England steht erstmals nach 55 Jahren in einem großen Endspiel. Der historische Erfolg der Three Lions bei dieser EM ist unmittelbar verknüpft mit Trainer Gareth Southgate, dessen Skrupellosigkeit im besten Sinne titelreif ist. Doch England profitiert bei der Euro auch noch von anderen Faktoren, beispielsweise von einem perfekten Hybridstürmer und einer nur auf den ersten Blick unlogischen physischen Überlegenheit. Vier Erkenntnisse zum Finaleinzug.
1. England im Finale: Southgates Skrupellosigkeit ist titelreif
Hätte es noch einen Beweis dafür gebraucht, welches Standing Englands Trainer Gareth Southgate bei seinen Spielern hat, Jack Grealish hätte ihn nach dem Ende der Verlängerung geliefert. Da stand er, inmitten einer englischen Jubeltraube, tanzte, lachte und sang inbrünstig "Sweet Caroline" gemeinsam mit den englischen Fans - ja eigentlich gemeinsam mit einer ganzen Stadt, einem ganzen Land, dem nun das Ende einer 55 Jahre währenden Titelseuche winkt.
Er feierte das große Ganze, obwohl er persönlich auch hätte frustriert sein können. Erstens, weil er im Viertelfinale ohne Einsatzminute blieb, nachdem er zuvor als Joker gegen Deutschland und gegen Tschechien in der Gruppenphase überzeugt hatte. Und dann, weil er gegen Dänemark zwar endlich nach rund 70 Minuten ein- aber bereits in der 106. Minute wieder ausgewechselt wurde - ohne Verletzung oder drohendem Platzverweis. "Höchststrafe", heißt sowas gemeinhin im Fachjargon.
Doch das trifft es in Grealishs Fall eigentlich nicht. Es war vielmehr skrupellos im besten Sinne, was Southgate mit dem Offensivspieler von Aston Villa machte - eine Skrupellosigkeit, die titelreif ist, denn sie ordnet alles und jeden dem Erfolg der Mannschaft unter.
"Wir wussten aus den Spielen davor, dass Dänemark mit vier Stürmern auf uns zukommen wird, wenn sie in Rückstand geraten. Also musste ich einen Extra-Verteidiger bringen, damit wir stabil bleiben", erklärte Southgate. Er habe die Schnelligkeit von Raheem Sterling für Kontergelegenheiten gebraucht, also habe er keine Wahl gehabt.
Pragmatismus vor persönlicher Eitelkeit. Das ist es, was Southgate seinen Spielern sowohl in puncto Mentalität als auch in Sachen Spielstil bei dieser EM eingeimpft hat. Zwar spielt dieser mit Offensivtalenten- und Stars nur so gespickte Kader der Engländer nicht den ansehnlichsten, aber eben einen sehr erfolgreichen Fußball, der fast schon an die deutsche Nationalmannschaft der 1980er oder 1990er erinnert.
gettySouthgate: Grealish? "Alles in Ordnung, er hat es verstanden"
Und die Spieler, von denen Southgate-Kritiker sagen, er solle sie einfach mal von der Leine lassen, vertrauen dem 50-Jährigen. Einige, wie Luke Shaw, John Stones und Harry Kane, weil sie ihn schon als U21-Trainer kennen- und schätzen gelernt haben. Andere Stars in aktuellen Nebenrollen wie Jordan Henderson oder Jadon Sancho möglicherweise deshalb, weil bei Southgate niemand komplett außen vor ist und jeder seine Chance bekommt.
Das liegt auch daran, dass Southgate selbst bei der WM 2002 nicht ein einziges Spiel machte, obwohl er im Kader stand. Von den aktuellen EM-Fahrern bislang ohne Einsatz sind nur die Ersatztorhüter Sam Johnstone und Aaron Ramsdale, Nachrücker Ben White, Conor Coady sowie Ben Chilwell, der zehn Tage in Corona-Quarantäne weilte.
Außerdem hat er seit dem verlorenen WM-Halbfinale 2018 gegen Kroatien in jeder darauf folgenden Partie mindestens einmal seine Startelf geändert. Bedeutet: Er zeigt, dass er Trainingsfleiß honoriert und je nach Gegnerprofil Spieler ab und an auf die Bank müssen, weil ein anderer möglicherweise ein besseres Mismatch für den Gegner darstellt.
In seiner positiv skrupellosen Art als pragmatischer Trainer ist Southgate stringent und glaubhaft, weshalb ihm Grealish die sogenannte "Höchststrafe" sicher nicht übel nehmen wird. "Alles in Ordnung, er hat es verstanden", sagte Southgate und schob hinterher: "Als er auf dem Feld war, war er fantastisch und hat uns das Momentum gegeben."
2. EM 2021: Harry Kane ist der perfekte Hybrid-Stürmer
Zu Beginn der EM stellten viele nicht nur die Spielweise der Three Lions unter Southgate, sondern auch die Form von Topstürmer Harry Kane in Frage. Nur zwei magere Tore erzielte England in der Gruppenphase, beide schoss nicht Kane, sondern Raheem Sterling.
Es sei nicht das erste Mal, dass man ihn in Frage stellt, entgegnete der Spurs-Star auf Nachfragen zu seiner Torflaute: "Es ist noch gar nicht so lange her, da bin ich Torschützenkönig geworden und war der Beste der Welt. Leute ändern ihre Meinung sehr schnell." Außerdem gehe es darum, zur richtigen Zeit in Höchstform zu sein und dies sei eben bei einem solchen Turnier in der K.o.-Phase.
Und ebenda zeigte Kane dann, was er für England ist: der perfekte Hybrid-Stürmer. Einer, der unglaublich mannschaftsdienlich spielt, sich in Zweikämpfen aufreibt, ein hohes Pensum geht (Platz 10 bei gelaufenen Kilometern bei der EM) der nicht zwangsläufig treffen muss, um zu glänzen, sondern auch Tore durch Laufwege und als Bandenspieler initiiert oder gar selbst vorbereitet.
Wie bei Sterlings 1:0 gegen Deutschland im Achtelfinale. Oder gegen Dänemark im Halbfinale, als er erst eine Großchance von Sterling traumhaft vorbereitete und dann in Spielmacher-Manier das 1:1 ebenso traumhaft einleitete. Es war der Weckruf für die Three Lions zum rechten Zeitpunkt, als sich erste Zweifel kurz nach dem ersten Rückstand im Turnierverlauf hätten breitmachen können.
Dass der 27-Jährige dann auch noch in beiden Spielen selbst traf und im Viertelfinale gegen die Ukraine einen Doppelpack schnürte, ließ die letzten Kritiker abermals verstummen. Gemeinsam mit Gary Linecker ist er nun mit zehn Treffern der erfolgreichste englische Stürmer bei EM- und WM-Turnieren. Mehr Ritterschlag geht auf der Insel kaum.
3. England bei der Euro 2021 ohne Abnutzungserscheinungen
Nach dem zwischenzeitlichen Rückstand durch Damsgaards Traumfreistoß legte England offensiv nicht nur eine, sondern gleich mehrere Schippen zu. Zumindest statistisch gesehen war das Halbfinale gegen Danish Dynamite der offensiv dominanteste Auftritt der Three Lions bei dieser EM. 2,82 betrug am Ende der 120 Minuten der xGoals-Wert, mit insgesamt 20 Abschlüssen verdoppelte England außerdem den Wert aus dem Viertelfinale gegen die Ukraine.
Es war unterm Strich also ein durchaus verdienter Sieg, auch wenn er letztendlich glücklich und durch eine umstrittene Elfmeter-Entscheidung zustande gekommen war. Dabei lag das 2:1 der Engländer spätestens nach einer Stunde in der Luft. Das dänische Kollektiv wirkte selbst nach einem Dreifachwechsel in der 67. Minute kollektiv erschöpft. In Andreas Christensen und Thomas Delaney verließen zwei Stammkräfte noch vor der Verlängerung von Krämpfen und Verletzungen geschüttelt den Platz.
Und während sich Dänemark gen Elfmeterschießen zu krampfen versuchte, standen die Hausherren noch voll im Saft, was zunächst recht unlogisch erscheint. Denn bis auf Kieran Trippier (Atletico Madrid), Jadon Sancho und Jude Bellingham (beide Borussia Dortmund) haben alle Spieler in Englands EM-Kader eine lange und fordernde Saison in der Premier League - der physisch anspruchsvollsten Fußball-Liga der Welt ohne Winterpause mit zwei Pokalwettbewerben und 38 Ligaspielen - hinter sich.
Von Abnutzungserscheinungen, die auch schon im ersten Halbfinale zwischen Italien und Spanien zu beobachten waren und nun bei Dänemark sehr offensichtlich wurden, ist bei Southgates Mannschaft aber keine Spur - und das hat dann doch möglicherweise einen recht simplen und logischen Grund.
gettyDas Finale am Sonntag ist für die Three Lions das sechste Spiel bei dieser EM im heimischen Wembley, während Finalgegner Italien schon in Rom, London und München spielte - also immerhin zweimal hin- und herreisen musste. Halbfinal-Gegner Dänemark musste nach drei Heimspielen in Parken nach Baku und Amsterdam.
England musste nur einmal in Rom ran, die Reisestrapazen hielten sich also in Grenzen. In puncto Regenerationsmöglichkeiten sicherlich kein zu vernachlässigender Punkt, gerade wenn die Physis wie im Halbfinale gegen Dänemark letztendlich das Zünglein an der Waage gewesen ist.
So zumindest sah es auch Sterling: "Mit unseren Beinen, unserer Aggressivität und Power wussten wir, dass sie irgendwann zusammenbrechen", sagte der Stürmer von Manchester City. Und genau so kam es dann auch.
4. Kasper Schmeichel ist einer der besten Torhüter der Welt
Geht es im Weltfußball darum, wer aktuell der beste Torhüter der Welt ist, fallen meist die üblichen Namen. Manuel Neuer beispielsweise, der aktuell den Titel "FIFA Welttorhüter" ganz offiziell trägt. Oder Liverpools Alisson Becker, der das im Jahr zuvor war. Oder Jan Oblak von Atletico Madrid. Oder gar Barcas Marc-Andre ter Stegen, der in Lionel Messi einen hochgradig prominenten Fürsprecher in der Debatte hat.
In den seltensten Fällen aber fällt der Name Kasper Schmeichel. Dabei ist der 34-jährige Schlussmann von Leicester City seit einem Jahrzehnt eine absolute Konstante der Foxes, denen er erst kürzlich im FA-Cup-Finale gegen Chelsea mit teils absurden Paraden den ersten Titel seit dem sensationellen Gewinn der Meisterschaft 2016, an dem er ebenfalls maßgeblich beteiligt war, festhielt.
Und auch im Halbfinale gegen England lieferte der Sohn von Manchester-United-Legende Peter Schmeichel eine herausragende Partie ab. Laut dem "Expected Goals on Target"-Modell verhinderte Schmeichel 2,9 Tore. Der höchste Wert eines Torhüters in einem EM-Spiel seit 1980. Eine Großchance von Sterling vereitelte Schmeichel im ersten Durchgang, parierte dann einen Kopfball von Harry Maguire in Weltklasse-Manier, war in der Verlängerung gegen Kane zur Stelle und hielt auch dessen Strafstoß trotz Ablenkungen durch Laserpointer.
"Der Mann des Spiels war eigentlich Schmeichel und das sagt eine Menge aus", erklärte TV-Experte Roy Keane nach dem Spiel. Einem Spiel, in dem der Filius auch ganz offiziell mit dem legendären Vater gleichzog und ihn gar überholte. Mit sieben Paraden im Finale 1992 gegen Deutschland hatte Schmeichel Senior einen EM-Rekord für Dänemark aufgestellt, diesen brach der Junior nun mit neun Paraden gegen die Three Lions.
Dabei hätte gar nicht viel gefehlt und Schmeichel wäre nicht für die dänische, sondern die englische Nationalmannschaft aufgelaufen. Als er 2007 immerhin sieben Premier-League-Spiele für Manchester City bestritt, wurden Stimmen laut, man solle das Talent doch für den englischen Verband gewinnen, schließlich war das Torhüterproblem in England schon damals chronischer Natur.
Ein väterliches Machtwort beendete die Spekulationen jedoch schnell. "Es gibt keine Chance, dass er für England spielt, die Diskussionen müssen jetzt aufhören", sagte der heute 57-Jährige. Eine andere Diskussion um seinen Sohn muss nach dieser EM aber ernsthafter geführt werden. Nämlich die um seine Mitgliedschaft in der Riege der weltbesten Torhüter.