Catenaccio - die dunkle Seite des Fußballs

SPOXAndreas Renner
16. Juli 200915:53
Helenio Herrera (r., mit Sandro Mazzola) spielte mit Inter in den 1960er Jahren Catenaccio in PerfektionImago
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Nie wurde in Deutschland soviel über Fußball-Taktik diskutiert wie heute. Doch woher kommen 4-4-2 und 4-2-3-1 und ballorientierte Raumdeckung? Gemeinsam mit Sky-Kommentator und SPOX-Blogger Andreas Renner haben wir versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Herausgekommen ist die SPOX-Themenwoche: Die Geschichte der Fußball-Taktik in acht Teilen.

SPOXDer Mann, der den Ruf von Italiens Fußball weltweit ruinierte, war gar kein Italiener. Helenio Herrera, der den Catenaccio (deutsch: Riegel) weltberühmt machte, wurde in Argentinien geboren, zog mit seiner Familie aber schon bald nach Marokko.

In Casablanca begann er seine Spielerkarriere, die er anschließend in Frankreich fortsetzte. Herrera bestritt sogar zwei Länderspiele für Frankreich. Mit 25 musste er die aktive Laufbahn wegen einer Knieverletzung beenden.

In Frankreich begann dann auch Herreras Trainerkarriere. Es folgten diverse Stationen in Spanien und Portugal, unter anderem bei prominenten Klubs wie Atletico Madrid, Sevilla und dem FC Barcelona. Und zwar ohne Catenaccio. Als er schließlich bei Inter Mailand anheuerte, gab es den Catenaccio bereits. Und er hatte auch einen historischen Vorläufer.

Wer hat's erfunden?

1937 wurde Karl Rappan Trainer der Schweizer Nationalmannschaft, betraut mit der Aufgabe, das Team zur Fußball-WM 1938 in Frankreich zu führen. Zu dieser Zeit waren die Schweizer wohl das schwächste Team in Zentraleuropa. Und Rappan musste sich etwas einfallen lassen, um gegen die Großen zu bestehen.

Seine Philosophie fasste er so zusammen: "Man kann eine Mannschaft unter zwei Gesichtspunkten zusammenstellen. Entweder man hat elf Individuen, die mit ihrer Klasse und ihrem Talent stark genug sind, um den Gegner zu besiegen. Brasilien wäre ein Beispiel. Oder man hat elf durchschnittliche Fußballer, die in ein bestimmtes Konzept, einen Plan, integriert werden müssen. Dieser Plan zielt darauf ab, zum Wohle der Mannschaft das Beste aus jedem Mann herauszuholen."

Der Riegel

SPOXRappans Lösung hieß "Schweizer Riegel". Im Vergleich zum klassischen 2-3-5 wurden die beiden Halbstürmer zurückgezogen, als Außenverteidiger. Die beiden ursprünglichen Verteidiger agierten nun beide zentral, hintereinander. Und prompt war der Libero geschaffen.

Da die Lücke zwischen Mittelfeld und Sturm nun aber sehr groß wurde (weil damals die offensiven Flügelspieler nicht nach hinten arbeiteten), zog Rappan sein gesamtes Team weit zurück und setzte auf Konter.(siehe Grafik)

Mit Erfolg, wie das großdeutsche Team erfahren musste, das bei der WM 1938 in der ersten Runde gegen die Schweiz ausschied. Nachdem sich die Nazis Österreich einverleibt hatten, schickten sie nämlich eine gemischte Mannschaft aus Deutschen und Österreichern nach Frankreich.

Aber genau das war der Defensivfußball zuerst (und ist es natürlich auch noch bis heute): Das Mittel der Schwächeren, wenn es gegen einen übermächtigen Gegner geht.

Unfreiwilliges Mauern

Und genau das war er zu Beginn auch in Italien. Zum Beispiel in Salerno, wo Trainer Gipo Viani für sich die Erfindung des Catenaccio reklamierte. So stieg der Provinzklub 1947 in die Serie A auf, aber der Abstieg folgte prompt nach nur einer Saison.

Dann gab es da noch Nereo Rocco, der mit Triest einmal Platz zwei und zweimal Platz 8 in der Serie A belegte. Respektable Ergebnisse für einen Klub dieser Größe. Anfang der 50er spielte Inter unter Alfredo Foni Catenaccio und Rocco nahm seine Philosophie von Triest nach Mailand mit, wo er mit dem AC Meisterschaften und Europapokale holte.

Schluss mit dem Geschwätz

Doch Catenaccio bleibt für immer mit dem Namen Helenio Herrera verbunden, auch wenn er ihn nicht erfunden hat. 1960 kam er zu Inter Mailand und holte mit seiner neuen Mannschaft in acht Jahren drei Meisterschaften und zwei Mal den Europapokal der Landesmeister.

Der Argentinier machte Schluss mit den romantischen Vorstellungen vom Fußball. "Nichts als Geschwätz", sei das Gerede vom attraktiven, offensiven Spiel. Das Ziel des Fußballs wurde umgedeutet: Es ging nicht mehr darum, mehr Tore zu schießen als der Gegner. Der Fokus lag nun darauf, weniger Tore zu kassieren als die andere Mannschaft. Und ja, das ist ein großer Unterschied.

Wie freiwillig das geschah, sei zunächst einmal dahin gestellt. Schließlich spielte Inter in den ersten beiden Herrera-Jahren kein Catenaccio und belegte in der Liga erst den dritten und dann den zweiten Platz. Nicht genug für Klubboss Angelo Moratti, bekannt für seine Ungeduld. Herrera bekam ein Ultimatum: Noch eine Saison, dann mussten Titel her.

Die Angst geht um

Herreras Antwort: Er nahm einen Mittelfeldspieler aus der Mannschaft und platzierte dafür einen Ausputzer hinter der Abwehr. Dafür bekam der linke Verteidiger mehr Freiheiten nach vorne. Hier ging es also nicht mehr darum, qualitative Nachteile auszugleichen. Stattdessen reagierte die Angst vor dem Verlieren (und zwar des Spiels und des Jobs). So hatte nun wirklich jeder Klub Grund zum Mauern: Groß und klein, arm und reich.

Und so sah Inters Offensivphilosophie aus: "Im Angriff wussten alle Spieler, was ich wollte: Vertikaler Fußball mit hohem Tempo, nicht mehr als drei Pässe zum gegnerischen Strafraum. Wenn man den Ball durch einen vertikalen Pass verliert, dann ist das kein Problem - aber wenn man ihn bei einem Querpass verliert, dann zahlt man mit einem Gegentor dafür." Sätze, die auch von heute stammen könnten.

Dortmund chancenlos gegen Herreras Sklaven

SPOXMit dem offensivstarken Linksverteidiger Facchetti war Inters Spiel nicht nur auf Verhindern angelegt. Die Italiener konnten sich offensiv auf absolute Ausnahmekönner verlassen.

Aki Schmidt, der mit Borussia Dortmund 1964 im Halbfinale des Europpapokals der Landesmeister an Inter scheiterte, erinnert sich bei SPOX: "Facchetti war ein Modellathlet auf der linken Seite, Corso vor ihm ein wunderbarer Techniker, Mazzola im Sturm unglaublich schnell und Suarez dahinter der Regisseur. Das waren vier echte Granaten. Die hätten in jedem Spiel drei oder vier Tore schießen können. Aber das haben sie gar nicht versucht."

SPOXLibero Picchi dagegen war meilenweit vom eleganten, spielstarken Liberotyp eines Franz Beckenbauer oder Franco Baresi entfernt. Picchi war ein Ausputzer, der keine Probleme damit hatte, den Ball schmucklos ins Seitenaus zu befördern. (siehe Grafik)

Herreras Sklaven

Der BVB schied gegen Inter aus, weil ein 2:2 zu Hause nicht genug war, um die 0:2 Niederlage aus Mailand auszugleichen. Schmidt: "Wir waren selbst in einer Riesenverfassung, aber Inter war eigentlich unschlagbar. In Deutschland war damals gerade die Bundesliga gegründet worden. Wir waren ja noch gar keine Profis."

Im Gegensatz zu Inter, das von "Sklaventreiber Herrera" (Schmidt) auf einen für damalige Verhältnisse unglaublichen Fitnessstand gebracht worden war. Und taktisch top eingestellt war. Schmidt: "Ich machte damals gerade den Fußballlehrer in Köln, zusammen mit Hennes Weisweiler. Und wir haben damals Inters Taktik seziert. Wir wussten genau, was uns erwartet."

Trotzdem war gegen die in allen Belangen fitteren Italiener kein Kraut gewachsen. Schmidt: "Beim 2:2 in Dortmund war für uns etwas drin. Aber auch da haben die ganz früh ein Tor gemacht und standen dann hinten drin. Und in Mailand hatten wir keine Chance."

Gezielter Tritt in die Männlichkeit

Auch wenn die Begleitumstände skandalös waren. Dortmunds Hoppy Kurrat, der Gegenspieler von Regisseur Suarez, entnervte den Spanier so, dass der ihm einen gezielten Tritt in die Männlichkeit versetzte. Direkt vor den Augen des Schiedsrichters.

Schmidt: "Ich stand nur drei Meter entfernt, der Schiedsrichter fünf. Und das hat alle Welt gesehen. Aber der Schiri hat nichts gemacht. Hinterher hieß es, er habe von Inter eine goldene Uhr bekommen. Jedenfalls wurde er lebenslang gesperrt. Aber: Das war nicht der Grund, dass wir verloren haben."

Pillen im Kaffee

Dass Catenaccio bis heute als die Antithese des schönen Fußballs gilt, hat mehrere Gründe. Zum einen stellte Herrera selbst fest, dass seine vielen Nachahmer zwar seine Defensivtaktik übernahmen, aber seine Offensivprinzipien vernachlässigten. Und so viel Langeweile produzierten.

Und zum anderen waren da die unappetitlichen Gerüchte rund um die italienischen Teams, Inter im Besonderen. Ehemalige Spieler berichteten von Pillen, die Herrera seinen Akteuren verabreichte. Erst direkt, später in Kaffee aufgelöst.

Auch von Schiebung war die Rede. So soll es damals eine relativ kleine Gruppe von Schiedsrichtern gegeben haben, die auffällig oft Spiele italienischer Klubs in europäischen Wettbewerben leitete. Und die Partien, die von dieser Gruppe gepfiffen wurden endeten überdurchschnittlich häufig positiv für die Italiener.

"Verdammter Wehrdienst"

Herrera selbst war ebenfalls ein umstrittener Charakter. So nahm er seine Spieler rigoros an die Kandare, diktierte den Spielerfrauen den gewünschten Ernährungsplan und führte den sogenannten "Ritiro" ein, der vorsah, dass die Spieler die drei (!) Tage vor den Spielen im Hauptquartier des Klubs verbringen mussten, um sich voll auf die anstehende Aufgabe zu konzentrieren.

Manche klagten, dass sie ihre Zimmergenossen öfter sahen als ihre Ehefrauen. Alles war reguliert und als der englische Stürmer Gerry Hitchens den Klub verließ beschrieb er das mit folgenden Worten: "Es ist so, als ob man aus dem verdammten Wehrdienst entlassen wird." Herrera legte Wert auf Fitness und perfekte Vorbereitung. Und war einer der ersten Trainer, der Dossiers über die Gegner anlegte.

Quälix Herrera

"Man hat mir vorgeworfen tyrannisch und absolut gnadenlos gegenüber meinen Spielern zu sein. Aber ich habe lediglich Dinge eingeführt, die später von jedem Verein kopiert wurden: Harte Arbeit, Perfektionismus, physisches Training, Ernährungspläne und drei Tage Konzentration vor jedem Spiel."

Klingt irgendwie nach einer Seelenverwandtschaft mit Felix Magath. Eins hat er uns ganz sicher hinterlassen: Die ewige Diskussion nämlich, ob es Fußball wirklich nur darum geht, um jeden Preis zu gewinnen.

Um jeden Preis gewinnen stand jedenfalls nicht auf der Agenda des holländischen Fußballs. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewann unser heutiger fußballerischer Erzfeind nämlich so gut wie nie. Das änderte sich erst in den 60er Jahren. Mit einem Spieler namens Johan Cruyff, der am Freitag im Mittelpunkt steht...

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