Das Termin-Chaos und die Folgen: Der erweiterte EM-Kader bietet Platz für Überraschungen, weil die Bayern- und Dortmund-Spieler verspätet in die Vorbereitung einsteigen. Jürgen Klinsmann hatte bei der WM 2006 mit David Odonkors Berufung erstaunt und Recht behalten. Aber wer hat es dieses Jahr verdient, von Bundestrainer Jogi Löw berücksichtigt zu werden (Mo., 12.30 Uhr im LIVE-TICKER)?
Tor
Marc-Andre ter Stegen (20, Mönchengladbach): Die Verheißung auf den perfekten Torwart: Erinnert vom Wesen an Oliver Kahn und verfügt zugleich über die Technik und das Fußball-Verständnis eines Lehmann. Durchlebte in dieser Saison nur eine kurze Schwächephase im März, als er in zwei Spielen in Folge bei Gegentoren unglücklich aussah: In Leverkusen ließ er eine Flanke fallen, gegen Hoffenheim ging ihm bei einer Ecke das rechte Timing ab. Ansonsten fast schon erschreckend seine extrem stabilen Leistungen bereits in Teenager-Jahren. Was für eine Nominierung spricht: Hannovers Zieler, Deutschlands bisherige Nummer drei, zeigt sich wesentlich anfälliger für Fehler. Ter Stegen sagt: "Ich warte einfach ab, was passiert."
Bernd Leno (20, Leverkusen): Ter Stegens ewiger Rivale. Sind beide der gleiche Jahrgang, entsprechend wetteifern sie beim DFB von der U 17 bis heute zur U 21 um die Rolle der Nummer eins. Der Unterlegene heißt seit jeher: Leno. Zur EM könnten beide nur nominiert werden, wenn Löw keinen Bedarf an einen erfahrenen Backup für Neuer sehen und Wiese aussortieren sollte - was höchst unwahrscheinlich ist. Dennoch sind Lenos Leistungen bemerkenswert: In seinen ersten 15 Profi-Einsätzen war er der Inbegriff des perfekten Torwartspiels, bis er in Valencia erstmals patzte. Davon und von den Unruhen im Verein blieb er aber unbeeindruckt und hielt ähnlich grandios wie ter Stegen.
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Innenverteidigung
Jan Kirchhoff (21, Mainz): Als Stammspieler der U 21 ohnehin im Blickfeld des Bundestrainers. Ihm fehlt noch die Beständigkeit eines Hummels und Badstubers, doch von den technischen und strategischen Fähigkeiten bewegt er sich bereits auf dem Level der beiden. Auffällig seine Kopfballstärke - aber auch die Neigung, gelegentlich zu unachtsam oder sorglos zu sein. Chance für eine Nominierung, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Mertesacker fehlt und Höwedes wird rechts benötigt. Denn dann wäre der vierte Innenverteidiger-Posten hinter Hummels, Badstuber und Boateng vakant. Plus für Kirchhoff: Ohne sich anpassen zu müssen, spielt er im defensiven Mittelfeld ähnlich stark, er selbst sieht sich dort sogar stärker.
Philipp Wollscheid (23, Nürnberg): Mit 19 bei einem Dorfverein, mit 20 vom Regionalligisten Saarbrücken aussortiert - aber mit 23 bei der EM? Fällt mit seiner unaufgeregten Spielweise selten auf, könnte dadurch eine gute Ergänzung sein zu den offensiv veranlagten Hummels und Badstuber oder dem zu Hibbeligkeit neigenden Boateng. Wollscheids Markenzeichen: das herausragende Kopfballspiel. Leverkusen sieht in Wollscheid bereits den nächsten Nationalspieler und verpflichtete ihn für eine Ablöse zwischen fünf und sieben Millionen Euro.
Außenverteidigung
Tony Jantschke (22, Mönchengladbach): Ein deutsches Talent, das beim Überraschungsteam der Saison zu den Leistungsträgern gehört und dennoch kaum beachtet wird. Jantschke spielt im positiven Sinne bieder. Seine Devise heißt Fehlerminimierung, entsprechend sichert er bevorzugt seine Seite ab, statt sich an der Offensive zu beteiligen (nur 2 Scorer-Punkte). In Zeiten der Rechtsverteidiger-Armut könnte dies für eine Nominierung genügen.
Marcel Schäfer (27, Wolfsburg): Stand jetzt plant Löw mit Lahm auf der linken Seite, obwohl dieser beim FC Bayern die Seiten wechselte und sich dort als wertvoller erweist. Im Falle eines Umdenkens bei Löw würde ein Kaderplatz für einen Linksverteidiger neben Schmelzer frei werden. Aogo ist ein Kandidat, obwohl er sich selbst mit einer miserablen Saison disqualifizierte. Denkbar auch, dass Schäfer zum Comeback eingeladen wird. Just als ihm VfL-Coach Magath die Kapitänsbinde abnahm und ihn an Träsch weiterreichte, verschlechterte dieser sich zusehends, während Schäfer befreit von der Bürde aufspielte. Sein Plus: In der Rückrunde wurde er auch als Linksaußen und als Sechser eingesetzt und gefiel gleichfalls. Bemerkenswert sind weiterhin die Standards.
Christian Pander (28, Hannover): Die Blaupause zu Schäfer: Kann die Position hinten links und vorne links ähnlich gut besetzen und schießt gefährliche Standards. Legte in Hannover die Verletzungsanfälligkeit aus Schalker Zeiten ab und spielte die erste Saison seiner Karriere ohne nennenswerte Pause durch. In Erinnerung bleibt vor allem das 4:2 gegen Stuttgart (1 Tor, 2 Assists).
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Defensives Mittelfeld
Ilkay Gündogan (21, Dortmund): Wandelte sich vom Transfer-Flop zum X-Faktor im Titelkampf: Profitierte vom körperlichen Tief des zuvor unumstrittenen Sven Bender und nahm ab dem 26. Spieltag einen Stammplatz ein. Entspricht Löws Idealtypus eines Sechser/Achters, wobei Gündogan seine Position anders versteht als BVB-Vorgänger Sahin: Er ist weniger Stratege denn Antreiber mit Drang zum Tor.
Lewis Holtby (21, Schalke): Sieht sich selbst als Zehner, in dieser Saison jedoch wurde er in die Sechser-Rolle zurückgezogen, weil er in offensiver Position abkömmlich war und er an Reife dazugewinnen sollte.
Ein sinnvolles Unterfangen: Angeleitet von Nebenmann Jones lernte Holtby, robuster zu sein und aus der Tiefe das Spiel zu lenken. Darf wegen seiner Vielseitigkeit trotz des großen Andrangs (Schweinsteiger, Khedira, Kroos, Bender-Zwillinge, Rolfes, Gündogan, Neustädter) auf eine Nominierung hoffen.
Roman Neustädter (24, M'gladbach):Kein Mann des Spektakels, vielmehr ist Neustädter derjenige, der den wenig beachteten ersten Pass zu einem Angriff spielt. Sieht Szenen voraus und positioniert sich vorbildlich. Außerdem könnte er mit seinen 1,90 Metern und der Kopfballstärke eine Bereicherung sein: nur Khedira und der vermutlich ausgemusterte Rolfes sind im Mittelfeld ähnlich groß.
Offensives Mittelfeld
Julian Draxler (18, Schalke): Seine Entwicklung seit dem Durchbruch Anfang 2011 wird von Löw wohlwollend begleitet. Mit 18 Jahren ist Draxler bereits ein etablierter Bundesliga-Profi und weist mehr Einsätze auf als etwa Götze im gleichen Alter. Hat vor allem bei Schnelligkeit und Robustheit zugelegt, ihm mangelt es lediglich an der letzten Konsequenz (2 Tore und 6 Assists in 30 Bundesliga-Partien).
Patrick Herrmann (21, Mönchengladbach): Zwischen Herbst und Frühling in grandioser Verfassung mit 14 Scorer-Punkten in 12 Spielen. Selbst der ebenfalls herausragende Reus konnte nicht Schritt halten mit dem Rechtsaußen, der von seiner ausgeprägten Schüchternheit abgesehen alles für eine internationale Karriere befähigt. Gegenargument für eine Nominierung: Beendete die sonst außerordentliche Saison in einem Tief: 7 Spiele, 0 Scorer-Punkte.
Daniel Caligiuri (24, Freiburg): Neben Nürnbergs Didavi (9 Scorer-Punkte in den letzten 6 Spielen) einer der heißesten Spieler der Bundesliga und damit ein Geheimtipp für die Nominierung. Nach zwei Saisons im Mittelmaß mit insgesamt 5 Scorer-Punkten glückten ihm alleine in dieser Rückrunde 10 Scorer-Punkte. Imposant vor allem die Vorstellung gegen Köln am vorletzten Spieltag (1 Tor, 2 Vorlagen) - und das vor den Augen des im Stadion sitzenden Löw.
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Sturm
Patrick Helmes (28, Wolfsburg): Welch ein Jahr der Extreme: Nach der Hinrunde wurde Helmes von VfL-Coach Magath zum Wechsel gedrängt und zur Regionalliga-Mannschaft abgeschoben, nach der Rückrunde und 10 Toren aus 10 Spielen wird er ausgerechnet von Magath protegiert: "In so einer Verfassung weiß ich nicht, wie man ihn nicht mitnehmen kann. Aus meiner Sicht führt für Löw kein Weg an Helmes vorbei." Offenbar ist der Budestrainer der gleichen Meinung: Wie die "Bild" berichtet, ist Helmes' Nominierung "fast sicher".
Stefan Kießling (28, Leverkusen): Der Leidtragende einer Vereins im Umbruch: Leverkusen war 2011/12 von einer ständigen Unruhe geprägt, weswegen Kießlings Rückrunde nicht die ihr gebührende Anerkennung erhält: Nur Schalkes Huntelaar (14) erzielte seit der Winterpause mehr Tore als Kießling (13), der so den Beweis antrat, dass die 21-Tore-Saison von 2009/10 nicht dem Zufall geschuldet war. Das Kombinieren wird wohl nie zu Kießlings Stärken gehören, doch kaum ein deutscher Mittelstürmer kämpft mit einer derartigen Selbstllosigkeit für die Mannschaft.
Mike Hanke (28, Mönchengladbach): Löw beruft voraussichtlich neben Gomez und Klose einen dritten Mittelstürmer - und wäre Konstanz der maßgebliche Faktor, müsste der Bundestrainer Hanke berücksichtigen.
Kießling, Helmes und zuletzt der favorisierte Cacau (4 Tore aus 7 Spielen) mögen sich in den vergangenen Wochen angeboten haben, aber keiner von ihnen zeigte über die gesamte Saison durchweg Leistungen wie Hanke. Seine 8 Tore und 4 Vorlagen geben nur ungenügend wieder, welche Bedeutung ihm bei Gladbachs Abschneiden zukam.
Von daher schließt Hanke selbst eine Nominierung nicht gänzlich aus: "Der Urlaub ist gebucht. Aber ich habe eine Reiserücktrittversicherung abgeschlossen."
Tor: Die ewigen Rivalen ter Stegen/Leno