Viele seiner Freunde sind tot oder im Gefängnis. Er selbst fand den Ausweg, ist heute eines der größten Talente und Nationalspieler Brasiliens. SPOX und GOAL werfen einen Blick auf Richarlison vom FC Everton.
Richarlison war 14 und nur wenige Meter vom kleinen Haus seiner Eltern entfernt, als er in den Lauf einer Pistole blickte. Vor ihm zwei junge Männer aus dem Viertel, nur ein paar Jahre älter als er. Die Waffen geladen, die Muskeln angespannt. Er spürte das kühle Metall an seiner Stirn, dachte an seine Familie. Nach ein paar Sekunden senkten die Gangster ihre Waffen, sagten Richarlison und seinen Freunden, sie sollen verschwinden und nie wieder kommen.
"Es war ihre Ecke zum Dealen. Ich denke, sie haben uns verwechselt", erinnert sich Richarlison auf der vereinseigenen Seite des FC Everton. "Ich hatte große Angst zu sterben." Die Dealer drückten nicht ab, Richarlison starb an jenem Abend im Jahr 2011 nicht. Er hat eine scheinbar hoffnungslose Jugend in Brasilien überstanden, aus der sich andere nie wieder befreien können. "Viele meiner Freunde sind entweder im Gefängnis oder tot, weil sie der Welt der Drogen und Waffen verfallen sind."
Die Erfahrungen von damals haben ihn geprägt, er schwor sich, es dort raus zu schaffen, denkt noch heute manchmal an die Tage, in denen Schüsse durch sein Viertel hallten - und er hat Wort gehalten, ist in der laufenden Saison mit sieben Toren in 13 Spielen einer der spannendsten jungen Spieler der Premier League.
Richarlison versucht, sein Geld legal zu verdienen
Seine Geschichte beginnt in Nova Venecia, nahe der brasilianischen Ostküste. Richarlison wächst als ältester Sohn eines Steinhauers und einer Putzfrau mit vier Geschwistern auf. Berufliche Perspektiven und Arbeitsplätze sind rar gesät. Während seine Teenager-Freunde an der Ecke Drogen verticken oder als Kuriere für die Gang im Viertel durch die engen Straßen flitzen, versucht Richarlison, sein Geld auf legalem Weg zu verdienen.
"Dort, wo ich gelebt habe, befand sich ein Umschlagspunkt für Drogenhandel. Ich habe stets versucht, mich davon fernzuhalten", erinnert er sich im Interview mit der Daily Mail. Stattdessen habe er Eis verkauft und Autos geputzt. "Es waren harte Zeiten."
Was ihm in diesen Zeiten stets hilft, ihn teilweise "morgens aufstehen ließ": der Fußball. Bereits in jungen Jahren darf er bei den heutigen Zweitligisten Figueirense und Avai vorspielen, wird jedoch prompt enttäuscht. "Bei Figueirense wurde mir gesagt, dass sie mich nicht wollen - an meinem Geburtstag. Das hat mich sehr traurig gemacht. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, aufzugeben", sagt er. "Aber als ich nach Hause kam, hat mir meine Familie Kraft gegeben. Auch mein Trainer bei Gazetinha (eine lokale Fußballschule, Anm. d. Red.) hat mich ermutigt, weiterzumachen."
Per One-Way-Ticket zum ersten Profivertrag
Mit zerrissenen Turnschuhen joggt er des Öfteren neun Kilometer zum Trainingsplatz der Fußballschule. Bis er eines Tages in die Nachwuchsmannschaft des lokalen Klubs Real Noroeste aufgenommen wird und bei der U20-Meisterschaft mitwirken darf. Renato Valesco, Geschäftsmann und heutiger Berater des Brasilianers, wird in dieser Zeit auf den Jungen aufmerksam und besorgt diesem zunächst ein Paar neue Schuhe. "Renato war der Erste, der mir eine Chance gegeben hat", sagt Richarlison.
Wenige Monate, nachdem er sich Real Noroeste angeschlossen hat, meldet sich der Traditionsklub America Mineiro und bietet dem Jungen ein Probetraining an - im 500 Kilometer entfernten Belo Horizonte. Trotzdem entschließt sich Richarlison, die weite Reise auf sich zu nehmen: "Ich hatte nur ein One-Way-Ticket. Das restliche Geld habe ich für Essen ausgegeben, weil ich so hungrig war."
"Es gab für mich keine andere Option, als das Probetraining zu bestehen" - und so kommt es letztlich, dass ihn die Klubverantwortlichen für die U17 verpflichten. Spätestens, als er dem Jugendteam per Traumtor zum ersten Meisterschaftstitel seit 17 Jahren verhilft, ist man endgültig von ihm überzeugt und Richarlison wird mit seinem ersten Profivertrag ausgestattet. In der Folge etabliert er sich in Windeseile bei der ersten Mannschaft, erzielt auf Anhieb neun Tore. Anfang 2016 folgt der Transfer zu Fluminense gleichbedeutend mit einer erneuten Leistungssteigerung. Nach 44 Spielen beim Klub aus Rio de Janeiro stehen 18 Scorerpunkte auf seinem Konto (elf Tore, sieben Assists).
Die überzeugenden Leistungen des Linksaußen rufen nun auch europäische Interessenten auf den Plan. Ein Transfer zu Ajax Amsterdam scheint im Sommer 2017 bereits beschlossene Sache zu sein, bis sich der FC Watford ins Werben um den Flügelspieler einschaltet. Richarlison wirft schließlich sämtliche Überlegungen bezüglich eines Wechsels nach Amsterdam über Bord -trotz der Aussicht auf Spielpraxis in der Champions League.
Richarlison trainierte bereits bei Watford unter Marco Silva
"Ich habe mich umentschieden, weil es schon immer ein Kindheitstraum für mich war, einmal in der Premier League zu spielen", sagt Richarlison. Folglich sei der Deal innerhalb von drei Tagen über die Bühne gegangen. Ein entscheidender Faktor bei der Verpflichtung ist der damalige Watford-Trainer Marco Silva: "Er ist extra nach Brasilien gekommen, um mich nach England zu holen und mir dabei zu helfen, den Traum von der Premier League zu verwirklichen."
Trotz der fremden Umgebung akklimatisiert Richarlison sich auf Anhieb, sammelt in seinen ersten zehn Auftritten sechs Scorerpunkte und steht in jedem der 38 Premier-League-Partien auf dem Platz. Silva, den Richarlison einst als Vaterfigur bezeichnete, muss im Januar aufgrund einer Durststrecke von lediglich einem Sieg aus elf Spielen den Hut nehmen. Die Trennung der beiden sollte allerdings nur von kurzer Dauer bleiben.
Als Silva im vergangenen Sommer als Trainer bei Everton anheuert, ist es eine seiner ersten Amtshandlungen, den ehemaligen Schützling zu sich zu holen. Richarlison avanciert mit rund 40 Millionen Euro Ablöse zum Rekordtransfer der Toffees. Ein Betrag, der zunächst vielerorts Unverständnis auslöst. 13 Einsätze und sieben Tore später ist von der monströsen Ablösesumme jedoch längst keine Rede mehr.
Neymar über Richarlison: Er kann Spiele entscheiden
"Ich will am Ende Topscorer der Liga sein, Everton dabei helfen, sich für die Champions League zu qualifizieren und mir dadurch eine Chance in der brasilianischen Nationalmannschaft erarbeiten", sagt Richarlison vor der Saison vollmundig zu UOL Esporte.
Damals hätte er wohl noch nicht geahnt, dass sein großer Wunsch so schnell in Erfüllung gehen würde. Mit seinen Leistungen spielt sich Richarlison schließlich umgehend in den Fokus von Brasiliens Nationaltrainer Tite, der ihm am 8. September zum Debüt gegen die USA verhilft.
Drei Tage später folgt beim 5:0-Heimerfolg gegen El Salvador der erste Auftritt von Beginn. Keine Viertelstunde ist gespielt, als Richarlison per unhaltbarem Schlenzertor ein erstes Mal für Entzücken auf den Rängen sorgt. In der zweiten Halbzeit krönt er seine Leistung mit seinem zweiten Treffer zum zwischenzeitlichen 4:0.
Nicht nur die Anhänger der Selecao sind in Folge begeistert vom Wirbelwind. Auch Landsmann und PSG-Superstar Neymar zeigt sich angetan: "Er hat diese besondere Fähigkeit, Spiele zu entscheiden, so wie er das gerade bei Everton macht."
Tore für die Selecao und in der Premier League, Lob von Neymar - Richarlison hat es geschafft. Aus Nova Venecia auf die große Fußballbühne. Vom Teenager, der in den Lauf einer Waffe blickte, zu einem, den die Jugendlichen in Brasilien millionenfach bewundern - und der ihnen Hoffnung gibt, es eines Tages selbst zu etwas zu bringen.