Sechs Wochen 6. Liga, WM-Triumph mit 20, Ancelotti erinnert er an eine Legende: Das ist One-Touch-Knipser Calvert-Lewin

Lucas Neumann
16. Oktober 202015:14
Dominic Calvert-Lewin (M.) bietet mit Everton eine der gefährlichsten Offensiven in der Premier League auf.imago images / PA Images
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Dominic Calvert-Lewin trifft unter Carlo Ancelotti beim FC Everton wie am Fließband. Sogar der Trainer-Veteran fühlt sich in vergangene Zeiten zurückversetzt.

"Ich hatte mit Inzaghi einen fantastischen Stürmer, der 300 Tore erzielte und 210 davon mit dem ersten Kontakt", schwelgte Evertons Trainer Carlo Ancelotti unmittelbar nach dem 5:2-Sieg gegen West Brom vor wenigen Wochen in Erinnerungen.

Immer am Rande der Abseitsposition, aber stets richtig positioniert, um den Ball über die Linie zu drücken - "Pippo" erlangte seinerzeit unter der Ägide Ancelottis aufgrund seines einzigartigen Positionsspiels sowie seiner perfekten Strafraumbeherrschung Kultstatus und gilt bis heute als einer der herausragendsten Knipser der vergangenen Jahrzehnte.

Dass sich Ancelotti nach der Partie gegen West Brom ausgerechnet an die Milan-Ikone zurückerinnert fühlte, ging auf die Leistung seines Mittelstürmers zurück. Dominic Calvert-Lewin hatte gegen die Baggies - quasi in Inzaghi-Manier - drei Tore mit der ersten Ballberührung erzielt und ging zugleich als jüngster englischer Hattrick-Schütze Evertons in die Vereinsgeschichte ein. Mittlerweile steht der 23-Jährige mit sechs One-Touch-Buden an der Spitze der Torjägerliste, erhielt von der Premier League die Auszeichnung zum Spieler des Monats September und erzielte bei seinem England-Debüt bereits nach 26 Minuten seinen ersten Treffer im Dienste der Three Lions.

"Ein Stürmer muss im Strafraum fokussiert bleiben. Calvert-Lewin versteht und verinnerlicht das sehr gut. Er hat Geschwindigkeit, Sprungkraft und ist physisch stark. Nun hat er auch noch sein Verhalten im Strafraum enorm verbessert", so Ancelotti, der Calvert-Lewin nach langer Anlaufzeit bei den Toffees in die Weltspitze hieven will.

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Dominic Calvert-Lewin: Legende bei einem Sechstligist

Calvert-Lewin stammt ursprünglich aus dem rund 150 Kilometer östlich von Liverpool gelegenen Sheffield. Nahe der Bramall Lane, Spielstätte seines Heimatklubs Sheffield United, durchlief er seit dem achten Lebensjahr die Nachwuchsabteilung der Blades. In jungen Jahren fand sich der großgewachsene Calvert-Lewin meist noch im Mittelfeld wieder, wie sich sein ehemaliger Trainer Keith Briggs im Gespräch mit SPOX und Goal und erinnert: "Er war eigentlich ein Box-to-Box-Spieler. Trotzdem hatte er schon immer ein Auge für das Tor, eine gute Technik und war sehr athletisch. Deshalb wurde er zunehmend in der Sturmspitze ausprobiert."

Mit 17 Jahren erlangte Calvert-Lewin erstmals größere Aufmerksamkeit, als er ein paar Wochen beim von Briggs trainierten Sechstligisten Stalybridge Celtic FC aushalf, in vier Spielen an acht Toren direkt beteiligt war und kurzerhand zum Lokalhelden avancierte. "Er gab dem ganzen Verein einen Schub und letztlich konnten wir die Klasse halten. Er ist so etwas wie eine Stalybridge-Legende geworden, obwohl er nur sechs Wochen hier war", sagte Briggs damals im Interview mit The Athletic.

Calvert-Lewins Leistungen blieben auch in der Heimat nicht unbemerkt und so feierte er wenige Wochen nach der Rückkehr sein Profidebüt für den damaligen Drittligisten Sheffield United. Es folgten weitere Fleißpunkte bei der Leihstation Northampton Town, ehe sich ein alter Bekannter hartnäckig um die Dienste des Angreifers bemühte.

Calvert-Lewin: Everton-Transfer & Lobeshymnen von Rooney

David Unsworth, der Calvert-Lewin noch aus seiner Zeit als Spieler in Sheffield bestens kannte, setzte nach seiner Anstellung als U23-Trainer Evertons alle Hebel in Bewegung, um den Stürmer nach Liverpool zu lotsen. "Als ich hier anfing, wusste ich sofort, dass ich ihn holen will. Dominic war technisch herausragend, stark in der Luft und ein guter Athlet. Diese drei Merkmale machten ihn so attraktiv", sagte Unsworth gegenüber The Athletic . Im Sommer 2016 wechselte Calvert-Lewin schließlich für eine Ablöse von 1,6 Millionen Euro von Sheffield United zum FC Everton. "Das war eine Chance, die ich nicht ausschlagen konnte", sagte der damals 19-Jährige im Gespräch mit The Star.

Während die erste Saison bei Everton mit vereinzelten Kurzeinsätzen in der Premier League gemächlich begann, folgte der größte Höhepunkt seiner bisherigen Karriere im Sommer 2017, als Calvert-Lewin die englische U20-Nationalmannschaft zum WM-Triumph schoss. "Für dein Land zu spielen und diesen WM-Titel zu gewinnen - davon träumt man als kleiner Junge", freute sich der 1:0-Siegtorschütze im Finale gegen Venezuela anschließend.

Mit dem WM-Titel im Gepäck etablierte sich Calvert-Lewin in der Folge zunehmend im engeren Mannschaftskreis der Toffees - auch dank des im Juni 2017 zurückgekehrten Altmeisters Wayne Rooney, der die Qualitäten des Youngsters regelmäßig hervorhob. "Dominic hat enorm viele Fähigkeiten. Wenn er sich auf diese Weise und in dieser Geschwindigkeit weiterentwickelt, ist er nicht nur die Zukunft, sondern bereits die Gegenwart. Wir zählen auf ihn", sagte Rooney vor Saisonbeginn 2017/18 im Interview mit dem Liverpool Echo.

Zwar sammelte Calvert-Lewin in der Folge vermehrt Spielpraxis in der Premier League, doch das Entscheidende ging ihm noch ab: Die Kaltschnäuzigkeit vor dem Tor. Zehn Tore in 62 Premier-League-Einsätzen in den Spielzeiten 17/18 und 18/19 sind für die Ansprüche eines Mittelstürmers in der höchsten englischen Spielklasse - trotz Welpenschutz - schlicht zu wenig.

Carlo Ancelotti treibt Calvert-Lewins Entwicklung voran

Laut BT-Sport -Experte Owen Hargreaves sei die magere Torausbeute vor allem darauf zurückzuführen, dass sich Calvert-Lewin aus Übereifer oft zu tief fallen ließ: "Er war fast schon zu uneigennützig, weil er seine Mitspieler immer mit Läufen unterstützen wollte." Das habe sich jedoch mit der Ankunft Ancelottis im Dezember 2019 schlagartig geändert: "Jetzt kann er im Strafraum bleiben und sich voll auf seine Aufgaben als Mittelstürmer konzentrieren. Zudem hat er ein Bewusstsein dafür entwickelt, stets an der richtigen Stelle zu sein - das ist hervorragend."

Als Ancelotti das Traineramt übernahm, sprach er sich direkt gegen einen Neuzugang im Sturmzentrum aus und betonte, dass sich sein Wunschstürmer bereits im Kader befinde. "Er ist ein fantastischer Stürmer - fantastisch mit dem Kopf, clever in der Box und scharfsinnig." In Ancelottis 4-4-2-System agierte Calvert-Lewin zunächst vorwiegend neben dem umtriebigen Richarlison, der immer wieder Räume aufriss und den 1,87 Meter großen Stürmer zur Entfaltung kommen ließ.

Das Ergebnis nach Saisonende: 13 Tore in der Premier League, neun davon mit dem ersten Kontakt, die zweitmeisten Kopfballtore der Liga (4) und mit 180 gewonnenen Luftzweikämpfen beinahe so viele wie Liverpool-Koloss Virgil van Dijk (191).

Calvert-Lewin schießt Everton an die Tabellenspitze

Zum Saisonbeginn 2020/21 hat Ancelotti seine bevorzugte Formation angepasst und stellt mittlerweile im 4-3-3 auf, was einerseits auf die drei Neuzugänge zurückzuführen ist, gleichermaßen aber auch Calvert-Lewin als einzigem nominellen Stürmer noch mehr Autorität in der Box zugestehen soll. Im Mittelfeld setzt Ancelotti neben Andre Gomes auf die beiden neuen Dauerbrenner Allan (von Napoli) und Abdoulaye Doucoure (von Watford), die die nötige Aggressivität und Zweikampfstärke mitbringen, um den Freigeistern Richarlison und James Rodriguez (kam von Real Madrid) wiederum mehr Raum zur Entfaltung zu gewährleisten.

Letzterer agiert vorwiegend auf dem rechten Flügel, lässt sich aber regelmäßig ins Zentrum fallen, um entweder selbst abzuschließen oder um Richarlison und Calvert-Lewin wahlweise per Schnittstellenpass oder Chipball zu füttern. So entstand beispielsweise das zwischenzeitliche 3:2 gegen West Brom, als James den Ball aus dem Halbfeld geschmeidig in den Sechzehner lupfte, Richarlison querlegte und Calvert-Lewin nur noch einschieben musste.

"Carlo Ancelotti kümmert sich jeden Tag darum, dass ich die One-Touch-Abschlüsse optimiere und in der Box stets in den richtigen Räumen bin", sagte Calvert-Lewin nach seinem Dreierpack. Auch dank der Kaltschnäuzigkeit des Stürmers steht Everton nach vier Spielen an der Spitze der Premier League. Calvert-Lewin erhielt dabei in drei Partien den Man of the Match Award und führt nun mit sechs Toren - alle mit der ersten Ballberührung erzielt - die Torjägerliste an (gleichauf mit Heung-Min Son). Zudem wurde er im September von der Premier League zum Spieler des Monats gekürt.

Premier League: Die besten Torschützen der aktuellen Saison

SpielerVereinEinsätzeTore
Dominic Calvert-LewinFC Everton46
Heung-min SonTottenham Hotspur46
Jamie VardyLeicester City45
Mohamed SalahFC Liverpool45
Neal MaupayBrighton & Hove Albion44
Callum WilsonNewcastle United44

Ancelotti überzeugt: "Calvert-Lewin wird zu den Besten zählen"

Dass Ancelotti Calvert-Lewin nach dessen Hattrick gegen West Brom im gleichen Atemzug mit Inzaghi nannte, wird natürlich keinem der Beteiligten gerecht. Die Botschaft dahinter scheint jedoch einleuchtend: Der 61-Jährige sieht in Calvert-Lewin das Potenzial einer Tormaschine, die gefühlt den Großteil des Spiels im Abseits verweilt, um dann durch clevere Läufe zwischen den gegnerischen Verteidigern aufzutauchen und unverzüglich zum Abschluss zu kommen - ohne Dribbling, ohne Drehung, ohne Schnörkel.

"Ich habe mir ein 15-minütiges Youtube-Video seiner Tore angeschaut", sagte Calvert Lewin, nachdem Ancelotti ihn mit Inzaghi in Verbindung gebracht hatte: "Die meisten Treffer sind One-Touch-Abschlüsse und er hat einen großartigen Bewegungsablauf. Diese Analogie von Carlo hatte aber nicht zu bedeuten, dass ich eine Kopie von Pippo Inzaghi bin oder werden soll. Es geht lediglich darum, dass ich Elemente seines Spiels übernehme und in die richtigen Bereiche gelange, um zu treffen."

Fernab jeglicher Vergleiche mit der Milan-Ikone sind die Qualitäten Calvert-Lewins jedenfalls unbestritten. Bei seinem Debüt für die Three Lions gegen Wales traf der Stürmer prompt zur Führung - natürlich mit dem ersten Kontakt. Manchester United klopfte zuletzt bereits bezüglich eines Transfers an. Calvert-Lewins Kontrakt wurde jedoch erst kürzlich bis 2025 verlängert und Everton verdeutlichte gegenüber möglichen Interessenten, dass man unter der Schmerzgrenze von 80 Millionen Pfund ohnehin nicht gesprächsbereit sei.

"Er bringt alle Qualitäten mit, um ein erstklassiger Stürmer zu werden. Ich denke, er wird künftig zu den Besten in England und Europa zählen", schwärmte Ancelotti bereits kurz nach seiner Amtsübernahme. Aktuell befindet sich Calvert-Lewin - auch dank des Trainer-Veterans - auf bestem Wege dorthin.