Stephan Lichtsteiner ist unumstrittener Stammspieler bei Juventus Turin und führt mit den Bianconeri zusammen mit Meister Milan die Serie-A-Tabelle an. Im Interview spricht der Schweizer Rechtsverteidiger über die Weltmarke Juventus, die Geheimnisse von Trainer Antonio Conte, ein spezielles Erlebnis mit Andrea Pirlo und einen prägenden Aufenthalt in Mosambik.
SPOX: Herr Lichtsteiner, Juventus steht zusammen mit Meister Milan an der Spitze - und unweigerlich macht im Umfeld das Wort Scudetto die Runde.
Stephan Lichtsteiner: Unser großes Ziel ist die Qualifikation für die Champions League. Das ist für uns Spieler, die Fans und den Verein extrem wichtig. Juve ist eine Weltmarke und den Verein über zwei Jahre nicht in der Königsklasse zu sehen, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Klar, wenn es für ganz oben reicht, sagen wir nicht nein, aber Milan ist extrem stark und Udinese, Inter, Napoli, sowie Lazio sind auch vorne dabei.
SPOX: Welche Rolle spielt das neue "Juventus Stadium" für die Mannschaft?
Lichtsteiner: Die Heimspiele sind immer extrem wichtig. Wenn wir jetzt im neuen Stadion vor einem hervorragenden Publikum und bei dieser tollen Stimmung spielen, gibt es uns zusätzliche Power.
SPOX: Das Stadion ist also ein Faktor für die Mannschaft?
Lichtsteiner: Natürlich. Die Spiele sind nicht von vornherein gewonnen, aber die Stimmung gibt dir weitere Energie, dass du den einen zusätzlichen Schritt machst. Dadurch steigt unser Selbstvertrauen und die Gegner sind eingeschüchtert, wenn sie zu uns kommen.
SPOX: Ihr Name wird für immer mit dem neuen Stadion verbunden sein: Sie haben das erste Pflichtspieltor erzielt.
Lichtsteiner: Für mich persönlich war das ein super Augenblick. Für einen Verteidiger ist es immer speziell, so weit vorne zu sein und dann auch noch zu treffen. Das Wichtigste ist aber, dass wir die Spiele gewinnen. Wer dann die Tore macht, ist eigentlich nebensächlich.
SPOX: Juventus ist einer der größten Vereine der Welt. Im Zusammenhang mit den Bianconeri ist immer wieder vom "spirito Juve" die Rede. Wie zeigt sich der?
Lichtsteiner: Der war von Anfang an zu spüren. Juve ist eine Weltmarke und gehört zu den wichtigsten Vereinen der Welt. Es ist normal, dass es im Lauf der Vereingeschichte vielleicht auch Phasen gibt, in denen es nicht so läuft, wie es der Klub eigentlich gewohnt ist - so wie es Juve in den letzten Jahren ergangen ist. Zweimal Platz sieben war alles andere als Juventus-like. Deshalb hat man von Beginn an den Druck, aber auch den Hunger der Klubführung und der Spieler gespürt: Wir sind Juve und müssen zeigen, dass wir nicht damit zufrieden sind, nur für den Verein zu spielen, sondern für ihn zu gewinnen. Das ist das Wichtigste und das bekommen wir auch eingehend von unserem Trainer eingetrichtert, der ja jahrelang für den Klub gespielt und sehr viel gewonnen hat. Diese Mentalität übermittelt er uns.
SPOX: Was macht Antonio Conte aus?
Lichtsteiner: Abgesehen davon, dass er ein sehr guter Fußballer war und alles mitbringt, was man taktisch und technisch wissen muss, ist er ein super Trainer. Er kennt den Verein, was extrem wichtig ist und er hat die Fans hinter sich. Conte ist die pure Entschlossenheit, er will immer gewinnen. Er verlangt in jedem Training das Maximum und ist nach keinem Spiel so richtig zufrieden. Conte lässt einfach nicht nach.
SPOX: Juve tritt unter Conte taktisch sehr variabel auf: Zuerst bevorzugte der Coach das 4-2-4-System, dann stellte er auf 4-3-3 um und in Neapel hat er im 3-5-2 spielen lassen.
Lichtsteiner: Das ist eine weitere Qualität des Trainers. Er schafft es, uns im Training die Systeme samt Laufwege und allem was dazu gehört sehr gut zu erläutern. Er weiß, wie der Fußball funktioniert und er kann sich anpassen. Als Juve gibt es nicht viele Spiele, in denen du dich anpasst, aber gegen Napoli war es wichtig, da sie ein spezielles System spielen.
SPOX: Conte verkörpert die "Juventinitá" wie kaum ein zweiter. Dieser Geist scheint wieder zurück zu kehren.
Lichtsteiner: Das stimmt. Wobei man auch sagen muss, dass er schon letztes Jahr mit Siena in der Serie B hervorragenden Fußball gespielt und seine Ideen vermittelt hat. Jetzt versteht man auch, wieso die Juve-Fans so hinter ihm stehen: Man sieht eine Mannschaft, die guten Fußball spielt und die 90 Minuten Vollgas gibt.
SPOX: Immer Vollgas - das deckt sich mit Ihrer Spielweise.
Lichtsteiner: Ja, ich denke wir spielen fast schon englischen Power-Fußball. Diese Art zu spielen ist sehr kraftraubend, deshalb ist es für uns von Vorteil, dass wir nicht international spielen. Für mich ist dieser Stil perfekt, ich bin auch einer, der sowohl offensiv als defensiv immer Vollgas geben will. Ich marschiere die Linie seit mehreren Jahren rauf und runter, auch bei Lazio und Lille habe ich so gespielt. Und wenn mich die Fans weiter so anfeuern wie bisher, lasse ich erst recht nicht nach.
SPOX: Sie haben sich in Turin sofort sehr gut zurechtgefunden und sind zusammen mit Andrea Barzagli der einzige Spieler, der in den bisherigen 17 Ligaspielen immer durchgespielt hat. Sind Sie überrascht, dass es so schnell ging?
Lichtsteiner: Eigentlich nicht, denn es ist ja nicht so, dass ich die Liga gewechselt habe: Ich kenne die Serie A und die italienische Mentalität schon seit drei Jahren, und ich spreche die Sprache. Das hat mir die Eingewöhnung erleichtert. Dazu kommt, dass Juve nach zwei, drei schweren Jahren wieder gewisse Erwartungen hatte. Aber es ist schön, dass es so schnell geklappt hat und die Mannschaft in dieser Saison wirklich vorne mitspielen kann. Für mich war es der richtige Wechsel, um mich fußballerisch und persönlich weiter zu entwickeln. Mit all diesen Spielern und Persönlichkeiten zu arbeiten, ist ein Traum.
Seite 2: Lichtsteiner über Pirlo, Vidal und ein prägendes Erlebnis in Mosambik
SPOX: Andrea Pirlo war der Königstransfer des Vereins. Was macht ihn so wichtig für das Juve-Spiel?
Lichtsteiner: Ganz einfach: Es ist unglaublich, wie er der Mannschaft im spielerischen Sinn hilft. Er verteilt die Bälle super und kann sich aus zwei, drei Gegenspielern befreien. Man muss sich nur 20 Minuten eines Spiels anschauen, um zu sehen, welche Qualität er hat. Andrea ist in der Kabine extrem wichtig, denn er hat schon alles gewonnen, arbeitet aber wie ein Tier und macht jeden Lauf im Training mit. Er ist einfach ein Vorbild für alle.
Andrea Pirlo: Ein Ufo im Juve-Dress
SPOX: Sie hatten ein spezielles Erlebnis mit ihm im Sommer-Trainingslager in Bardonecchia.
Lichtsteiner: Ich war erst seit zwei Wochen da, als er mir sagte: 'Du kannst mir den Ball wirklich spielen, auch wenn ich mehrere Gegner um mich rum habe.' Ich dachte mir: Das kannst du nicht machen, du bringst ihn ja in Schwierigkeiten und er macht eine schlechte Figur. Dann habe ich ihn aber doch angespielt, denn er hat mir noch einmal gesagt, ich solle mir keine Gedanken machen. Da sah ich, wie er sich aus der Bedrängnis befreite und die Seite wechselte - und seitdem mache ich mir überhaupt keine Sorgen mehr. (lacht) Das war beeindruckend - die ganze Art und Weise, wie er auf mich zugekommen ist.
SPOX: Pirlo ist eher ein stiller Leader, keiner, der auf dem Feld groß aus sich herausgeht.
Lichtsteiner: Das stimmt, aber ein Leader muss ja nicht immer den Mund offen haben. Bei Gianluigi Buffon ist es genau so, auch er ist eine wichtige Leaderfigur. Für mich ist er immer noch der beste Torhüter der Welt, seine Qualitäten und seine Persönlichkeit sind unglaublich. Und Kapitän Alessandro Del Piero ist ein weiterer Anführer.
SPOX: Ein weiterer Neuzugang, der sich sehr gut eingefunden hat, ist Arturo Vidal.
Lichtsteiner: Arturo ist extrem wichtig für uns - auch in der Kabine, denn er ist ein sehr lustiger Kerl. Er hat sich super eingelebt, was nicht selbstverständlich ist, denn er kam aus einer fremden Liga und sein Italienisch ist auch noch nicht perfekt. Seine Qualitäten hat man von Anfang an gesehen, er ist in unserem Spiel ein extrem wichtiger Faktor. Dazu macht er was die Persönlichkeit angeht weiter Fortschritte. Manchmal unterhalten wir uns auf Deutsch, aber meistens sprechen wir italienisch, denn so lernt er die Sprache schneller.
SPOX: Sie sind unumstrittener Stammspieler, laut "Gazzetta dello Sport" einer der notenbesten Verteidiger der Liga und standen auch schon in "Europas Top 11 des Wochenendes" der "Equipe". Trotzdem stehen Sie als Abwehrspieler nicht im Rampenlicht. Stört Sie diese fehlende Aufmerksamkeit?
Lichtsteiner: Nein. Natürlich ist es so, dass ein Angreifer mehr Anerkennung bekommt. Er verdient meistens mehr und muss auch weniger laufen als wir. (lacht) Aber das ist einfach so. Man sieht im Fernsehen öfter ein Tor, als wenn ein Treffer verhindert wird. Das sehen meistens nur die Experten. Eifersüchtig bin ich deshalb aber überhaupt nicht. Mir macht es Spaß und ich bin froh, wenn die Stürmer vorne den Unterschied ausmachen und wir hinten einen ruhigen Abend haben.
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SPOX: Sie hatten auf dem Weg zum Profi immer wieder Hürden zu überwinden, beispielsweise eine Fußdeformation. Hat Sie das zu dem Menschen und Spieler gemacht, der Sie heute sind?
Lichtsteiner: Ich habe es nie als Hürde empfunden. Für mich hat der Fußball immer sehr viel Spaß bedeutet, jede freie Minute habe ich damit verbracht. Es gibt im Leben manchmal auch Situationen, in denen man nicht so glücklich ist oder sich viele Gedanken macht. Wenn man dann aber nur ein bisschen nachdenkt, dann muss man sich eingestehen: Wir haben ein extrem schönes Leben. Natürlich gab es auch für mich schwierigere Zeiten, aber das gehört dazu. Von dem her ist es sicher auch das, was mich stark gemacht hat. Dazu kommt, dass ich eine tolle Jugend hatte und ein sehr gutes Familienleben habe. Das ist heute auch nicht mehr selbstverständig.
SPOX: Sie waren im Sommer 2009 für das Hilfswerk "Solidarmed" in Mosambik.
Lichtsteiner: Das war für mich eine Erfahrung fürs Leben. Ich ging da hin und dachte mir davor: Oh, diese Menschen haben ja nichts - und das ist auch so. Aber was sie aus diesem Wenigen machen, das hat mich so wahnsinnig beeindruckt. Diese Menschen haben mehr gelacht, als wir in der Schweiz, wo wir alles haben. Die Fußbälle bastelten sie sich aus Einkaufssäcken, die Steinschleudern aus Kondomen. Diese Lebensfreude hat mich berührt. Für mich war wichtig, dass wir der Schweiz und Europa zeigen, dass es viele Leute gibt, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Man muss darüber sprechen und den Leuten klar machen: Hey, es gibt noch ein anderes Leben auf der Welt - Menschen, denen es nicht so gut geht. Das kann auch eine Lehre für uns sein: Seit mit dem, was ihr habt, wirklich glücklich - auch wenn ihr eine schwere Zeit durchlebt. Denn wir haben wirklich alles. Alles. In Mosambik ist es schon Luxus, wenn du nicht mehr als vier Kilometer laufen musst, um Wasser zu holen.
SPOX: Nach solchen Erfahrungen relativiert sich einiges.
Lichtsteiner: Genau. Manchmal schäme ich mich auch selbst, wenn ich einen schlechten Tag habe oder sauer bin. Es ist beinahe eine Frechheit, dass man sich über Dinge aufregt, die andere Leute gar nicht kennen.
SPOX: Gibt Ihnen diese Erfahrung auch Kraft?
Lichtsteiner: Und wie. Es relativiert alles und holt einen auf den Boden zurück. Ich sage mir dann: Reiß dich zusammen, es gibt Leute auf der Welt, die haben kein so schönes Leben wie du. Das ist immer wieder eine Motivation und hilft auch, unser Leben zu rechtfertigen - denn der Unterschied ist so groß, den muss man mit eigenen Augen gesehen haben.
Stephan Lichtsteiner im Steckbrief
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