Christoph Kramer ist der teuerste Transfer in der Vereinsgeschichte von Borussia Mönchengladbach und wichtiger Baustein im Gerüst von Trainer Andre Schubert. Vor dem Champions-League-Auftakt gegen Manchester City (Di., 20.45 Uhr im LIVETICKER) spricht der 25-Jährige über seine Begeisterung für die VfL-Fans, sein Fußball-Tagebuch, Tinder und seine Ambitionen mit der DFB-Elf.
SPOX: Herr Kramer, Sie sind der einzige Weltmeister im Kader von Borussia Mönchengladbach und der teuerste Transfer der Vereinsgeschichte. Hätten Sie mit einer solchen Karriere gerechnet, als man Sie 2006 bei Bayer Leverkusen aussortierte?
Christoph Kramer: Nein, diese Entwicklung hätte ich mir nie erträumt. In den letzten Jahren ist einfach sehr viel wahnsinnig gut für mich gelaufen. Darüber bin ich extrem glücklich und auch stolz auf mich und das, was ich erreicht habe. Allerdings denke ich nicht mehr darüber nach, was vor zehn Jahren passiert ist. Ich bin froh, wo ich heute stehe.
SPOX: Nach Ihrer Rückkehr zur Borussia sagten Sie, die Ablöse von 15 Millionen Euro empfänden Sie nicht als Belastung, sondern eher als Wertschätzung. Haben Sie tatsächlich überhaupt keinen Druck verspürt?
Kramer: Durch das Erreichen der Champions-League-Gruppenphase ist die Ablöse doch schon wieder drin, sogar doppelt. (lacht) Wenn ich mir also deshalb Druck gemacht hätte, könnte ich jetzt wieder damit aufhören.
SPOX: Die Anforderungen und Ansprüche an Sie sind aber andere als vor zwei Jahren.
Kramer: Das ist ganz normal. Es ist schon ein Unterschied, ob man als Leihspieler aus der 2. Liga kommt oder für 15 Millionen Euro von einem Champions-League-Teilnehmer. Man entwickelt sich weiter und wird reifer. Auch wenn es weh tut, das mit 25 Jahren zu sagen, aber ich gehöre in unserer Mannschaft zu den älteren Spielern. Deshalb gehört es dazu, Verantwortung zu übernehmen, vorweg zu gehen und den Menschen und Mitspielern auf und neben dem Platz zu helfen. Das heißt aber nicht, dass ich mir vornehme, unbedingt der Lauteste auf dem Platz zu sein.
SPOX: Vor Ihrer Rückkehr nach Leverkusen gingen viele Aussagen von Ihnen und beiden Vereinen durch die Medien, die bei den Gladbach-Fans nicht immer für positive Reaktionen sorgten. Hatten Sie beim ersten Training ein mulmiges Gefühl, wie man Sie hier wieder aufnehmen würde?
Kramer: Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, die Fans hier haben ein sehr feines Gespür dafür, ob ein Spieler authentisch ist und die Wahrheit sagt oder nicht. Ich war immer ehrlich, was von den Gladbach-Anhängern honoriert wurde, auch wenn man nicht immer einer Meinung war. Ich habe mich hier sauber verabschiedet und keine verbrannte Erde hinterlassen. Deshalb war ich mir sicher, dass die Fans mich hier so aufnehmen würden, wie sie es letztlich getan haben: sehr herzlich und positiv.
SPOX: Ist es Ihnen persönlich wichtig, ein gutes Verhältnis zu den Fans zu haben und geschätzt zu werden?
Kramer: Was heißt wichtig? Mich mag nicht jeder, das ist völlig normal. Die meisten kennen mich auch überhaupt nicht und können sich nur über die Medien und Außendarstellung ein Bild machen. Klar, letztlich ist es immer schöner, akzeptiert zu werden. Ich denke aber, wenn man ehrlich ist, stellt sich das von ganz alleine ein.
SPOX: Die Fans folgen der Borussia zu allen Spielen, gerade international, in Scharen. Hat Ihnen diese Art der Unterstützung bei Bayer gefehlt?
Kramer: Absolut, eine solche Fanszene habe ich in Leverkusen unheimlich vermisst. Wenn ich sehe, wie 12.000 Gladbach-Fans in weiß gekleidet durch Bern laufen, geht mir ein bisschen einer ab. (lacht) Das ist einfach geil, das macht den Fußball aus und bringt immer noch ein paar zusätzliche Prozent für uns Spieler.
SPOX: Unsere Opta-Kollegen haben herausgefunden, dass Sie das seltene Kunststück vollbrachten, sich vier Mal für die Champions League zu qualifizieren - in den vergangenen zwei Jahren. Trotzdem hat man den Eindruck, dass Sie vor allem im Gladbach-Trikot richtig aufblühen. Liegt Ihnen die Philosophie der Borussia mehr als die der Werkself?
Kramer: Das ist in der Tat kurios und spricht für beide Klubs. Man muss sich nur einmal anschauen, wo Gladbach und Leverkusen in den letzten Jahren gelandet sind. Beide Teams haben ihren eigenen Ansatz Fußball zu spielen und sind damit erfolgreich. Das dominante Spiel der Borussia, basierend auf viel Ballbesitz und dem Zermürben des Gegners, ist nicht zwangsläufig besser, aber ich mag es persönlich lieber und fühle mich darin wohler.
SPOX: Während Ihrer ersten Zeit in Gladbach hatten Sie mit Granit Xhaka einen festen Nebenmann, aktuell spielen Sie mal an der Seite von Mahmoud Dahoud, mal an der von Tobias Strobl. Fällt es da schwerer, sich einzuspielen?
Kramer: Nein, im Gegenteil. Das ist eine unserer großen Stärken in dieser Saison. Wir haben eine hohe qualitative Breite im Kader. Jeder Spieler bringt seine eigenen Fähigkeiten mit und interpretiert seine Position etwas anders. So können wir auf jeden Gegner individuell reagieren.
SPOX: Steht Dahoud mit Ihnen auf der Doppelsechs, sind Sie etwas defensiver ausgerichtet, mit Strobl aber offensiver. Fällt Ihnen letzteres schwerer?
Kramer: Ich glaube, diese klassischen Rollenverteilungen gibt es heute gar nicht mehr - eigentlich muss jeder alles machen und können. Das ist für mich kein Problem.
SPOX: Spielverlagerung.de analysierte Ihre Spielweise vor einigen Jahren sehr detailliert und erkannte dabei das Vermeiden der 'Netzer-Zone'. Haben Sie davon schon mal etwas gehört?
Kramer: Netzer-Zone? Nein, ehrlich gesagt nicht.
SPOX: Dabei handelt es sich um den Bereich direkt im Mittelkreis und knapp dahinter, in dem sich die lauffaulen Spielmacher früher meist aufhielten. Sie hingegen meiden diesen Bereich fast komplett, suchen und erlaufen eher die Räume drum herum.
Kramer: Da ist auf jeden Fall etwas dran, auch wenn ich während des Spiels kaum darüber nachdenke. Es sind vielmehr intuitive Entscheidungen. Die meisten Gegner stehen gegen uns sehr kompakt und tief und machen die Mitte konsequent zu. Deshalb sind diese klassischen Spielmacher-Räume nur sehr schwer zu bespielen und für die Defensive einfach zu greifen. Dafür tun sich dann woanders Räume auf. Man muss instinktiv herausfinden, wo der Gegner verwundbar ist. Gegen Bern bin ich zum Beispiel sehr oft über die linke defensive Seite gekommen. Dort waren die Young Boys nicht gut eingestellt und haben immer wieder viel Platz geboten. Das habe ich so lange durchgezogen, bis sie das Problem erkannt und umgestellt haben. Dann heißt es: Weitersuchen und die nächste Schwachstelle finden.
SPOX: Zu Beginn Ihrer Karriere führten Sie Buch über jedes Ihrer Spiele. Was haben Sie genau notiert und sind Sie bis heute dabei geblieben?
Kramer: Ja, das mache ich immer noch. Es sind kleine Zusammenfassungen. Ich notiere besondere Ereignisse, wie ich mich in bestimmten Momenten gefühlt und wie ich sie erlebt habe.
SPOX: Wie sind die auf die Idee gekommen?
Kramer: Mein B-Jugend-Trainer hat mich damals darauf gebracht. Er sagt, diese Notizen seien schöne Erinnerungen im Alter.
SPOX: Und da kommen Sie trotz der Dreifachbelastung, Testspielen und der Nationalmannschaft noch hinterher?
Kramer: Ich schreibe ja keine Zwei-Seiter, meist sind es nur ein paar Sätze. Das schaffe ich schon noch.
SPOX: Nach der WM sprachen Sie über den Gedanken, ein ganzes Buch zu schreiben. Konnten Sie diesen seitdem vorantreiben?
Kramer: Dazu bin ich bisher noch nicht gekommen, das ist auch eher Zukunftsmusik. Ich habe einfach Lust darauf, das zu machen, bin mir aber nicht sicher, ob ich dafür qualifiziert genug bin. (lacht) Aber darüber mache ich mir Gedanken, wenn es irgendwann mal soweit ist.
SPOX: In Ihrer Freizeit schauen Sie sich Ihre vergangenen Spiele oftmals in voller Länge an und analysieren, wie Sie sich in manchen Situationen hätten anders oder besser verhalten können. Machen Sie das auch bei anderen Spielern und versuchen, davon zu lernen?
Kramer: Das nicht direkt. Natürlich lernt man im täglichen Training immer etwas dazu, gerade wenn man einen Spieler intensiver beobachtet. Es macht aber keinen Sinn, mir anzugucken, wie Raffael seine Gegenspieler ausdribbelt. Das ist zwar schön anzusehen und das finde ich auch gut, aber das kriege ich ja im Leben nicht hin.
SPOX: Nach der CL-Auslosung im letzten Jahr sagten Sie, eine schwerere Gruppe könne Gladbach wohl kaum noch erwischen. Ziehen Sie die Aussage heute zurück?
Kramer: Das muss ich wohl. (lacht) Wir haben das Finale schon in der Gruppe, zumindest ist es nicht unwahrscheinlich, dass City und Barcelona letztlich im Endspiel stehen werden. Das ist für uns aber viel mehr Ansporn als Grund für Trübsal. Wenn man sich für die Champions League qualifiziert, will man nicht in Molde auf Kunstrasen spielen, sondern im Camp Nou, einem der tollsten Stadien Europas. Wir wollen uns mit den Besten messen und sind ehrgeizig. Auch wenn wir uns jetzt nicht hinstellen und sagen, dass wir die Gruppe auf jeden Fall gewinnen wollen. Klar ist aber: Wir fahren da nicht hin, um uns die Stadien anzugucken und die Hymne zu hören.
SPOX: Pep Guardiola äußerte vor kurzem, dass Gladbach ihm große Sorgen bereite. Fühlt man sich bei einer solchen Aussage geehrt oder unterstellt man eher Understatement?
Kramer: Pep Guardiola ist bekannt dafür, den nächsten Gegner oder dessen Spieler schon mal in den Himmel zu loben. Ich denke, wir sind gut beraten, nicht zu viel darauf zu geben. Guardiola hat sicher Respekt vor uns und weiß, dass wir eine gute Mannschaft sind, er hat aber auch schon ganz andere Teams im Vorfeld einer solchen Partie hervorgehoben.
SPOX: Manchester City hat im Sommer fast 200 Millionen Euro ausgegeben, bei Barcelona spielen einige der besten Spieler der Welt. Wie kann man da als vermeintlich kleiner Verein wie Gladbach, der keinen Investor hat und ausschließlich nachhaltig wirtschaftet, mithalten?
Kramer: Natürlich sind wir nicht in der Lage, die Gehälter und Ablösesummen zu bezahlen, die bei solchen Mannschaften aufgerufen werden. Letztlich stehen bei Barcelona und Manchester City aber auch nur elf Mann auf dem Platz, da kommt es nicht mehr auf das große Geld oder den krassen Konsum an. Wenn man viel Geld hat, ist es legitim, das auch auszugeben. Ob das fair oder unfair ist, spielt überhaupt keine Rolle. Welchen Weg er einschlagen möchte, muss jeder Spieler selber wissen. Ich bin lieber Spieler von Gladbach als von City.
SPOX: Stirbt das, was man gemeinhin als Fußballromantik bezeichnet, im Zuge dieser Entwicklung aus?
Kramer: Das sehe ich vollkommen anders. Wenn ich an unser Spiel in Bern denke oder den erneuten Führungstreffer gegen Leverkusen in der 86. Minute, als das ganze Stadion Kopf gestanden hat - das ist Fußballromantik pur. Da juckt es keinen, wer wo wieviel verdient oder wohin wechselt. Auf dem Platz ist auf dem Platz und Fan ist Fan.
SPOX: Sie stimmen aber zu, dass sich der Fußball extrem verändert hat in den letzten fünf Jahren?
Kramer: Da haben Sie Recht. Aber das ist doch völlig normal, alles ist im Wandel. Meine Eltern haben sich damals auch nicht über Tinder oder Facebook kennengelernt, da ging die Romantik ebenfalls ein Stück weit verloren. Warum sollte der Fußball da eine Ausnahme sein? Inwiefern das gut oder schlecht ist, wird die Zeit zeigen.
SPOX: Sie gelten als reiselustiger Mensch, müssen darauf aufgrund Ihres Jobs aber meist verzichten. Haben Sie manchmal Angst, etwas zu verpassen?
Kramer: Es ist immer leicht zu sagen, was man vermisst und was man gerne machen würde. Ich habe aber nicht das Gefühl, irgendetwas zu verpassen und besinne mich viel mehr darauf, was ich habe. Viele Menschen würden mich sicher dafür beneiden, professionell Fußball spielen zu können. Und zu der einen oder anderen Reise werde ich bestimmt auch nach meiner Karriere noch kommen.
SPOX: Dafür haben Sie schon in vielen Städten gespielt, waren oft ausgeliehen und trugen seit 2006 nie länger als zwei Jahre das Trikot eines Vereins. spox
Kramer: Ich hatte trotz meiner vielen Leihen nie das Gefühl, irgendwo nicht angekommen zu sein. Im Gegenteil, ich war immer sehr willkommen und wurde gut aufgenommen. Mit dem Verein, der dich verleiht, hast du während dieser Zeit fast nichts zu tun. Auch wenn meine Vita bisher anders aussieht, bin ich eigentlich nicht der Typ, der viel wechseln möchte und bin froh, das jetzt bei Gladbach auch zeigen zu können.
SPOX: Dann haben Sie also auf eine Ausstiegsklausel im Vertrag verzichtet?
Kramer: Das weiß ich gar nicht, da müsste ich nochmal in den Vertrag schauen. (lacht)
SPOX: Welche Ziele haben Sie sich für die aktuelle Saison gesetzt?
Kramer: Wir sind sehr ehrgeizig und wollen das Maximum erreichen. Gerade deshalb finde ich es in diesen schnelllebigen Zeiten angenehm, wirklich von Spiel zu Spiel zu denken und das nicht nur als künstliche Marschroute vorzugeben. Wir dürfen uns keine Schwächephase erlauben, dann ist sicher einiges für uns drin.
SPOX: Sie wurden im Sommer nicht für den EM-Kader der deutschen Nationalmannschaft nominiert. Haben Sie mit einem weinenden Auge nach Frankreich geschaut?
Kramer: Diese Angst hatte ich im Vorfeld ehrlich gesagt schon. Als es dann aber losging, habe ich die Spiele ganz normal und wie früher als Deutschland-Fan verfolgt. Das soll nicht heißen, dass ich keine Ambitionen und Ziele im Zusammenhang mit der Nationalmannschaft habe. Ich denke aber, dass ich gut daran tue, bei Borussia konstant meine Leistungen zu zeigen. Alles andere kommt dann von alleine.
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