Fußball-Nomade, Globetrotter, Scout und plötzlich Sportvorstand eines Bundesligisten: Lutz Pfannenstiel hat bereits viel in seinem Leben gesehen und erlebt. Im ersten Teil des großen Interviews mit SPOX und Goal spricht der ehemalige Torhüter anlässlich des Afrika-Cups (vom 21. Juni bis 19. Juli live auf DAZN) über seine Faszination für den afrikanischen Fußball, sein Fernweh, tragische Erlebnisse mit Spielern und Kameruns Jagd auf Claudio Caniggia bei der WM 1990.
Außerdem erklärt der ehemalige Co-Trainer von Namibias Nationalteam, warum es beim Afrika-Cup keine Starallüren gibt, warum er es gut findet, dass Mannschaften vor dem Turnier streiken und warum afrikanische Torhüter eigentlich besser sein müssten als die Europäer.
Herr Pfannenstiel, mit ihrem Namen verbindet man in Fußball-Deutschland immer das Wort "Weltenbummler". Seit Dezember letzten Jahres sind Sie nun fester Teil des Bundesliga-Establishments und Sportvorstand bei Fortuna Düsseldorf. Überkommt sie nicht manchmal ein gewisses Fernweh?
Pfannenstiel: Nicht wirklich. Ich war acht Jahre in Hoffenheim im Scouting viel unterwegs, aber es waren meist kurze Auslandsaufenthalte. Das ist stufenweise zurückgegangen. Jetzt ist es so, dass ich mal morgens um sechs Uhr nach London fliege und um 15 Uhr wieder zurück bin. Das sind hauptsächlich Kurztrips. Natürlich waren Turniere wie der Afrika-Cup immer etwas Besonderes. Ich war seit 2006 immer live vor Ort als Experte und Co-Kommentator für die BBC oder Eurosport.
Das haben Sie sich trotz Zeitmangel auch dieses Jahr nicht nehmen lassen. Das Eröffnungsspiel zwischen Ägypten und Simbabwe (1:0) haben Sie erneut als Experte und dieses Mal für DAZN kommentiert. Was ist die Faszination dahinter?
Pfannenstiel: Du musst Afrika verstehen, weil einfach vieles anders ist. Gewisse Gepflogenheiten und Gewohnheiten und auch das Grundverständnis unterscheiden sich von Europa. Sachen, die für uns normal sind, sind in Afrika total komisch. Es ist aber genauso umgekehrt.
imagoDas müssen Sie etwas genauer erklären.
Pfannenstiel: Es ist einfach die Art und Weise, wie man miteinander und auch den Dingen umgeht. Das krasseste Beispiel dafür ist der Umgang mit Leben und Tod. Als ich Trainer in Namibia war, kam einer meiner Spieler zum Training und hat geheult wie ein Hund, weil sein kleiner Bruder bei einem Autounfall getötet wurde. Ich wollte ihm einige Tage freigeben, um Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Doch das wollte er nicht und sagte: "Gott nimmt, Gott gibt." Er hat an diesem Tag ganz normal trainiert. Wenn mein Kind oder mein Bruder sterben würde, dann würde ich sicherlich anders reagieren.
Das ist nun aber wirklich ein sehr krasses und schreckliches Beispiel.
Pfannenstiel: Aber keine Seltenheit. Es geht auch darum, wie die Dinge dort gehandhabt werden. Einem Nationalspieler von mir ist am 2. Weihnachtsfeiertag mit einem Beil in den Kopf geschlagen worden. Der wurde getötet, weil er seine Ex-Freundin grüßte. Und trotzdem sage ich: Afrika ist der Kontinent, auf dem eigentlich immer gelacht wird. Du bist immer happy, meistens sind alle glücklich. Und wenn es den Leuten auch noch so dreckig geht, hast du diese gewisse Leichtigkeit.
Auch wenn es um Leben und Tod geht?
Pfannenstiel: Oder Krankheit. HIV war in den Ländern, in denen ich gespielt oder Trainer ausgebildet habe, allgegenwärtig. Die Krankheit von Fußballern und auch in anderen Gesellschaftsschichten ist dort Regel und nicht Ausnahme. Für mich war Afrika immer eine Art Heilung. Wenn irgendjemand größenwahnsinnig wird, bring ihn mal für drei oder vier Tage nach Afrika und lass ihn bei meiner Charity Global United FC mitarbeiten. Mit Kindern, die keine Schuhe haben, nichts zu essen haben, einfach gar nichts haben. Und auf einmal ist alles anders. Da können wir noch sehr viel von den Afrikanern lernen.
Thilo Thielke hat einmal in seinem Buch "Traumfußball" geschrieben, dass der Fußball in Afrika überall sei. Inwiefern deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?
Pfannenstiel: Es ist tatsächlich so. Egal, wo du bist, mit irgendwas wird immer gekickt. Ob im Park, auf der Müllkippe, in den Townships oder in den besten Gegenden, mit Bällen aus T-Shirts oder Blechbüchsen auf grausamsten Plätzen, die teilweise mit Glasscherben übersät sind. Das ist faszinierend.
Aber auch nicht sonderlich förderlich für die Entwicklung von jungen Fußballern, oder?
Pfannenstiel: Ich habe mich diesbezüglich mal intensiv mit der Frage beschäftigt, warum afrikanische Torhüter noch nicht ganz auf dem Niveau der Europäer sind.
Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
Pfannenstiel: Ganz klar, weil die Afrikaner im Jugendbereich auf schlechten Plätzen trainieren, so gut wie ohne Equipment und wenig Infrastruktur. Da fliegst du einmal, aber kein zweites Mal, weil du dann blutest. Diese Entwicklungsphase, in der Torhüter beispielsweise in Deutschland ihr Handwerk bereits lernen, fehlt in Afrika teilweise komplett. Von den körperlichen und athletischen Voraussetzungen her, müssten die afrikanischen Torhüter die Katzen schlechthin sein.
Wie unterscheidet sich die Mentalität der Spieler?
Pfannenstiel: Die Prioritäten sind einfach anders. Was ist wichtig? Da würden die meisten antworten, dass es der Familie gut gehen soll, dass sie eine eigene Wohnung besitzen wollen und dass man für die Zukunft abgesichert ist. Viele meiner ehemaligen Spieler sehen das anders. Es zählt mehr das hier und heute. Statussymbole wie die neuesten Smartphones stehen vor einem Investment in die eigene Zukunft.
Sie sprechen offenbar aus Erfahrung.
Pfannenstiel: Ich war oft bei meinen Spielern zu Hause, um mich in die Jungs hineinzuversetzen. Ich habe immer versucht, meine Spieler zu sensibilisieren. Prioritäten zu schaffen, welche sich auch positiv auf den Fußball auswirken. Es ist für einen Profi deutlich wichtiger, auf einem guten Bett zu schlafen, als den coolsten Flachbildschirm zu besitzen.
Sie sagten einmal, der Afrika Cup sei das letzte große Turnier für Fußballromantiker. Warum?
Pfannenstiel: Du siehst immer noch Sachen, die du bei anderen Fußballereignissen nie sehen wirst. Rustikale Zweikampfführung, unglaubliche Einzelaktionen, mitunter kuriose Schiedsrichterentscheidungen und mit etwas Pech einen noch gar nicht gebauten Trainingsplatz ...
Erzählen Sie.
Pfannenstiel: Bei einem Afrika Cup habe ich Didier Drogba getroffen und gefragt, in welchem Hotel seine Mannschaft sei. Er wusste es nicht, weil das Hotel noch nicht fertiggebaut war, nirgendwo ein Schild mit dem Namen stand und nichts funktionierte.
Gab es da keine Beschwerden?
Pfannenstiel: Wenn diese Spieler mit Chelsea oder sonst irgendeinem Klub unterwegs gewesen wären, hätten sie sich beschwert, wenn das Wasser aus dem Hahn zu wenig Druck gehabt hätte. Wenn die Jungs aber beim Afrika Cup zusammen sind, legen sie keinen Wert auf Luxus. Man singt, tanzt und freut sich. Back to the roots. Das ist Afrika pur und das ist brutal faszinierend.
Der Spielerstatus beim Afrika-Cup ist also außer Kraft gesetzt.
Pfannenstiel: Beim Afrika-Cup spielen zwar Weltstars, aber das Verhalten ist nicht überheblich. Es ist wie ein Klassentreffen. Die Spieler wissen, wo sie herkommen. Natürlich gibt es die Führungsspieler auf dem Platz, aber nirgendwo ist der finanzielle Unterschied so groß wie bei diesem Turnier. Bei Nigeria verdienen Spieler wie John Obi Mikel Millionen, während der dritte Torwart, der in der einheimischen Liga spielt, ein paar tausend Dollar verdient.
Und da gibt es trotzdem keine Starallüren?
Pfannenstiel: Ich kann mich an eine Ausnahme erinnern. Da kam einer der Superstars einer Mannschaft mit zwölf Rolex in der Tasche an und verteilte die als Geschenke an die Mannschaft, damit klar ist, wer der Chef ist.
Was hat es mit Black Magic auf sich?
Pfannenstiel: Meiner Mannschaft wurde vor einem Champions-League-Spiel die Flüssigkeit von drei Toten auf die Arme und Beine gepinselt. Der Geruch war grausam, aber das Spiel haben wir gewonnen. Und der Medizinmann war sich sicher, dass es nur daran lag.
Es sind gerade solche Kuriositäten, die hierzulande am ehesten noch den Afrika-Cup in den Fokus rücken lassen. Kuriose Torwartfehler, Schiedsrichterentscheidungen oder Ausschreitungen, wie jene beim Halbfinale 2015 zwischen Gastgeber Äquatorialguinea und Ghana, als ein Hubschrauber die einheimischen Fans in Schach halten musste. Ist das nicht irgendwie traurig, dass der Fußball da schnell in den Hintergrund rückt?
Pfannenstiel: Das ist halt der X-Faktor beim Afrika-Cup. Bei einem Turnier auf so hohen Niveau wird man diese Sachen wohl nicht erleben. Der Gold Cup ist hochprofessionell aufgezogen worden, die Asienmeisterschaft ist genauso gut organisiert, wie eine WM. Beim Afrika-Cup kommst du an, willst zum Hotel und vielleicht gibt es das Hotel noch gar nicht. Oder eine Mannschaft kommt an und keine Trainingsplätze sind gebucht oder die Klamotten sind nicht da. Togo hat mal mit den Trikots von der Elfenbeinküste trainiert, weil die Kleidung nicht da war. Das ist einfach ein sympathisches Chaos.
Wie wir von Ihnen gelernt haben, bleiben davon auch die Weltstars und Topmannschaften nicht verschont.
Pfannenstiel: Selbst bei absoluten Topspielen, zum Beispiel Kamerun gegen Ghana oder Marokko gegen Tunesien, wo eigentlich so viel Qualität auf dem Platz steht, kann eine Szene das Ganze kippen, so dass sich am Ende 22 Spieler jagen. Die körperliche Härte war vor allem vor einigen Jahren über dem Limit. Aber auch das wurde bei den letzten Turnieren etwas ruhiger.
Das erinnert unweigerlich an die Jagdszenen bei Kamerun gegen Argentinien im WM-Eröffnungsspiel 1990, als sich Claudio Caniggia ernsthaft Sorgen um seine Gesundheit machen musste.
Pfannenstiel (lacht): Genau. Einer von den Spielern, die Caniggia damals "gejagt" haben, hat mit mir in Neuseeland gespielt. Wenn du versucht hast, ihn beim fünf gegen zwei zu tunneln, war Schluss mit lustig. Der war eine richtige Kante. Der hat nur selten gelacht, aber wenn der Ball kam, wusste er, was er zu tun hatte ...
Wir sprachen über Kuriositäten rund um den Afrika-Cup. Ein häufiges Thema sind Streiks der Mannschaften vor den Turnieren wegen ausstehender Prämienzahlungen vonseiten des Verbandes. In diesem Jahr hat Kamerun beinahe eine Disqualifikation riskiert. Hierzulande ein undenkbares Szenario.
Pfannenstiel: Da geht es ums Prinzip und kam ja sogar schon bei einer WM vor, als Ghana 2014 vor dem Turnier in Brasilien gestreikt hat. Da habe ich selbst im Mannschaftshotel gesehen, wie die Spieler dem Verbandspräsidenten unter Druck gesetzt haben.
Wie ist Ihre Meinung dazu?
Pfannenstiel: Die Verbände müssen sich da ganz einfach an die Regeln halten. Du kannst nicht einerseits ein Prämiensystem ausverhandeln und dann verschwindet das Geld. Das geht nicht. Den Superstars tut so was nicht weh, aber einigen anderen Spielern schon. Da steht man dann als Gemeinschaft zusammen und sagt: Wir lassen uns nicht veräppeln, während andere die Champagnerkorken knallen lassen.
Streiks vor großen Turnieren sind in Afrika kein Novum. Dass das Turnier in der europäischen Sommerpause stattfindet und 24 Mannschaften teilnehmen schon.
Pfannenstiel: Die Aufstockung finde ich persönlich nicht gut, weil sie das Niveau noch mehr verwässert.
Diese Diskussion führen wir ja nun auch bei der Europa- und Weltmeisterschaft.
Pfannenstiel: Beim Afrika-Cup ist das noch krasser, weil dann wirklich Mannschaften dabei sind, die noch nicht auf diesem Niveau angekommen sind.
Was ist mit der Verlegung des Turniers in den Sommer?
Pfannenstiel: Die Hitze kann zwar problematisch sein. Aber für die Vereine und die Spieler ist das ein absoluter Segen.
Warum?
Pfannenstiel: In den letzten fünf bis zehn Jahren hast du als Verein aus dem Tabellenkeller immer gesagt, dass wenn zwei oder drei Spieler im Winter zum Afrika-Cup gehen, dann steigst du ab. Das ist jetzt anders. Jetzt kannst du afrikanische Spieler aus deiner Mannschaft ohne die große existenzielle Angst hinschicken.
Ist das eine Änderung aus Annäherung oder Druck von Europa?
Pfannenstiel: Druck will ich das nicht nennen, aber das wurde in den letzten zehn Jahren schon immer wieder gefordert. Der Verband wollte das auch gar nicht machen, hat dann aber gemerkt, dass in vielen europäischen Ländern, abgesehen von Frankreich und Belgien, die Quote an afrikanischen Spielern stark zurückgingen, weil man vor den Auswirkungen des Afrika-Cup großen Respekt hatte. Das Turnier jetzt in den Sommer zu legen, war eine gute Entscheidung besonders für die jungen afrikanischen Talente, sich in Europa weiterzuentwickeln.
gettyJetzt haben wir so viel über Hintergründe zum Afrika-Cup gesprochen. Wer gewinnt ihn am Ende?
Pfannenstiel: Nigeria, das von meinem Freund Gernot Rohr trainiert wird, hat eine gute Mannschaft. Die Westafrikaner wie Ghana, die Elfenbeinküste und Kamerun gehören zum Favoritenkreis. Für viele Experten ist Senegal der Topfavorit. Aber wir sprechen über ein Turnier, das in Nordafrika stattfindet. Das heißt, die nordafrikanischen Mannschaften werden in ihrem Umfeld automatisch stärker sein. Taktisch sind Marokko, Algerien und Tunesien den schwarzafrikanischen Teams einen Schritt voraus. Gastgeber und Rekordchampion Ägypten will aber zu Hause den nächsten Titel holen und haben mit Mo Salah auch den momentan besten Afrikaner in ihren Reihen.
Favorit ist also Ägypten. Welche Mannschaft ist denn besonders interessant?
Pfannenstiel: Simbabwe. Sehr gute Fußballkultur, obwohl in der Liga kein Geld ist. Klaus-Dieter Pagels war dort technischer Direktor der Nationalmannschaft. Ich kam zu einem Trainerkurs ins Büro und da war ein riesiges Zimmer mit einem Faxgerät. Komplett ohne Möbel. Das Zimmer bestand quasi nur aus diesem Faxgerät am Boden. Die Jungs haben wirklich nichts.
Simbabwe war schon letztes Mal dabei - ganz ohne die Aufstockung. Drei Debütanten gibt es in diesem Jahr.
Pfannenstiel: Dass Mauretanien dabei ist, ist für mich eine Sensation. Ich habe mit Namibia dort ein Qualifikationsspiel gemacht. Da gibt es sehr wenig Infrastruktur.
Beim Afrika-Cup gibt es nicht viele Weltstars. Ein paar große Namen sind aber dennoch dabei: Mo Salah, Naby Keita, Sadio Mane, Nicolas Pepe, Riyad Mahrez, Hakim Ziyech. Gibt es durch Ihre Scouting-Brille gesehen noch einen Geheimtipp? Einen Spielernamen, den man sich merken muss?
Pfannenstiel: Früher konntest du beim Afrika-Cup noch Juwele finden, die keiner kannte. Das verschwand aber mit den neuen Medien und der modernen Scouting-Software. Selbst beim dritten Torhüter von Uganda gibt es einen World Feed, der dir sagt, was er so kann.