"Meine Reaktion war: Was will Thomas denn?"

Jochen Rabe
15. September 201622:22
Giovanni Trapattoni und Thomas Strunz hatten bei Bayern München ein schwieriges Verhältnisgetty
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Titel in Italien, Portugal oder Deutschland, Erfolge als Spieler und Trainer, Kultfigur wegen prägnanter Zitate und einer historischen Wutrede - Giovanni Trapattoni hat im Fußballgeschäft schon alles erlebt. Die Trainerlegende sprach im Rahmen der Vorstellung seiner Biographie "Ich habe noch nicht fertig" im Delius-Klasing-Verlag über seine Zuneigung zu Deutschland, die Schwierigkeiten eines italienischen Bayern-Trainers und eine mögliche Taktik-Revolution durch das Platzen der Ballbesitz-Blase.

Frage: Herr Trapattoni, Sie kommen immer wieder gerne nach Deutschland zurück. Sie beschreiben auch in Ihrem Buch, wie wohl Sie sich hier fühlen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass Sie in Deutschland als Trainer große Erfolge gefeiert haben. Doch bereits in Italien haben Sie erfolgreich mit deutschen Spielern zusammen gearbeitet. Wie kam das zustande?

Giovanni Trapattoni: Als ich Ende der 80er Jahre Trainer von Inter wurde, traf ich dort auf Karl-Heinz Rummenigge. Den habe ich gefragt: 'Gibt es denn gute Spieler in Deutschland?' Er sagte ja. Also fuhr ich nach Deutschland und verpflichtete Brehme und Matthäus. Das war ein Glücksgriff. Mit den drei Spielern zusammen habe ich alles gewonnen.

Frage: Einige Jahre später holte Karl-Heinz Rummenigge Sie als Trainer zum FC Bayern. Die erste Amtszeit verlief unglücklich, nach einem Jahr war Ihr Engagement bereits beendet. Als Sie 1996 zum zweiten Mal nach München kamen, lief es mit dem Gewinn der Meisterschaft und des DFB-Pokals besser. Dennoch kam es am 10. März 1998 zu der Wutrede, die aus heutiger Sicht als legendär bezeichnet werden kann. Wie sind Ihre Erinnerungen an diese Zeit?

SPOX-Redakteur Jochen Rabe sprach im Bayerischen Hof mit Giovanni TrapattonispoxTrapattoni: Die Situation war so: Die Bayern waren es gewohnt, immer zu siegen und als Rummenigge mich damals geholt hat, hat er das getan, weil sie mit mir siegen und große Erfolge feiern wollten. Das war ja klar. Aber um meine Idee vom Fußball durchzusetzen, brauchte ich Zeit. Meine Sprache war natürlich noch nicht so ausgereift, hinter der deutschen und der italienischen Sprache steht eine andere Idee, da kam es häufig zu Missverständnissen. Und die Spieler mussten sich auch an meine Art des Trainings gewöhnen. So etwas dauert eben. Aber relativ schnell gab es heftige Kritik - und so kam es dann auch zu der Wutrede.

Frage: Wie lief das ab?

Trapattoni: Thomas Strunz hatte damals einen geschwollenen Knöchel. Er hat aber dennoch gespielt und wir haben das Spiel auf Schalke verloren. Es fühlte sich an, als hätte ich das Spiel verloren. Ich habe ihn aus dem Spiel genommen und er sagte vor der Presse, er könne nicht verstehen, warum er ausgewechselt worden sei. Und die Journalisten haben ihn verteidigt. Alle haben mich gefragt: Warum haben Sie ihn ausgewechselt?

Frage: Und dann ist Ihr Geduldsfaden gerissen?

Trapattoni: Meine Reaktion war dann zu fragen: Was will Thomas eigentlich? Das hat sich alles hochgeschaukelt, die Presse wollte, dass ich das sage. Das verlief alles sehr unglücklich. Auch da hat die Unterschiedlichkeit der Sprachen einiges schlimmer gemacht. Besonders unglücklich war, dass es sich mit Strunz um einen Spieler gehandelt hat, dessen Nachname in Italien eine - sagen wir mal - merkwürdige Konnotation hat. Nach der Pressekonferenz habe ich dann zu Bayern gesagt, dass ich mich zurückziehen und nach Italien zurückgehen werde.

Frage: Wie kamen Sie zu der Entscheidung?

Trapattoni: Ich wusste, dass ich nach dieser Wutrede nicht mehr mit der Mannschaft würde zusammen arbeiten können. Es wäre ein Riesenkonflikt entstanden - mit der Mannschaft, mit den Fans, mit der Presse. Deshalb war es meiner Meinung nach dann besser, mich rauszuziehen. Auch um zu vermeiden, dass ich als Vorwand für alle möglichen Schwierigkeiten und Probleme herhalten kann. Ich habe diese Entscheidung also auch zum Wohle des Vereins getroffen.

Frage: Ist es als Bayern-Trainer besonders schwierig, den Erwartungen gerecht zu werden?

Trapattoni: Das Schicksal des FC Bayern ist vergleichbar mit dem von Juventus. Sie sind immer die dominanten Mannschaften in ihrer Liga und jeder spielt gegen den FC Bayern, um den FC Bayern zu besiegen. Das ist eine besondere Situation, mit der ein Trainer und eine Mannschaft erst einmal zurechtkommen müssen.

Frage: Hatten Sie einen Lieblingsspieler in Ihrer Zeit bei den Bayern?

Trapattoni: Alle Spieler waren sehr gut und nur mit Champions kann man siegen. Ein Trainer ist immer gut, wenn er mit technisch starken und intelligenten Spielern zusammenarbeitet. Die Geschichte des FC Bayern zeigt, dass sie immer wieder eine sehr gute Mannschaft hatten, auch heute noch.

Frage: Sie schreiben, dass Ihnen die angeberische Art von Mehmet Scholl manchmal auf die Nerven ging.

Trapattoni: Mehmet Scholl war für mich ein goldener Junge. Er war fantastisch. Manchmal behielt er den Ball aber etwas zu lange am Fuß. Und dann musste ich anschreien: 'Mehmet, spiel den Ball weiter!' Aber die Spieler haben nicht immer das gemacht, was ich gesagt habe. Da wurde es schon manchmal ein bisschen lauter. Ich bin ja für meine emotionale Sprache auf dem Spielfeld bekannt. Ich war aber im persönlichen Gespräch mit Spielern wie Mehmet sehr offen. Da gab es keine Probleme.

Frage: Sie waren damals der erste italienische Trainer beim FC Bayern. Jetzt ist Carlo Ancelotti sozusagen in Ihre Fußstapfen getreten. Ihr Verhältnis zueinander ist von großer gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Sie haben gesagt, fachlich müssten Sie ihm nichts erklären, aber Sie haben ihm angeboten, ihm ein paar Tipps zur Mentalität der Verantwortlichen beim FC Bayern München zu geben. Was kann Ancelotti Ihrer Meinung nach mit dieser Mannschaft erreichen?

Trapattoni: Für Ancelotti ist es wie für jeden großen Trainer: Er braucht Zeit, um alles kennen zu lernen und seine Idee vom Fußball zu etablieren. Alles sofort zu erreichen, jeden einzelnen Titel sofort zu gewinnen, ist sehr schwierig. Aber wenn er alles versteht und die nötige Zeit bekommt, kann er mit dieser Mannschaft sowohl die Bundesliga als auch die Champions League gewinnen.

Frage: Sie haben als Spieler und Trainer auf Vereinsebene gewonnen, was man gewinnen kann - dabei wären Sie beinahe nicht beim Profifußball gelandet. Ihr Vater war nicht begeistert davon, dass Sie im Fußball Karriere machen wollten. Er wollte, dass Sie eine vernünftige Ausbildung machen. Anfangs haben Sie noch in einer Druckerei gearbeitet und nur nebenbei Fußball gespielt. Ihr Vater ist sehr früh gestorben und konnte große Teile des Erfolgs seines Sohnes nicht mehr erleben. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass er aus Kummer über Ihre fußballerischen Ambitionen verstorben sei. Können Sie das noch einmal erläutern?

Trapattoni: Das stimmt, mein Vater wollte nicht, dass ich Fußball spiele, sondern etwas Vernünftiges mache. Aber Milan hatte sich bei mir gemeldet und wollte mich verpflichten. Ich hatte einen gewissen "Wettbewerbsvorteil", denn ich war blond und als blonder junger Mann stach ich in Italien eben aus der Menge heraus. Deswegen fiel ich auf. Und als die Verantwortlichen von Milan bei uns zu Hause waren und mir das Angebot machten, für Milan zu spielen, hat mein Vater zugestimmt.

Frage: Wie ging es dann weiter?

Trapattoni: Als ich dann in der ersten Mannschaft gespielt habe - damals war ich so 20, 21 Jahre alt - sagte ich zu meiner Mutter, dass ich nicht möchte, dass Papa kommt, weil er so lange dagegen gewesen ist. Er hat also immer erst später erfahren, wie ich gespielt habe. Und eines Tages sagte er zu mir: 'Du wolltest nicht, dass ich dabei bin, aber jetzt ist es zu spät. Jetzt werde ich dich nicht mehr spielen sehen.' Und zwei Tage später ist er gestorben.

Frage: Ihr Buch heißt im italienischen Original sinngemäß "Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben". In Deutschland trägt es den Titel "Ich habe noch nicht fertig" nach Ihrem prägnanten Zitat bei der Wutrede. Sie haben angekündigt, dass Sie den Trainerberuf noch nicht an den Nagel hängen wollen. Welche Angebote hatten Sie zuletzt auf dem Schreibtisch?

Trapattoni: Ich hatte zwei Angebote von Nationalmannschaften in Afrika. Aber dort herrschten religiöse Kriege. Da hat meine Frau Paola zu mir gesagt, dass sie nicht will, dass ich dort hingehe. Also habe ich mich dagegen entschieden.

Frage: Aber Sie haben dennoch die Ambition, noch einmal als Trainer auf der Bank zu sitzen?

Trapattoni: Grundsätzlich ist es so, dass ich den Fußball immer noch sehr intensiv verfolge. Ich möchte jetzt nicht zu selbstbewusst erscheinen, aber ich schaue mir immer noch alle wichtigen Spiele an. Vor allem natürlich die Spiele des FC Bayern. Ich spüre in mir immer noch einen Sportsgeist und einen Wettbewerbsdrang. Und ich spüre auch nach wie vor diesen innovativen Prozess in mir. Mit einem gesunden Maß an Selbstbewusstsein kann ich sagen: Ich bin noch etwas wert, mit meiner Erfahrung und meinem Blick für das Spiel.

Frage: Wie reagiert Ihre Frau auf Ihre Ambitionen?

Trapattoni: Sie sagte zu mir: 'Du bist langsam zu alt.' Aber ich habe vor Kurzem ein Buch von einem Philosophen gelesen, der sagte: 'Alt ist, wer keine Anreize hat und wer sich keine Ziele mehr setzt.' Ich habe aber noch Ziele.

Frage: Wie sehen Sie als nach wie vor intensiver Beobachter die Entwicklung des Fußballs im Laufe Ihrer langen Karriere?

Trapattoni: Die größte Veränderung ist die Kommunikation, die mittlerweile global abläuft. Durch Fernsehen und Internet gibt es eine Vernetzung zwischen China, Afrika, Amerika, Europa - zwischen der ganzen Welt. Das alles vereint die unterschiedlichen Spielarten und die sportlichen Konzepte. Die Grenzen verwischen. Es gibt jetzt nicht mehr wie früher einen typisch deutschen Fußball oder einen Fußball der Chinesen. Alle Spiele tragen mittlerweile eine internationale Handschrift. Das Wissen über Fußball ist durch die modernen Kommunikationswege sehr transparent geworden.

SPOXspoxFrage: Welche konkreten Folgen hat das für die Spieler und Trainer?

Trapattoni: Die Spieler können heutzutage nichts mehr verbergen oder geheim halten. Meine Kollegen - sowohl die jüngeren als auch diejenigen, die schon etwas mehr Erfahrung haben - wissen alles über die Entwicklung des Fußballs, sie kennen die Spielweise von jedem Gegner auswendig. Man kann niemanden mehr überraschen. Deswegen geht es um die Kreativität und um die Fantasie auf dem Spielfeld.

Frage: Carlo Ancelotti hat kürzlich gesagt, dass die Blase des Ballbesitzfußballs langsam platzen und es eine Entwicklung hin zu mehr vertikalem Fußball geben wird. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Trapattoni: Zwischen dem taktischen Spiel von Pep Guardiola mit seinem Tiki-Taka und der Spielidee von Carlo Ancelotti ist schon ein riesiger Unterschied. Das sind zwei unterschiedliche Arten von Fußball. Bei Guardiola geht es mehr um den Ballbesitz, Ancelotti geht es eher um das vertikale, schnelle Spiel und das Spektakel des Toreschießens. Dafür braucht er Zeit. Daran muss er seine Spieler natürlich erst einmal gewöhnen. Ich glaube aber generell nicht daran, dass eines der Systeme aussterben wird. Beide Spielweisen können erfolgreich sein, wenn die Spieler sie richtig umsetzen. Eine Fußball-Revolution sehe ich da nicht.

Frage: Glauben Sie nach Ihren jüngsten Beobachtungen bei der EM, dass es grundsätzlich wieder eine Entwicklung in Richtung einer defensiveren Spielweise geben könnte?

Trapattoni: Es gibt zwei Sichtweisen auf den Fußball. Zum einen geht es um das Ergebnis, zum anderen geht es aber auch um das Erlebnis, um Emotionen. Beides gleichzeitig zu haben, ist manchmal schwierig. Es gibt schöne Spiele, in denen es wenige Emotionen gibt. Das sind einfach zwei verschiedene Philosophien. Aber glauben Sie mir, wenn ich zu Hause im Fernsehen ein Spiel sehe und es fällt lange kein Tor, dann springe ich auch auf und schreie: Schieß! Schieß doch endlich! Defensiv gut stehen hin oder her: Nur wer schießt, kann ein Tor erzielen - und darum geht es im Fußball.

Giovanni Trapattoni im Steckbrief