Er ist farblos, langweilig und irgendwie schräg. Er scheiterte in Dortmund und hat keinen Star-Appeal. Dennoch gehört der niederländische Nationalcoach Bert van Marwijk plötzlich zur Riege der Top-Trainer, weil er Oranje ins WM-Finale gegen Spanien geführt hat. Wie hat er das geschafft?
Es war ausnahmsweise nicht die ewig gleiche Frage nach Aufstellung, Gemütslage oder taktischer Ausrichtung, die Bert van Marwijk bei einer der obligatorischen WM-Pressekonferenzen zu beantworten hatte.
Zahlreiche Kinder in seiner niederländischen Heimat sorgten sich während der Fußball-Übertragungen um den Gesundheitszustand des grimmig dreinblickenden Nationaltrainers, weswegen ein TV-Sender sich veranlasst sah, die von den Kindern am häufigsten gestellte Frage weiterzuleiten.
Eine Frage, die so entwaffnend simpel ist, dass wohl kein Erwachsener darauf gekommen wäre, sie zu stellen: Warum schaut Herr van Marwijk immer so ernst?
"Keine Sorge, ich fühle mich gut. Aber wenn ich immer nur lache, werde ich die Spieler verwirren", erklärte van Marwijk. Lächelnd, wohl gemerkt.
Größter Erfolg der Geschichte
Es war einer der seltenen Momente, in denen der Bondscoach kurzzeitig die Distanz aufgab, die er sonst zur Öffentlichkeit pflegt. Ein Bondscoach, der mit seinem scheinbar emotionslosen Habitus die Fans irritiert - und doch genau den richtigen Ton zu treffen scheint, wenn er mit der Mannschaft spricht.
Erstmals seit 1978 stehen die Niederlande in einem WM-Finale und sollte gegen Spanien der siebte Sieg im siebten Turnierspiel in Südafrika gelingen (So., 20 Uhr im LIVE-TICKER und auf Sky), würde Oranje, das seit September 2008 unbezwungen ist, sogar den größten Erfolg der Geschichte feiern.
Mit einem Architekten jedoch, dessen Vita einige schwarze Flecken aufweist.
Van Marwijk gehörte nie zu den Koryphäen der internationalen Trainergilde. Der UEFA-Cup-Sieg 2002 mit Feyenoord Rotterdam war zweifellos beeindruckend, davon und vom Pokal-Sieg 2008 abgesehen gelang ihm in 15 Coaching-Jahren jedoch kein weiterer Titelgewinn.
In Dortmund gescheitert
In seiner ersten Erstliga-Saison führte er Fortuna Sittard 1998 in Holland auf Rang sieben, in jedem der darauffolgenden drei Jahre verschlechterte sich der Klub jedoch und wurde nur Zehnter, 12. und 16., bevor van Marwijk von Feyenoord abgeworben wurde.
In Rotterdam gelang es ihm aber nicht, die Phalanx von Ajax und PSV zu durchbrechen. Dreimal in Folge wurde sein Team hinter den beiden Erzrivalen Dritter. Borussia Dortmund war trotz der durchwachsenen Gesamtbilanz von der Erfahrung im UEFA-Cup-Finale gegen Feyenoord derart beeindruckt von van Marwijk, dass dieser 2004 als neuer Chefcoach des BVB vorgestellt wurde.
Aber auch hier: Van Marwijk zeigte gute Ansätze, der mittelfristige Erfolg blieb ihm dennoch versagt. Nach zwei siebten Rängen trennten sich im Winter 2006 auf dem neunten Platz liegend die Wege von Dortmund und van Marwijk, dem unter anderem vorgeworfen wurde, das Training schleifen gelassen zu haben, um schneller nach Hause zu kommen.
2007/08 kehrte er zu Feyenoord zurück, das sich mit Roy Makaay und Giovanni van Bronckhorst verstärkt hatte und den Pokal gewann. In der Liga kam aber nur Platz sechs heraus.
Bloß nicht unterschätzen
Es ist die Mischung aus fehlendem Glanz in der Biografie und seine Attitüde der Verschlossenheit, weswegen es der Öffentlichkeit schwer fällt, seinen Anteil am großen Erfolg der Niederlande zu bemessen. Van Marwijk gilt nicht als herausragender Taktik-Papst oder grandioser Psychologe. Im Grunde hat er gar keinen Ruf - außer, dass er ein Kauz ist.
Und so einer könnte Weltmeister-Trainer werden?
"Man sollte aber nicht den Fehler machen und van Marwijk unterschätzen", gibt der ehemalige Nationalspieler Paul Bosvelt gegenüber SPOX zu bedenken. Bosvelt war in Rotterdam van Marwijks Kapitän und als Sechser die mitentscheidende Figur beim UEFA-Cup-Sieg. "Natürlich hat er nicht die Reputation eines Star-Coaches, mit seiner Art der Menschenführung hat er jedoch einen riesigen Anteil am Final-Einzug."
Flexibilität als Trumpf
Womöglich ist es van Marwijks größte Stärke, dass er eben in keine Schublade zu stecken ist. Er biedert sich nicht übermäßig bei der Mannschaft an, gleichzeitig verzichtet er darauf, sich als überstrenger Hardliner zu profilieren. Sein Stil im Miteinander ist geprägt von pragmatischer Flexibilität.
Eljero Elia und Robin van Persie etwa bekamen van Marwijks Zorn zu spüren, als der eine (Elia) per Twitter unnötig einen Rassismus-Skandal auslöste und der andere (van Persie) nach einer Auswechslung den Trainer anschrie. Beide entschuldigten sich kurz darauf reumütig.
Bei Rafael van der Vaart wiederum verzichtete van Marwijk auf eine Zurechtweisung, obwohl dieser sich seit Wochen ungerecht behandelt fühlt. Ist es Fingerspitzengefühl? "Bei holländischen Nationalteams ist die Gefahr für Lagerkoller vielleicht etwas größer als bei anderen Mannschaften", sagt van Marwijk.
Um dem Lagerkoller vorzubeugen, lässt er seine Spieler daher auch mal wehklagen. Oder gestattete ihnen sogar vor dem WM-Endspiel zwei freie Tage.
Weiterentwickelt als Motivator
Im Gegenzug fordert er jedoch Loyalität und ein bedingungsloses Einordnen ins taktische Gefüge, obwohl die Niederlande wenig spektakulär agieren und das einst unangreifbare 4-3-3 in ein effizientes 4-2-3-1 umgewandelt wurde.
"Ich liebe Offensiv-Fußball, wirklich. Aber was haben wir damit gewonnen? Nichts! Ich musste dieser Mannschaft erstmals Stabilität geben. Barcelona spielt den schönsten Fußball der Welt. Aber das funktioniert nur, weil auch Spieler wie Messi oder Ibrahimovic unglaublich viel nach hinten arbeiten", sagt van Marwijk - und seine Spieler folgen ihm. In erster Linie sein Schwiegersohn Mark van Bommel, der wohl wichtigste Spieler der Oranje.
"In den letzten zehn Jahren hat van Marwijk als Motivator sehr viel dazugelernt. Vom Typ ist er immer noch gleich, aber er beherrscht die Klaviaturen der Ansprachen besser", sagt Bosvelt.
Oder wie es van Marwijk selbst formuliert: "Ich bin sehr offen zu den Spielern. Sie dürfen mich nachts anrufen und ich bin für sie da, aber gleichzeitig zeige ich ihnen klare Grenzen auf." Offensichtlich mit Erfolg, die sonst für Egoismen bekannte niederländische Mannschaft tritt so geschlossen auf wie lange nicht.
"Sein Markwert ist exorbitant gestiegen"
Kaum jemand hätte es für möglich gehalten, dass sich ausgerechnet der farbloseste zum erfolgreichsten Bondscoach mausert, nachdem weder ehemalige Superstars (Marco van Basten, Frank Rijkaard) noch Weltklasse-Trainer (Dick Advocaat, Louis van Gaal, Guus Hiddink, Leo Beenhakker) bleibenden Eindruck - lies: Finalteilnahmen - hinterließen.
Nun befürchtet der niederländische Verband, dass van Marwijk, dessen Vertrag vor der WM bis 2012 verlängert wurde, womöglich schon nach der WM die Elftal verlassen wird. "Sein Marktwert ist exorbitant gestiegen, selbst Manchester United könnte Interesse haben. Jeder, auch im Ausland versteht, dass diese Topleistung zu einem großen Teil der Verdienst von Bert van Marwijk ist", sagt Verbands-Boss Henk Kesler.
Als van Marwijk in Dortmund vor der Entlassung stand, tätigte er eine bemerkenswerte Aussage "Ich bin es gewohnt, alleine zu überleben. Das habe ich mein Leben lang getan, und ich werde es immer tun."
Auch wenn das Finale verloren gehen sollte, ist eines sicher: Van Marwijks Zeiten als einsamer Wolf sind erst einmal vorbei.
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