Der mühsame Sieg über Schottland in der EM-Qualifikation macht klar, dass die deutsche Mannschaft auf dem Weg zu einer neuen Ausrichtung noch Zeit braucht. Joachim Löw will deshalb in den kommenden zwei Jahren bis zur Endrunde in Frankreich auch die Pflichtspiele zu Testzwecken nutzen.
Marco Reus kam aus den Katakomben des Dortmunder Stadions, die schwarze Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen, mit einem seltsam gepunkteten schwarz-weißen Rucksack auf dem Rücken und dem obligatorischen Handy am Ohr. Sein linker Knöchel war bandagiert.
Ein hartes Foulspiel des Schotten Charlie Mulgrew erinnerte die meisten Beobachter an jenen verhängnisvollen Zwischenfall im Juni, als sich Reus einen Tag vor der Abreise der Nationalmannschaft zur WM so schwer verletzte, dass er das Endturnier absagen musste.
Nun steht in den nächsten knapp zwei Jahren kein Großereignis an. Trotzdem war die Befindlichkeit des Dortmunder Offensivspielers eines der großen Themen nach dem Auftaktsieg der deutschen Nationalmannschaft im Rahmen der EM-Qualifikationsrunde gegen Schottland.
Zittern um Reus
Mit einem Mini-Van wurde Reus aus dem Stadion gefahren, belagert von zahlreichen Kamerateams und Reportern. Sagen wollte aber weder der Spieler, noch Teamarzt Hans-Wilhelm Müller-Wolhfahrt etwas. Eine Kernspinuntersuchung soll am Montag Aufschluss geben über Reus' Verletzung. Und nicht nur bei Borussia Dortmund halten sie bis dahin den Atem an.
Reus soll nach den Abschieden einiger wichtiger Spieler in Zukunft eine noch prägendere, dominantere Rolle im DFB-Team übernehmen. "Vielleicht ist es doch nicht so schlimm", hoffte deshalb auch Bundestrainer Joachim Löw. Die nächsten Partien der Nationalmannschaft stehen bereits in etwas mehr als einem Monat an, mit einem Doppel-Spieltag gegen Polen (auswärts) und Irland (in Gelsenkirchen).
"Nicht jeden einfach so weghauen"
An der erfolgreichen Qualifikation für das Endturnier dürften kaum ernsthafte Zweifel bestehen. Aber Löw muss neben den nötigen Ergebnissen ja auch noch eine neue Mannschaft entwickeln. Und da verzögert jeder weitere Ausfall eines Schlüsselspielers die Findungsphase noch ein Stückchen mehr.
So blieb an einem unterhaltsamen Abend neben dem positiven Ergebnis die Erkenntnis hängen, dass noch jede Menge Arbeit vor dem Bundestrainer und der Mannschaft liegt. "Das muss jedem klar sein, dass wir jetzt nicht jeden Gegner einfach so 5:0 weghauen", sagte Lukas Podolski. Schon gar nicht, wenn die Mannschaft so unaufmerksam agiert wie in Phasen der zweiten Halbzeit gegen die Schotten.
Bekannte und angekündigte Probleme
Da traten einige alt bekannte Probleme auf, besonders auffällig waren die Schwierigkeiten im defensiven Umschalten. Nach zwei Wechseln stellten die Schotten auf eine Art 4-3-3-System um und marschierten mit zwei, drei simplen Pässen zu oft durch die deutschen Reihen. Nicht nur beim Gegentor durch Ikechi Anya wurde die deutsche Mannschaft überrumpelt.
"In dieser Phase haben wir etwas die Kontrolle verloren", urteilte Löw später noch verhältnismäßig milde. "Da hat man schon gemerkt, wie kraftraubend die WM war. Bei den nächsten Spielen im Oktober werden meine Spieler besser im Rhythmus sein."
Da auch das Gegenpressing nach Ballverlusten nicht gut oder zu hastig und unkoordiniert umgesetzt wurde, die Spielverlagerungen aus dem zentralen Mittelfeld zu ungenau gespielt wurden und einige Spieler noch nicht bei einhundert Prozent ihrer Leistungsfähigkeit sind, bekam die deutsche Mannschaft gegen die Schotten durchaus Probleme.
Überraschung mit Rudy
In der Qualifikation wird Löw wie angekündigt das WM-Modell mit vier gelernten Innenverteidigern in der Viererkette wieder zu den Akten legen. Dafür sind die Gegner offensiv nicht stark genug - und gegen eher defensiv eingestellte Teams ist mehr Druck durch technisch versierte Spieler über die Flügel Pflicht. Die Defensivqualitäten der Protagonisten stehen da zunächst eher im Hintergrund.
Dass Löw aber auf Sebastian Rudy setzte und Kevin Großkreutz in dessen Stadion 90 Minuten auf der Bank schmoren ließ, überraschte dennoch. Im Vorfeld hatte er noch den Stuttgarter Innenverteidiger Antonio Rüdiger als Alternative ins Spiel gebracht.
Bei allem Respekt vor den ein Jahr ungeschlagenen Schotten ließ es sich Löw nicht nehmen, in einem Pflichtspiel auch weiter zu testen. Selbst die Nominierung von Erik Durm auf der linken Abwehrseite darf als weiterer Testlauf durchgehen. "Es sind diese Spieler, die sich jetzt über einen längeren Zeitraum beweisen und Erfahrungen sammeln können", sagte Löw. "Wir werden diese Spieler in den nächsten zwei Jahren bis zur EM begleiten und formen."
Reaktionen auf den Einschnitt
Löw kommt der Qualifikationsmodus - neben den Gruppensiegern sind auch die Zweiten und sogar noch fünf Gruppendritte für die Endrunde qualifiziert - und die überschaubare Qualität der Gegner in seinem Vorhaben durchaus zugute. Der Bundestrainer hat nach der rasanten Entwicklung seiner Mannschaft seit der WM 2006 im eigenen Land "einen Einschnitt" ausgemacht.
"Die Mannschaft kann jetzt noch nicht so mit der Selbstverständlichkeit spielen wie in Brasilien. Es wird einige Umstellungen in der Mannschaft geben, wir werden nicht mit einem eingespielten Team durch die Qualifikation laufen."
Zweifel an der Pflichterfüllung machte aber auch der etwas holprige Abend von Dortmund nicht. "Wenn wir unsere Qualitäten ausspielen, dann hat es jede Mannschaft der Welt schwer gegen uns, dann werden wir uns auch in dieser Gruppe durchsetzen", sagte Andre Schürrle. Bei Gegner wie Schottland (Nummer 28 der Welt), Polen (Nummer 61), Irland (Nummer 66), Georgien (Nummer 95), sowie dem Neuling Gibralter keine allzu kühne Prognose.
Auf Müller ist Verlass
Und wenn es dann an der Feinabstimmung und körperlicher wie geistiger Frische etwas mangelt, kann sich die Mannschaft zur Not ja noch auf ihre überragenden individuellen Fähigkeiten verlassen. Thomas Müller erzielte zwei eher untypische Tore, eins nach einer Flanke aus dem Halbfeld, das andere per Abstauber aus dem Gewühl heraus. Auf Müller ist eben Verlass.
Seit Anfang 2013 hat der Münchener nun in 20 Länderspielen 14 Tore erzielt, dazu acht Assists beigesteuert. Auch wegen Müller wurde die Serie ausgebaut: In den letzten 21 Spielen einer EM- oder WM-Qualifikation gab es nun 20 Siege. Lediglich das monumentale 4:4 gegen die Schweden vor zwei Jahren bildet da eine Ausnahme.
Der Doppel-Torschütze sah sich in seiner Ankündigung bestätigt, dass der Start in die Länderspiel-Saison durchaus wackelig werden könnte. Müller: "Ich habe das im Vorfeld nicht aus Spaß gesagt, dass es eng werden würde. Die Schotten haben nach dem Trainerwechsel noch kein Spiel verloren, sie sind sehr geordnet. Wir waren in der zweiten Halbzeit nicht ganz so souverän, wie wir uns das vorgestellt haben. Da wurde es halt etwas eng. Aber ich kann gut damit leben."
"Er ist eine Maschine"
Die deutschen Spieler wollten sich nach dem Arbeitssieg selbst nicht zu überschwänglich loben, dafür sind ihre Ansprüche dann doch andere. Also formulierte der Gegner, der ja selbst eine richtig ordentliche Partie angeliefert hatte, die Elogen. Schottlands Trainer Gordon Strachan hob die Qualität der deutschen Mannschaft hervor und wie übermächtig der Gegner in bestimmten Phasen des Spiels sein konnte.
So richtig ins Schwärmen geriet er dann bei der Beurteilung von Matchwinner Müller. "Wenn du einen Spieler hast wie Müller, der 2,50 Meter hoch springen kann, kannst du Gegentore nicht vermeiden", sagte Strachan. "Thomas Müller ist eine Maschine." Und an diesem Abend der Unterschied zwischen dem Weltmeister und einer guten schottischen Mannschaft.
Die deutsche Mannschaft in der Übersicht