"Nicht zum Wohle des Calcio"

Christian Bernhard
07. Juni 201112:52
Udinese-Trainer Francesco Guidolin führte seine Team in Italien in die CL-QualifikationGetty
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Trainer Francesco Guidolin hat Udinese sensationell auf Rang vier der Serie A und damit in die Champions-League-Qualifikation geführt. Im Interview mit SPOX spricht der 55-Jährige über seine Juwelen Alex Sanchez, Ghökan Inler und Co., den Vergleich mit Barcelona und den möglichen CL-Qualifikations-Gegner FC Bayern. Außerdem outet sich Guidolin als Bundesliga-Fan und spricht die Missstände im italienischen Fußball an.

SPOX: Herr Guidolin, Ihr Team hat in Italien aufgrund der spektakulären Spielanlage die Bezeichnung "Das kleine Barcelona" abbekommen.

Francesco Guidolin: Dieses Etikett ist übertrieben. Der FC Barcelona ist die Perfektion. Solche Mannschaften entstehen vielleicht alle 40 Jahre. Die letzten, die auf diesem Niveau mithalten konnten, waren Arrigo Sacchis Milan, Johan Cruyffs Ajax und die Niederlande jener Zeit. Vielleicht auch noch das ungarische Nationalteam von 1956, aber damals war ich gerade erst auf der Welt. Es ist schwer, vergleichbares zu finden. Vielleicht ist dieses Team besser, als alle vorhin aufgezählten. Wir ähneln Barca insofern vage, da auch wir aufgrund unserer kleinen und schnellen Angreifer über die Schnelligkeit unserer Aktionen zu Torchancen kommen. Das ist aber die einzige Ähnlichkeit. Wir sind einfach nur Udinese, Barca ist die Perfektion.

SPOX: Was beeindruckt Sie am meisten an Barca?

Guidolin: Das komplette Programm: Ihr Auftreten bei Ballbesitz und ohne, ihre Ruhe, ihr dominantes Spiel, die Leichtigkeit, mit der sie sich Torchancen erarbeiten, die Fantasie. Sie bringen einfach alles mit. Alles.

SPOX: Hat dieses Barca eine neue Ära im Fußball eingeleitet?

Guidolin: Das glaube ich nicht. Dieses Team wird einfach von einer magischen Chemie getragen, die man nur schwer erklären und nicht nachahmen kann. Klar spielt die Cantera eine Rolle, die Spieler, die schon als Kinder zusammen waren. Barca arbeitet ja schon länger so, war aber noch nie so stark wie heute. Ich glaube, dass das gleichzeitige Aufeinandertreffen mehrerer Faktoren diesem Phänomen zugrunde liegt: Eine Gruppe von fantastischen Spielern, eine herausragende Schule, ein ruhiges Umfeld, ein sehr guter Trainer und Lionel Messi. Denn wenn Messi fehlt, ist auch dieses Barca nicht dasselbe. Trotzdem ist für mich Xavi das wahre Genie dieser Mannschaft.

SPOX: Was war das Geheimnis Ihres Teams?

Guidolin: Aus technischer Sicht auf jeden Fall die Qualität der Mannschaft. Ich habe gleich erkannt, dass das Team stark ist und großes Potenzial hat. Aus taktischer Sicht haben wir das Spielsystem relativ früh verändert und dadurch unsere besten Spieler aufgewertet. Von Antonio Di Natale über Alexis Sanchez, der in zentraler Position herausragend wurde, hin zu Pablo Armero und Mauricio Isla, die als unsere Außenspieler eine wichtige Rolle innehatten, und unserem zentralen Dreier-Mittelfeld um Ghökan Inler, Giampiero Pinzi und Kwadwo Asamoah. Als wir uns aufeinander eingestellt hatten, haben wir einen unterhaltsamen und spektakulären Spielstil aufgezogen, der uns bis auf Rang vier gebracht hat.

SPOX: Und Ihrer Mannschaft auch den Titel "Schönster Fußball Italiens".

Guidolin: Ich denke, dass wir uns diesen Titel redlich verdient haben. Wir haben einige mitreißende Vorstellungen geboten: Das 4:4 gegen Milan in Mailand, das 7:0 in Palermo, das 4:0 in Cagliari oder das 4:2 in Genua. Auch wenn wir nicht gewonnen haben, wie zum Beispiel beim 2:3 in Rom gegen Lazio. Trotz der Pleite war es eines unserer besten Spiele überhaupt, wir haben uns damals 15 Torchancen erarbeitet.

SPOX: Oft entstand der Eindruck, Ihr Team laufe doppelt so viel wie der Gegner.

Guidolin: Wir haben in der Tat körperlich sehr starke Spieler, die perfekt vorbereitet worden sind. Besonders in der zweiten Halbzeit waren wir eigentlich allen Teams läuferisch überlegen.

SPOX: Dabei sah es zu Beginn schlecht aus: Sie sind mit vier Niederlagen in Serie in die Saison gestartet.

Guidolin: Ja, wir haben schlecht begonnen, weil wir erst zueinander finden mussten. Ich war neu und wir haben auf dem Feld einfach zuviel zugelassen. In den ersten vier Partien haben wir mindestens drei, vier Punkte liegen lassen. Langsam aber sicher haben die Spieler dann verstanden, was ich will und was sie zu tun haben. Wir wollten weiter guten Fußball spielen, dabei aber konkreter agieren. Das ist uns gelungen und so hat unsere mitreißende Aufholjagd begonnen.

SPOX: Wie wichtig war in der schwierigen Anfangsphase der Verein? Es sind schon Trainer geflogen, die vier Spiele zu Beginn verloren haben...

Guidolin: Es steht außer Frage, dass der Klub viel Geduld gehabt und weise agiert hat. Sicherlich hat dazu beigetragen, dass wir uns schon kannten: Ich hatte zwölf Jahre zuvor schon in Udine gearbeitet und den Verein in den UEFA-Cup geführt. Der Klub hat gut daran getan, an unser Projekt zu glauben.

SPOX: Jetzt werden Ihre Spieler, allen voran Sanchez, Inler und Asamoah, mit einigen Topklubs in Verbindung gebracht. Hand aufs Herz: Wie sehr stört Sie das?

Guidolin: Jetzt gar nicht mehr. Während der Saison, so dachte ich, könnte das die Spieler vielleicht ablenken. Aber meine Jungs haben sich auch in diesem Zusammenhang vorbildlich benommen. Sie haben es sich verdient, dass nun die Augen der Topklubs auf sie gerichtet sind. Ein Teil von mir ist stolz darauf, weil das eine Bestätigung für unsere gute Arbeit ist. Auf der anderen Seite hoffe ich natürlich, dass ich sie alle wieder bei mir haben werde. Aber ich weiß leider, dass das nicht möglich sein wird.

SPOX: Was macht Udinese zu einem so speziellen Verein?

Guidolin: Ich fühle mich in Udine äußerst wohl, weil ich mich mit der Art und Weise der Menschen im Friaul identifiziere. Sie müssen wissen: Ich stehe Italien in allen Bereichen sehr kritisch gegenüber. Ich richte meinen Blick Richtung Norden, wenn es um die Lebensorganisation und die des Fußballs geht - und in Udine fühle ich mich ein bisschen wie im Ausland. Es gibt weniger Druck und Anspannung, man kann in Ruhe arbeiten, der Verein ist sehr gut organisiert und man hält sich an die Regeln. Dazu noch die Arbeit mit jungen Spielern: Das alles gefällt mir sehr.

SPOX: Aus mehreren Interviews geht hervor, dass sie ein großer Bundesliga-Freund sind.

Guidolin: Als ich zwischen 2005 und 2007 Palermo trainiert habe, war ich ein Bewunderer von Werder Bremen. Das Team von Thomas Schaaf, mit Diego als herausragendem Akteur, gefiel mir sehr. Ich habe damals bereits gesagt, dass der deutsche Fußball auf dem Vormarsch ist. Für mich ist es die Fußballbewegung, die sich in den letzten zehn Jahren am meisten weiterentwickelt hat.

SPOX: Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Guidolin: Es wurden die richtigen Entscheidungen getroffen und normalerweise wird man dafür belohnt, wenn man gut arbeitet. Mir gefallen die einladenden Stadien, die stark forcierte Jugendarbeit und dass die Liga aus 18 Vereinen besteht, nicht wie in Italien aus 20. Die Vereine arbeiten gründlich, keiner übernimmt sich finanziell, und sie bauen sehr auf die Jugend. Jetzt, wo Deutschland uns in der Fünfjahreswertung überholt hat, wird das auch anderen in Italien bewusst. Ich identifiziere mich mit dieser Art und Weise. Ich stehe auf präzise Regeln, das gegeben Wort, Organisation und auf langfristig angelegte Projekte. Ich bin so und deshalb würde es mir gefallen, in Deutschland zu arbeiten.

Seite 2: Guidolin über Italiens Probleme - nicht nur im Fußball - und den FC Bayern

SPOX: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Entwicklung in Italien?

Guidolin: Sie ging in die entgegengesetzte Richtung. Wir schaffen es nicht, Entscheidungen zu treffen, die uns voranbringen. Ein Beispiel: Italiens Infrastrukturen sind dekadent, die Stadien alt. Nur Juventus hat ab Sommer sein eigenes Stadion. Vor einigen Jahren kamen die besten Spieler Europas nach Italien, jetzt ist es nicht mehr so. Es kommen große Spieler, die aber schon bei Topklubs wie Real, Barca und Co. waren. Wir haben an Charisma eingebüßt und müssen jetzt unbedingt schauen, wieder Boden gut zumachen.

SPOX: Auf der anderen Seite gibt es Top-Youngster wie Alexis Sanchez, Javier Pastore oder Edinson Cavani.

Guidolin: Ja, weil einige Vereine genau daran arbeiten - allen voran wir in Udine. Wir machen uns im Ausland frühzeitig auf die Jagd nach Talenten, bevor diese Spieler von den Topklubs entdeckt werden. Sobald Chelsea, Real, Arsenal und Co. auf einen Spieler aufmerksam werden, hat man finanziell keine Chance mehr. Wir machen das schon seit 15 Jahren und versuchen, vor den großen Klubs an sie heranzukommen und sie dann bei uns reifen zu lassen. Palermo und Fiorentina arbeiten auch in diese Richtung. Das ist eine gute Seite des italienischen Fußballs. Gleichzeitig müssen aber auch die jungen Italiener vorangebracht werden. Das geht aber nur, wenn die Regeln geändert werden. Die Topklubs müssten zum Beispiel B-Mannschaften haben, wie in Spanien. So könnten die jungen Spieler in kompetitiven Meisterschaften schneller reifen, denn die Primavera-Meisterschaft (U 20, Anm. d. Red.) bringt die jungen Spieler nicht weiter. Aber um das zu erreichen, muss man in Italien scheinbar unbezwingbare Hürden überspringen.

SPOX: Es ist also vordergründig ein System-Problem?

Guidolin: Man kann bei uns den Eindruck gewinnen, dass die Entscheidungsträger autonom gar nicht zum Wohl des Calcio handeln können. In Italien wird viel zu sehr in vorgefassten Schemen gedacht, die sich nur ganz, ganz schwer überwinden lassen. Das ist Italiens größtes Übel, auf allen Ebenen. Dafür gibt es allerdings vielschichtige Gründe.

SPOX: Die da wären?

Guidolin: Wir sind ein sehr junges Land, in diesem Jahr feiern wir unser 150-jähriges Bestehen. Über Jahrtausende hinweg war Italien getrennt und teilweise unterjocht. Das alte Rom ist eine der Wiegen unserer Zivilisation, aber als andere Länder wie England oder Frankreich zu einer Nation wurden, haben wir noch gegeneinander gekämpft: Dorf gegen Dorf, Region gegen Region. Diese Streitkultur ist uns geblieben. Es ist sehr schwierig, in Italien alle auf einen Nenner zu bringen oder sich an einen Tisch zu setzen und entspannt zu diskutieren. Das Gemeinwohl steht nicht immer an erster Stelle, oft schaut jeder nur auf sich selbst. Wir werden nicht umsonst als Schlitzohre bezeichnet, als Leute, die ohne Regeln leben können und versuchen, die anderen übers Ohr zu hauen. Diese Dinge traten in den vergangenen Jahren wieder häufiger auf und das ist nicht schön. Was den gespielten Fußball angeht, unterschätzen wir uns aber selbst und werden auch unterschätzt.

SPOX: Woran liegt das?

Guidolin: Meiner Meinung nach an der Atmosphäre. Ich bin überzeugt davon, dass die Atmosphäre eines Fußballspiels sehr viel ausmacht. Wenn Sie in ein neues, einladendes und volles Stadion gehen und dann dieselbe Partie in einem halbleeren, baufälligen Stadion sehen, wo die Zuschauer weit weg vom Spielfeld sitzen und die Spieler womöglich auch noch einen schlechten Rasen vorfinden, gibt das Ganze ein komplett anderes Bild ab. Die Premier League wird beispielsweise als die schönste Liga der Welt dargestellt, ich teile dieses Bild aber nicht unbedingt. Klar ist es spektakulär, wenn Chelsea, ManUtd oder Arsenal spielen, aber ansonsten sehe ich einige ganz, ganz schlechte Spiele - aber die Atmosphäre im Stadion ist immer top. Deshalb muss in Italien die Atmosphäre rund um das Spiel geändert werden. Wenn man sich die Spiele der Serie A genauer anschaut, merkt man meiner Meinung nach, dass sie um einiges schöner sind, als oft gesagt wird. Das Umfeld ist enorm wichtig.

SPOX: Ganz etwas anderes: Sagt Ihnen eigentlich der Name Markus Babbel etwas?

Guidolin: Ja, ich erinnere mich an ihn, er war ein Fußballer.

SPOX: Er ist jetzt Cheftrainer von Hertha BSC.

Guidolin: Ah, er ist der Trainer?

SPOX: Ja. Ich frage Sie deshalb, da Sie in einem Interview von der Hertha geschwärmt haben. Wie kommt es dazu?

Guidolin: Das ging folgendermaßen: Ich werde in Italien immer wieder gefragt, wieso ich noch nie einen Topklub, also Milan, Juve oder Inter, trainiert habe. Da habe ich gesagt: Das ist für mich nicht mehr so wichtig, mich könnten andere Projekte heute mehr begeistern. Wie zum Beispiel Mannschaften im Ausland, die momentan eine schwierige Phase durchmachen, aber große Tradition haben und ein seriöses Projekt bieten. Da habe ich die Hertha als Beispiel angeführt, die ja damals in der 2. Liga war, aber ein großer, traditionsreicher Verein ist. Außerdem ist Berlin eine tolle Stadt. Da ich nicht mehr der Jüngste bin, würde mir so ein Projekt gefallen - vielleicht noch mehr, als einen Topklub zu trainieren. In meinem Alter bin ich auf der Suche nach spannenden Herausforderungen.

SPOX: Apropos Herausforderung: Haben Sie schon mit den potenziellen Gegnern in der CL-Qualifikation beschäftigt?

Guidolin: Leider ja. (lacht) Da sind ja einige Kracher dabei. Wir könnten auf Arsenal, die Bayern, Villarreal, Lyon oder Benfica treffen - alles sehr harte Brocken. Erstmal haben wir es aber so weit geschafft. Jetzt genießen wir die Ferien, dann werden wir uns mit den möglichen Gegnern beschäftigen und sie genauer kennenlernen.

SPOX: Haben Sie sich die Bayern bereits näher angeschaut?

Guidolin: Zuletzt nicht explizit, aber ich habe sie oft in dieser Saison gesehen. Ich habe sie mir angeschaut, wann immer ich konnte, aber nicht weil ich an ein potenzielles Qualifikationsduell gedacht habe. Ich habe die Bundesliga prinzipiell aufmerksam verfolgt, auch Borussia Dortmund.

SPOX: Jetzt können Sie sich aber erstmal wieder Ihrem Rennrad widmen. Wie viele Kilometer haben Sie seit Saisonende schon abgespult?

Guidolin: Oh, schon sehr viele. Der Radsport ist meine große Passion. Nach dem Saisonende trainiere ich am meisten, so komme ich wieder runter und lade die Batterien auf.

SPOX: Wie viele Kilometer machen Sie in einem Jahr?

Guidolin: Zwischen 8000 und 10.000 sind es schon noch. Als ich noch jünger war, kam ich auch auf 12.000 bis 13.000, aber in Form bin ich immer noch. Wenn ich mit dem Trainerdasein aufhöre, werde ich die Tour als Fan und Beobachter täglich begleiten und auch Teile der Etappen abfahren.

Francesco Guidolin im Steckbrief