Vermisst gemeldet bei der Polizei, vom Vater nach Schottland "getreten": "Braveheart" Gennaro Gattuso bei den Glasgow Rangers

Gabriel Wonn
20. Januar 202210:00
SPOXgetty
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Heute ist Gennaro Gattuso als Milan-Legende bekannt. Doch seine Weltkarriere startete mit einem kontroversen Deal, der den Italiener nach Schottland führte.

8. April 1997. Für die Beamten einer Polizeistation in Perugia dürfte es ein Tag sein, an den sie sich im Nachhinein noch erinnern würden. Zumindest staunen sie wohl nicht schlecht, als Alessandro Gaucci, niemand Geringeres als der CEO der AC Perugia, samt Entourage die Wache betritt - und einen Vermissten meldet.

Wenn der Klubboss sich höchstpersönlich um eine solche Angelegenheit kümmert, kann es sich ja nur um einen Star handeln. Nun ja, nicht wirklich - zumindest noch (!) nicht wirklich. Gaucci ist wegen eines Talents da. Wegen eines unbekannten Nachwuchskickers, den aber Jahre später ganz Italien, ja die ganze Welt kennen würde: Gennaro Gattuso.

Dessen Verschwinden trifft den Klub nur bedingt aus heiterem Himmel. Gaucci kann sich eigentlich denken, wo sich der 19-Jährige, der seit seinem zwölften Lebensjahr die Jugendmannschaften seines Klubs durchlaufen hatte, befindet.

Dennoch trifft der Vorfall die Verantwortlichen der AC Perugia schwer. Denn Gattuso fehlt nicht einfach mal beim Training, ohne dass jemand sagen kann, wie er verschwand. Insgeheim schwant es ihnen allen: Das Talent ist abgehauen. Und so ist es auch. Gattuso wird nie mehr für Perugia spielen.

Gattuso nimmt Rangers-Wechsel in die eigene Hand

Als er wieder auftaucht, ist er dort, wo ihn Gaucci vermutet: in Schottland - und damit auch mitten in einem internationalen Transferstreit. Der Junge hat in aller Eile seine Sachen zusammengepackt, ist durch das Fenster des vom Klub gestellten Apartments gestiegen und hat sich in die nächste Maschine nach Glasgow gesetzt.

Wenige Wochen zuvor hatten die traditionsreichen Rangers bei Perugia wegen eines Gattuso-Transfers angefragt. Der Verein hatte abgelehnt, doch die zähen Schotten keinesfalls aufgegeben. Stattdessen wurde der Spieler selbst kontaktiert, denn: Gattuso hat bis zu diesem Zeitpunkt keinen Profivertrag - und kann damit machen, was er will. Der Italiener wird zum Symbol eines sich verändernden Transfermarkts, der auch vor Talenten nicht Halt macht. Perugia versucht bei FIFA und UEFA alles, um sich das Juwel nicht einfach ohne jegliche Kompensation wegschnappen zu lassen - vergebens.

Gattuso unterschreibt bei den Rangers und ist erst dadurch vertraglich an einen Klub gebunden. Er selbst drückt es so aus: "Ich verstehe Perugia nicht. Sie wussten vom Vertrag mit den Rangers. Natürlich wollten sie nicht, dass ich das Angebot annehme, aber ich habe mich jetzt hier niedergelassen. Bevor ich gegangen bin, haben wir alle Regeln überprüft und was die Vermisstenmeldung angeht, kann ich nur sagen, dass ich kein Minderjähriger bin."

Heldenstatus dank Laudrup, Gascoigne und Trainer

Das Top-Talent weiß, dass dies seine Chance ist. Dass man ein solches Angebot annehmen muss. Und der Mittelfeld-Abräumer weiß auch, welch familiäre Konsequenzen eine Ablehnung der Offerte gehabt hätte: "Ich verdanke Perugia und der Gaucci-Familie so viel, sie haben mich zum Mann werden lassen. Aber ich hatte keinen Vertrag und habe keine einzige Lira verdient und daher konnte ich das Angebot aus Schottland nicht ablehnen. Hätte ich das getan, hätte mir mein Vater in den Arsch getreten ..."

Gattuso verdient in Glasgow nun 500 Millionen Lire pro Saison. Doch Geld ist nicht alles: Der Italiener will sich - passend zu seinem Spielstil - durchbeißen, sich einen Namen im Profigeschäft machen. Hierbei bekommt er prominente Hilfe: Neben einigen italienischen Neuverpflichtungen, die dem der englischen Sprache in keinster Weise mächtigen Juwel helfen, befinden sich die erfahrenen Stars Brian Laudrup und Paul Gascoigne im Team. Vor allem Skandalnudel "Gazza" nimmt den Jungen, dessen Spitzname "Rino" lautet, unter seine Fittiche - und sagt später über ihn: "Er war lustig, aber wenn er spielte, machte er immer seinen Job. Er war aggressiv, er wollte immer gewinnen. Er war nicht der talentierteste Spieler der Welt, aber er war ein Beweis dafür, dass man mit eisernem Willen Erfolg haben kann."

Klingt schon sehr nach dem späteren Weltstar, dem kalabrischen Wadenbeißer, dem furchteinflößenden Grätschen-Monster. Zu diesem entwickelt sich Gattuso bereits in Schottland. Der harte, körperbetonte Stil der Liga, die Förderung des Trainers Walter Smith (Zitat Gattuso: "Er war wie ein zweiter Vater für mich") und die Wertschätzung der schottischen Fans für unnachgiebige Kämpfernaturen lassen den jungen Italiener zu einem wahren Albtraum für Offensivspieler reifen. Die Fans taufen den aufopferungsvoll kämpfenden defensiven Mittelfeldspieler "Braveheart" - eine größere Auszeichnung kann es in Schottland nicht geben.

Gennaro Gattuso während seiner Zeit bei der AC Milan.getty

Gattuso: Wechsel von Glasgow zu Salernitana

Nach einem Jahr bricht das perfekte Kartenhaus zusammen. Die Rangers werden Zweiter in der Liga und verlieren das Pokalfinale - das reicht dem Traditionsklub nicht. Mit Dick Advocaat übernimmt ein renommierter Coach die Trainerbank, Gattusos Mentor Smith muss weichen. Der Holländer sieht den Kämpfer als Abwehrspieler, doch dieser weiß, dass das nicht funktionieren kann: "Die Probleme begannen, als er mich in der Abwehr spielen lassen wollte. Ich spielte dort in den ersten Saisonspielen, aber in der Zwischenzeit beauftragte ich meinen Agenten bereits damit, sich nach anderen Vereinen umzusehen."

Gattuso beweist wie in Perugia das Gespür für Momente, in denen es Zeit ist, neu zu beginnen. Nach nur einem Jahr verlässt er Schottland wieder, lehnt auch Angebote aus der Premier League ab. Er will zurück nach Italien, unterschreibt schließlich bei Salernitana und wird dort zum Rekordtransfer.

Moment mal - Salernitana? Ist das nicht irgendwie ein Schritt zurück? Nein, denn Gattuso weiß, was er tut. In Salerno kann er glänzen - und nur wer glänzt, fällt besonders auf. Der Kalabrier wird nur ein Jahr bei seinem neuen Klub bleiben, nach diesem wird die gesamte Serie A auf ihn aufmerksam geworden sein. Vor allem der Klub, bei dem Gennaro Gattuso 13 Jahre lang bleiben und zu einem der größten Mittelfeldspieler in der italienischen Fußballgeschichte aufsteigen wird. 1999 unterschreibt er bei der AC Mailand. Der Rest ist Geschichte.