergangenen Sommer aus der Schweiz nach Deutschland. Zuvor war er beim FC St. Gallen tätig.
Im Gespräch mit SPOX und GOAL erinnert er sich an hitzige Aufeinandertreffen mit dem heutigen Leverkusen-Trainer: "Beidseitig und auch bei mir kochten die Emotionen da schon mal über. Gerardo Seoane kann ich trotzdem oder gerade deswegen nur meine Anerkennung aussprechen." Denn dessen Markenzeichen sei es, "dass er sich an der Seitenlinie insgesamt ruhig und klar verhält, eine gewisse Gelassenheit und Coolness ausstrahlt, die er nur selten verliert."
Das hilft dem 43-Jährigen jetzt auch in Leverkusen. Obwohl er bereits zwei Saisonphasen durchlief, in denen die Ergebnisse nicht stimmten, wurde es nie richtig unruhig. Erste Pfiffe verstummten in der Hinrunde schnell, auch Spieler, die weniger zum Einsatz kamen, hielten sich zurück. Seine Art dürfte dabei helfen. "Selbst in kritischen Momenten ordnet Seoane vieles objektiv ein", sagt Schmidt.
Leverkusen: Überragendes Offensivtrio rund um Patrik Schick
Und auch fußballerisch scheint Leverkusen auf einem guten Weg zu sein. 49 Tore hat die Werkself in der Bundesliga bereits erzielt, nur der BVB (52) und Bayern (65) haben mehr. Insbesondere das Offensivtrio bestehend aus Patrik Schick, Florian Wirtz und Moussa Diaby spielt bisher eine überragende Saison.
Trotzdem wird kaum darüber gesprochen. Schick traf in 17 Einsätzen schon 18-mal und entwickelt sich im Schatten von Robert Lewandowski zu einem der besten Stürmer der Welt. Der 26-Jährige ist unter Seoane vor allem effizienter geworden. Er war schon vor seiner Zeit in Leverkusen ein sehr kompletter Stürmer, der sich regelmäßig im Kombinationsspiel einbrachte, mit klugen Laufwegen glänzte und Bälle technisch anspruchsvoll verarbeiten konnte. In dieser Saison aber hat der Tscheche seine Chancenverwertung deutlich verbessert.
Im Schnitt braucht er nur 3,3 Abschlüsse für ein Tor. Robert Lewandowski (4,2) und Erling Haaland (3,6) lässt Schick damit hinter sich. "Er gehört jetzt schon zur Weltklasse", sagte Rudi Völler jüngst im Interview mit dem kicker.
gettyDominanz im offensiven und defensiven Umschaltspiel
Schick aus dem Spiel herauszunehmen, ist auch deshalb so schwer, weil Leverkusen weitere gefährliche Offensivspieler hat. Diaby (26 Pflichtspiele, 11 Tore, 8 Torvorlagen) und Wirtz (24 Pflichtspiele, 8 Tore, 12 Torvorlagen) entlasten ihn nicht nur, sondern helfen ihm auch dabei, Räume in der gegnerischen Defensivorganisation zu finden.
Insbesondere im offensiven Umschaltspiel sind die drei kaum zu halten. "Die nahezu perfekt orchestrierten Konter fielen mir bei Leverkusen äußerst positiv auf", analysiert auch Schmidt. Absolute Dominanz sowohl im offensiven als auch im defensiven Umschaltspiel habe die Mannschaft von Seoane in Bern ausgezeichnet: "In den besten Phasen schafften sie es so gut wie kaum jemand anderes, ihre Gegner in deren Hälfte zu erdrücken."
Auch auf Leverkusen konnte Seoane diese Stärken offenbar übertragen. Mit ihrem Tempo und ihrer technischen Präzision können die Leverkusener nahezu jede Defensivreihe knacken. Nicht zuletzt beim 5:1 gegen den FC Augsburg am vergangenen Spieltag stellten sie das abermals unter Beweis.
Bayer Leverkusen: Tempo und direktes Spiel nach vorn
Gerade Wirtz ist zwischen den Linien des Gegners sehr umtriebig, zieht immer wieder Räume für Schick oder Diaby frei und ist damit vielleicht der Dreh- und Angelpunkt in der Offensive. Leverkusen gelingt es häufiger als jedem anderen Bundesligisten, die Schnittstellen zu finden. 33 Schnittstellenpässe hinter die gegnerische Abwehrkette sind Bestwert. Nur Bayern (32) kann da mithalten. Wirtz ist mit neun solcher Pässe der beste Spieler in der Bundesliga.
Seoane fordert mit und gegen den Ball Laufbereitschaft und Intensität ein, alles wird mit hohem Tempo durchgeführt. "Oft reichten wenige hochintensive, gut aufeinander abgestimmte Aktionen, um den Gegner zu einem langen Ball oder Fehlpass zu verleiten", sagt Schmidt über die Philosophie des Trainers.
Das bedeutet aber nicht, dass sie immer hoch pressen. Leverkusen lässt sich häufig in eine tiefere Defensivformation zurückfallen. Sie setzen den Gegner im Schnitt nur 26,1-mal pro Spiel im Angriffsdrittel unter Druck - nur Hertha BSC kommt auf einen geringeren Wert.
gettyLeverkusen bereitet seine Konter klug vor
Nach Ballverlusten presst Leverkusen hingegen stets aggressiv und hoch. Wird der Ball nicht innerhalb von wenigen Sekunden gewonnen, geht es aber darum, sich hinten schnell zu sortieren. Das führt immer wieder zu längeren Spielphasen, in denen Leverkusen mit zwei tiefen Viererketten in der eigenen Hälfte verteidigt.
53,6-mal setzen sie ihre Gegner pro Spiel nämlich im eigenen Defensivdrittel unter Druck. Das ist Platz 3 in der Bundesliga und für ein Top-Team durchaus ein ungewöhnlicher Wert. Die Idee dahinter ist klar: Leverkusen hatte in den vergangenen Jahren immer wieder Probleme, die Offensivpower auch nach hinten auszubalancieren. Darüber hinaus kann die schnelle rechte Seite, zu der nicht nur Diaby, sondern auch Außenverteidiger Jeremie Frimpong zählt, den aufgerückten Gegner nach Ballgewinnen überrennen.
Auch Schmidt ist das aufgefallen: "Den Aspekt der Kontervorbereitung scheint Seoane in Leverkusen noch stärker in den Vordergrund zu rücken." Gleichzeitig wurde ihnen die mitunter tiefe Ausrichtung aber schon mehrfach zum Verhängnis. Gegen den Ball hat Leverkusen wohl noch am meisten Luft nach oben. Tiefes Verteidigen lädt dazu ein, passiv zu werden. Lange Phasen am eigenen Strafraum erhöhen indes die Wahrscheinlichkeit, Fehler zu machen, die vom Gegner aufgrund der Nähe zum Tor sofort bestraft werden können.
Probleme im Defensivbereich
Schmidt war auch beim FC St. Gallen für die Analyse zuständig. Schwächen in Seoanes Ausrichtung hat er vor allem dann ausgemacht, wenn der Gegner ebenfalls mit viel Aufwand agiert. "Vor allem bei Heimspielen zwangen wir sie oft aus ihrer Komfortzone, indem wir selbst einen höchst intensiven Spielstil pflegten", sagt der 27-Jährige: "Im Vergleich zu anderen Begegnungen konnten sie das Geschehen nicht mehr so kontrollieren wie gewünscht."
Die Folge sei eine Aneinanderreihung von Umschaltmomenten und Chancen auf beiden Seiten gewesen. Schmidt beobachtet diese Tendenz gerade auch in Leverkusen: "Die Bundesliga ist eben noch stärker auf Umschaltsituationen fokussiert als die Schweizer Super League."
32 Gegentore sind jedenfalls jetzt schon zu viel. Auch weil sich diese bei Leverkusen nicht gut verteilen. Obwohl beide Klubs ein ähnliches Torverhältnis aufweisen, trennen den BVB und Leverkusen acht Punkte. Konstanz wird dementsprechend ein großes Thema bleiben.
gettySeoane tüftelt weiter am Mittelfeld
Die Seoane-Elf lebt aktuell noch sehr von Spielsituationen, in denen sie ihren Gegner mit viel Raum attackieren und ihr Tempo ausspielen können. In längeren Ballbesitzphasen hingegen sind sie vor allem im Zentrum oftmals zu behäbig. Im Mittelfeld ist man sehr abhängig von Kerem Demirbays Ideen.
Der 28-Jährige spielt die mit Abstand meisten Seitenverlagerungen pro 90 Minuten (5,39) und ist auch bei den Vertikalpässen (5,79) und den Pässen ins Angriffsdrittel (5,53) der mit Abstand beste Leverkusener, weshalb er auch meist gesetzt ist. Darüber hinaus rotiert Seoane aber viel. Seine Wunschkonstellation scheint er noch nicht gefunden zu haben.
Spieler wie Charles Aranguiz, Exequiel Palacios oder auch Robert Andrich haben nicht nur geringere Werte, sondern verschleppen das Tempo auch zu oft. Demirbay wiederum fehlt es an Präzision. Seine Passquote von 75 Prozent ist nur unterdurchschnittlich. Leverkusen fehlt somit ein Spieler, der das Mittelfeld ausbalancieren und den Takt vorgeben kann.
BVB gegen Leverkusen: Weiteres Torfestival?
An guten Tagen ist Leverkusen trotzdem auf Augenhöhe mit dem BVB, vielleicht sogar einen Tick besser. Denn Dortmund gelang es trotz der hohen Punktzahl seltener, wirklich begeisternden Fußball darzubieten. Und doch spricht die Tabelle eine klare Sprache.
Zumindest gegen die Schwarz-Gelben dürfte es wohl keine Probleme mit statischen Situationen geben. Im Hinspiel hatte der BVB rund 58 Prozent Ballbesitz. Das bedeutet, dass Leverkusen sich auf das konzentrieren kann, was es so stark macht: offensiv und defensiv umschalten.
Nur die Defensive muss B04 im Vergleich zu damals neu justieren, wenn es diesmal erfolgreich sein will. Wobei wilde Duelle wie die damalige 3:4-Niederlage fast schon zum Markenzeichen der Leverkusener geworden sind. Eines ist jedenfalls sicher: Ein weiteres Sieben-Tore-Spektakel würde die Bundesliga gerne sehen.
Bundesliga: Die obere Tabellenhälfte
Platz | Team | Sp. | Tore | Diff | Pkt. |
1. | Bayern München | 20 | 65:19 | 46 | 49 |
2. | Borussia Dortmund | 20 | 52:31 | 21 | 43 |
3. | Bayer Leverkusen | 20 | 49:32 | 17 | 35 |
4. | Union Berlin | 20 | 29:25 | 4 | 34 |
5. | Freiburg | 20 | 33:23 | 10 | 33 |
6. | RB Leipzig | 20 | 38:23 | 15 | 31 |
7. | Hoffenheim | 20 | 41:32 | 9 | 31 |
8. | Köln | 20 | 32:34 | -2 | 29 |
9. | Eintracht Frankfurt | 20 | 30:30 | 0 | 28 |