Früher war Ralf Rangnick unzufrieden über die grotesken "Nummerndecker" und vertraute als Trainer-Pionier auf die moderne Sechs: Der Chefcoach von 1899 Hoffenheim über Synchronisation, Altruismus und die Zukunft des Fußballs.
SPOX: Wer sind die ersten Sechser, an die Sie sich erinnern können?
Ralf Rangnick: Luis Fernandez, Frank Rijkaard, Carlos Dunga, Didier Deschamps und Josep Guardiola - wenn es um Sechser gehen soll, deren Teams konsequent in Raumdeckung und vorwiegend ballorientiert verteidigten.
SPOX: Ein Deutscher ist nicht darunter...
Rangnick: ... und das ist nicht weiter verwunderlich. Den Grund kenne ich aus eigener Erfahrung: Anfang der 80er Jahre wurde ich als Spieler häufig im defensiven Mittelfeld aufgestellt. Statt das Spiel mitzuorganisieren, sollte ich jedoch - wie es in Deutschland damals Gesetz war - lediglich den Hacki Wimmer mimen und den gegnerischen Spielmacher ausschalten. Hin und wieder bekam ich dafür ein dickes Lob vom Trainer und von der Presse - aber tief im Inneren habe ich damals schon gespürt, dass etwas falsch läuft. Wie konnte ich gut spielen, wenn ich vielleicht zehn Ballkontakte hatte und nicht aktiv am Spiel teilnahm?
SPOX: Sie klingen im Nachhinein etwas enttäuscht.
Rangnick: Als ich Spielertrainer in Backnang war, beobachtete ich eine Begegnung zwischen Schwäbisch Hall und Rommelshausen mit dem ehemaligen Stuttgarter Zehner Buffy Ettmayer, der ebenfalls als Spielertrainer gearbeitet hat. Schwäbisch Hall hatte einen solchen Respekt vor Buffy, dass sie ihm selbst bei eigenem Ballbesitz einen Bewacher hinstellten. Irgendwann war Buffy derart genervt von seinem jungen Gegenspieler, dass er einfach weit in die Hälfte des Gegners gesprintet ist, obwohl Rommelshausen gar nicht den Ball hatte. Dabei rief er seinem Gegenspieler zu: "Komm mit!" - und dieser war so verdutzt, dass er tatsächlich hinterher gerannt ist. Damit wollte Buffy seinem Nummerndecker und dem Publikum zeigen, wie grotesk die Manndeckung ist.
SPOX: Nummerndecker?
Rangnick: Der Begriff Manndecker oder defensiver Mittelfeldspieler hat früher nicht den Tatsachen entsprochen. Statt sich die Gegenspieler zu übergeben, hieß es immer nur seitens vieler Trainer: "Du musst den Spieler mit der Rückennummer X 90 Minuten lang decken, unabhängig davon, wohin er läuft." Daher: Nummerndecker.
SPOX: Wann entstand aus dem diffusen Gefühl der Unzufriedenheit die konkrete Idee, dass der Sechser anders interpretiert werden soll?
Rangnick: Mein Aha-Erlebnis war ein Testspiel von Backnang gegen das von Walerij Lobanowskyj trainierte Dynamo Kiew. Beeindruckend, wie sie mit allen Spielern konsequent Raumdeckung gespielt und klug verschoben und gepresst haben, so dass ich dachte, Kiew würde mit 13 Mann auf dem Platz stehen. Es war aus mannschaftstaktischer Sicht eine Demonstration. Und bereits damals setzte Lobanowskyj im defensiven Mittelfeld auf den blutjungen Oleksij Mychajlytschenko, der schon zu dem Zeitpunkt der Prototyp des modernen Sechsers war.
SPOX: Und in Deutschland?
Rangnick: Als Spiegelbild diente die deutsche Nationalmannschaft. Frankreich, Italien Spanien, selbst die Schweiz waren uns in der Jugend und bei den Senioren weit voraus, aber bedingt durch den WM-Sieg 1990 wurde bis Mitte/Ende der 90er Jahre am Libero festgehalten, weil es ja keinen Grund gegeben hätte, etwas umzustellen. Mit der Folge, dass wir als letzte Nation in Europa gemerkt haben, wohin die Entwicklung geht und dass im Zuge dessen die Sechser-Position neu erfunden wurde. Als ich mit Ulm 1998 in die 2. Liga aufgestiegen bin, haben von vier Zweitligisten und zwei Bundesligisten abgesehen alle Teams mit Libero, zwei Manndeckern und gegnerorientierten Sechsern gespielt.
SPOX: Und jetzt?
Rangnick: Dank der Bemühungen der Bundesliga-Nachwuchsleistungszentren und von DFB-Sportdirektor Matthias Sammer haben wir den 15-jährigen Rückstand ganz gut aufgeholt. Auf der Sechs beispielsweise gibt es mit den beiden Benders oder Sebastian Rudy viele Talente mit Perspektive, die irgendwann die Klasse von Schweinsteiger oder Khedira erreichen können, sofern sie Spielpraxis bekommen.
SPOX: Bei der WM überzeugten Schweinsteiger und Khedira als deutsche Doppelsechs - im Halbfinale gegen Spanien wurden ihnen jedoch die Grenzen aufgezeigt.
Rangnick: Das finde ich nicht. Vielmehr wurden der ganzen Mannschaft die Grenzen aufgezeigt, was das Spiel gegen den Ball anbelangt. Im Grunde waren Schweinsteiger und Khedira gegen Spanien die ärmsten Schweine auf dem Platz. Vorne drin hat Miroslav Klose zwar gut gearbeitet, aber bei der offensiven Dreier-Reihe dahinter mit Lukas Podolski, Mesut Özil und Piotr Trochowski war ballorientiertes Pressing nur phasenweise zu erkennen. Das hat Spanien perfekt ausgenutzt. Ein Schweinsteiger und ein Khedira reichen im Mitteldrittel des Platzes eben nicht aus, um eine solch überragende Ballstafetten-Maschinerie zu stoppen. Selbst foulen konnten die Deutschen nicht, weil sie anders als die Niederländer zu weit weg standen.
SPOX: Was auffiel: Während Podolski, Özil und Trochowski fast ausschließlich offensiv dachten und sogar Khedira häufig in die Tiefe ging, fühlten sich die spanischen Mittelfeldspieler für alle Aufgaben verantwortlich.
Rangnick: Deswegen ist das spanische Mittelfeld für mich der Inbegriff von Perfektion. Die Grenzen zwischen defensivem und offensivem Mittelfeld, beziehungsweise zwischen Sechser und Zehner, waren fließend. Selbst Andres Iniesta, der nominell als Rechtsaußen aufgestellt wurde, übernahm genauso wie Xavi, Sergio Busquets und Xabi Alonso Sechser-Aufgaben. Jeder war bereit, bei Ballverlust umzuschalten.
Hier geht's zum zweiten Teil: Rangnick über Altruismus, Iniesta und Ronaldo
SPOX: Wer hat Sie bei der WM am meisten beeindruckt?
Rangnick: Iniesta. Er ist der beste Spieler der Welt - und wird wohl der Vorreiter eines Trends sein, wonach ein Mittelfeldspieler auf allen Positionen, egal ob als Flügel, Zehner oder Sechser, annährend gleich gut ist. Er vereint in sich Altruismus, Torgefahr, Laufstärke und eine unglaubliche Raffinesse bei der Balleroberung, gleichzeitig dribbelt er je nach Bedarf auf engstem Raum drei Gegenspieler aus. Von seiner fehlenden Größe abgesehen hat er keine Schwächen.
SPOX: Sie haben als erstes Altruismus aufgezählt. Was verstehen Sie darunter?
Rangnick: Auf der Position des Sechsers - auch wenn Iniesta nicht der klassische defensive Mittelfeldspieler ist - muss man über eine fußballerische Sozialkompetenz verfügen. Er muss sich in allen Spielsituationen, defensiv wie offensiv, ständig verantwortlich fühlen, uneigennützig Löcher stopfen, für seine Mitspieler kraft seiner Präsenz und Laufbereitschaft ein Vorbild sein und darf keinen Ball verloren geben.
SPOX: Auf was achten Sie, wenn Sie nach möglichen Neuzugängen auf der Sechs scouten?
Rangnick: Neben den Soft Skills gibt es harte Kriterien, die eine gute Sechs mitbringen sollte. Doch sie gehen über die körperlichen Voraussetzungen hinaus, 90 Minuten hohes Tempo gehen zu können und bissig im Zweikampf zu sein, was in der Vergangenheit vielleicht ausgereicht hat. Angesichts der Tatsache, dass die klassischen Spielmachertypen wie Kaka, Lionel Messi oder Mesut Özil lieber auf die Flügeln ausweichen oder hinter der Spitze agieren, um dem gegnerischen Kreuzfeuer zu entfliehen, ist die Sechs mittlerweile der verkappte Spielmacher und muss dementsprechend Fähigkeiten in der Spieleröffnung mitbringen.
SPOX: Woran lag es, dass ein Schweinsteiger solange als Sechser verkannt wurde, obwohl er viele der von Ihnen genannten Anforderungen erfüllt?
Rangnick: In der Jugend, zum Beispiel der U 17 bis U 21, spielte Schweinsteiger immer im zentralen Mittelfeld, eher aus der Tiefe. Die Anlagen für eine Sechs zeichneten ihn damals schon aus. Da er aber einen guten (Fern-)Schuss hatte und dadurch torgefährlich war, wurde er bei den Profis in die offensive äußere Mittelfeld-Position gestellt. Dort genoss er als emotionaler, junger Gute-Laune-Spieler die Freiheiten in der Offensive - befreit von Defensivaufgaben -, und war auch in der Mannschaftshierarchie nicht derjenige, von dem Seriosität und Zuverlässigkeit erwartet wurde.
SPOX: Anders als bei den defensiven Mittelfeldspielern, die ganze Fußball-Epochen geprägt haben.
Rangnick: In den letzten 20, 25 Jahren waren die Sechser die Kommandogeber in fast jeder großen Mannschaft. Sie waren quasi die Co-Trainer auf dem Platz und dachten mit der nötigen Ernsthaftigkeit ähnlich strategisch wie der Chefcoach. Auf Matthias Sammer traf es insofern schon zu, weil er sich als "Vor"-Libero so verhielt wie ein heutiger, zentraler Sechser, obwohl seine Mitspieler damals alle noch einem Gegner hinterher rennen mussten. Und dass aus den eingangs erwähnten Fernandez, Rijkaard, Dunga, Deschamps und Guardiola allesamt europäische Top-Trainer wurden, ist kein Zufall, sie spielten aber bereits in Mannschaften, die komplett in der Raumdeckung verteidigten.
SPOX: In Hoffenheim wollen Sie den 22-jährigen Luiz Gustavo zum Sechser von internationalem Format formen - doch wie ein Leader wirkt er nicht. Wie passt das zusammen?
Rangnick: Er braucht noch etwas Zeit. Allein schon wegen seines Alters und der Sprach- und Mentalitätsprobleme kann er noch nicht das Charisma und die Autorität eines Deschamps ausstrahlen. Aber er bringt sich mittlerweile mehr ein und fordert die anderen auf, beim Pressing mitzumachen. Fußballerisch verkörpert er bereits jetzt viele Eigenschaften eines sogenannten "bleibenden Sechsers": Lauf - und Zweikampfstärke sowie ein gutes Gefühl dafür, wann er draufgehen oder wegbleiben soll.
SPOX: In Hoffenheims Kader stehen mit Gustavo, dem wuchtigen Isaac Vorsah, dem technisch beschlagenen Sejad Salihovic oder dem kleinen und giftigen Tobias Weis die unterschiedlichsten Sechser-Typen. Steckt Kalkül dahinter?
Rangnick: Schwierig zu sagen, es war auch ein wenig Zufall dabei. In unserer Zweitliga-Saison 2007/08 haben wir mit einer Doppelsechs gespielt, als jedoch im Winter Vorsahs Kreuzband riss, mussten wir handeln. Entweder wir kaufen einen hochwertigen Ersatz, der jedoch finanziell kaum zu stemmen gewesen wäre. Oder wir stellen taktisch um. Nachdem wir die Stärken und Schwächen von Gustavo, Weis oder Salihovic abgewägt haben, entschieden wir uns für die zweite Variante und setzten auf ein 4-3-3, das man von Barcelona kennt. Gustavo als zentraler Sechser, flankiert vom halbrechten und halblinken Sechser, die bei Ballbesitz fast zu Zehnern werden.
SPOX: Wie bilden Sie Ihre Mittelfeldspieler fort? Indem Sie ihnen Videos von Iniesta oder Andrea Pirlo zeigen?
Rangnick: Es geht immer um die Abstimmung mit den Nebenleuten, weswegen Videos von Spielern, die in anderen Mannschaften mit anderen Mitspielern auf dem Platz stehen, nur sehr begrenzt als Muster übertragbar sind. Daher setzen wir auf Individualschulung. Einerseits wird dem Spieler an der Taktiktafel theoretisch erklärt, in welchen Situationen er attackieren oder wie er verschieben soll. Andererseits haben wir eigene Spielformen im Training, um dieses Wissen praktisch zu vertiefen. Zusätzlich schneiden wir nach Bedarf von Testspielen alle Szenen eines Spielers zusammen und geben ihm die DVD. Nach ein oder zwei Tagen setzen wir uns zusammen und sprechen durch, was verbessert werden kann.
SPOX: Hoffenheims Mittelfeldspieler interpretieren ähnlich wie die Spanier ihre Aufgabe sehr variabel. Immer wieder werden Positionen gewechselt. Wird dadurch die Integration eines Neuzugangs nicht erschwert?
Rangnick: Das ist in der Tat eine große Herausforderung. Die Eingewöhnung für einen neuen Spieler wird aber dadurch erleichtert, dass unser Mittelfeldspiel bei eigenem Ballbesitz zwar sehr variabel ist, in der Verteidigung die Aufgaben jedoch relativ klar verteilt sind. Der Idealfall ist es, wenn der Neuzugang von einem Verein wie etwa dem VfB Stuttgart kommt, da diese Spieler wie bei einem Auto fast schon serienmäßig ein taktisches Verständnis mitbringen, das unserem sehr ähnelt.
SPOX: Ihnen ist die Vielseitigkeit eines Mittelfeldspielers besonders wichtig. Warum?
Rangnick: Weil ich davon ausgehe, dass sich die Unterteilung zwischen defensivem und offensivem Mittelfeld verlieren wird. Der Spielstil der Spanier war nur ein Vorbote einer grundsätzlichen Entwicklung. Zukünftig werden die Stars im Mittelfeld Spieler mit besonders vielfältigen Fähigkeiten sein wie Iniesta oder auch Thomas Müller, die sich uneigennützig in den Dienst der Mannschaft stellen. Offensiv-Spezialisten wie Ronaldo oder Arjen Robben hingegen sterben im Mittelfeld aus und werden immer weiter in den Sturm vorgezogen.
SPOX: Warum?
Rangnick: Die WM hat gezeigt, dass vor allem Mannschaften erfolgreich sind, die synchron funktionieren, wie es der ehemalige Milan-Trainer Arrigo Sacchi formuliert hat. Was Sacchi meint: Geniale Einzelaktionen sind wichtig, doch entscheidend für den Teamerfolg ist das abgestimmte, gemeinsame Handeln aller Spieler. Jeder muss gleichzeitig wissen, wann Pressing gespielt oder wann das Tempo herausgenommen werden muss. Und diese Synchronisation kann nur gewährleistet werden, wenn die zentralen Mittelfeldspieler die Vielseitigkeit mitbringen, im Spiel mit dem Ball und im Spiel gegen den Ball ein Gleichgewicht zu finden. Ein Mittelfeld-Spieler, den sich an einer spektakulären Offensiv-Szene ergötzt und das Umschalten nach Ballverlust "vergisst", gefährdet die Kompaktheit und öffnet Lücken für den Gegner.