NBA-Kolumne Above the Break: Wie die Warriors ihre Magie wiedergefunden haben

Ole Frerks
24. November 202111:05
Im System Stephen Curry funktionieren Dinge, die anderswo nicht möglich erscheinen.getty
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Die Golden State Warriors grüßen mal wieder von der Spitze der Liga und dominieren in mehreren Kategorien. Sie gehen dabei unkonventionell vor - aber genau das scheint sich wieder einmal auszuzahlen. Dabei spielt auch der Sohn einer Legende eine große Rolle.

Nicht selten fühlt man sich derzeit an die Jahre 2014 bis 2016 erinnert. Die Golden State Warriors grüßen von der Spitze der Liga, sie haben fast 90 Prozent ihrer bisherigen Spiele gewonnen (15-2) und derzeit mit einigem Abstand das beste Net-Rating der Liga (+13,3 laut Cleaning the Glass). Und auch der Hauptprotagonist ist derselbe.

Stephen Curry, 2015 und 2016 jeweils MVP, ist in der Frühphase der Saison erneut der Favorit auf diesen Award, auch wenn es natürlich noch zu früh dafür ist; Curry bleibt die beste Show (mindestens) dieser Sportart, ein Phänomen, das seinesgleichen sucht. Seine 28 Punkte im Schnitt verdeutlichen seinen Impact dabei nicht ansatzweise.

Curry ist eine der tödlichsten Offensiv-Waffen der NBA-Geschichte, ein System für sich, und er befindet sich offensichtlich immer noch in seiner Prime. Das war allerdings auch in der vergangenen Saison der Fall - damals waren Currys Zahlen sogar besser. Golden State belegte offensiv trotzdem nur Platz 21 ... derzeit stehen die Warriors hier auf Platz 2.

Das ist kein Zufall. Die Rückkehr der Warriors zur Relevanz beginnt zwar mit Curry, aber sie ist zu einem großen Anteil auch dank des Personals um ihn herum möglich. Und dank einer entscheidenden Zutat: Geduld.

Warriors: "Kumbaya Kerr" vs. Stephen Curry

Golden State spielt seit Jahren, im Prinzip seit der Ankunft von Steve Kerr im Jahr 2014, einen unkonventionellen Basketball. In Kerrs System sollen sich alle Spieler beteiligt fühlen, das Ganze lebt von Bewegung des Balles und der Spieler, der Coach selbst spricht immer wieder von "Freude", die das ganze Team empfinden soll.

Wie vergangene Saison schon geschrieben, bedeutet das unter anderem, dass Curry nur einen Bruchteil der Pick'n'Rolls pro Spiel läuft, die etwa Trae Young, Luka Doncic oder James Harden für sich selbst ansagen. Er ist exzellent darin, auch in dieser Saison, aber die Warriors setzen diese Waffe nur dosiert ein - das war sogar der Fall, als sie in Curry und Kevin Durant die womöglich gemeinste Pick'n'Roll-Kombination der Ligahistorie aufbieten konnten (oder besser: hätten aufbieten können).

NBA: Die Spieler mit den meisten Pick'n'Rolls pro Spiel

RangSpielerPick'n'Rolls/SpielPunkte/Play
1Trae Young14,20,99
2Luka Doncic12,80,90
3Donovan Mitchell121,03
4Ja Morant110,94
5De'Aaron Fox10,20,85
6Paul George9,80,78
7Damian Lillard9,70,79
8Dejounte Murray9,40,68
9DeMar DeRozan9,30,93
10Malcolm Brogdon9,11,06
32Stephen Curry6,41,03

Curry verbringt als Folge dieses Systems mehr Zeit abseits des Balles als jeder Star-Lead-Guard in der NBA, womöglich sogar in der NBA-Historie, was nicht frei von Kritik ist. Warriors-Fans verspotten Kerr seit Jahren als "Kumbaya Kerr", weil er sich weigert, einfach wie alle anderen den Ball in die Hände seiner besten Spieler zu legen.

Auch Durant machte sich in seinen Jahren bei den Dubs von Zeit zu Zeit darüber lustig, kein Wunder, schließlich kannte er zuvor in OKC das exakte Gegenteil. Andererseits zog ihn wohl auch dieses Unkonventionelle damals nach Golden State; und in der Gegenwart sehen wir, wie sehr es sich lohnen kann, wenn Spieler das System tatsächlich verinnerlichen.

Warriors: Der Supporting Cast passt (wieder)

Currys Anziehungskraft ist selbst in der NBA mit all ihren starken Schützen unvergleichlich, nicht zuletzt dank seiner ständigen Bewegung und Aktivität als Blocksteller abseits des Balles. Es ist ein kompliziertes und nicht das richtige Ökosystem für jeden Spieler. Kelly Oubre etwa fand sich in der vergangenen Saison bei den Warriors nie wirklich zurecht und wurde folgerichtig in der Offseason nicht gehalten.

Nun sieht das Curry umgebende Personal wieder anders aus, teilweise zumindest. Draymond Green ist als kongenialer Partner immer noch da und spielt seinen besten Regular-Season-Basketball seit Jahren (dabei war er schon 20/21 bärenstark). Andre Iguodala ist zurück und trotz seiner 37 Jahre in manchen Spielen nicht zu vergleichen mit der Miami-Version der vergangenen zwei Jahre.

Die neuen Veteranen haben sich gut eingefügt, auch deshalb, weil sie nicht für ihr Potenzial, sondern für ihre Spielintelligenz geholt wurden. Otto Porter und Nemanja Bjelica treffen jeweils über 40 Prozent ihrer Dreier, speziell der Serbe wirkt, als hätte er seine gesamte (NBA-)Karriere darauf gewartet, endlich in diesem System zu spielen.

Es gibt im System Curry offensiv nur wenige Skills, die so wichtig sind wie das Ausspielen von Überzahlsituationen, die dadurch entstehen, dass Curry selbst ohne Ball regelmäßig zwei Verteidiger bindet. Bjelica ist exzellent darin, das Spiel zu lesen und den Ball weiterzubewegen, auch aus dem Post, und somit zu einem der wichtigsten Verbindungsstücke der Offense nach Green (dem GOAT in der Hinsicht) und Iggy geworden.

Warriors: Geduld zahlt sich aus

Die Geduld wiederum zahlt sich bei anderen Spielern aus, gerade bei den Jüngeren. Jordan Poole wechselt zwischen Rollen und läuft in den Minuten ohne Curry viele der Plays, die der Chef sonst höchstpersönlich läuft, neben Curry liefert er vor allem Spacing. Andrew Wiggins hat sich in knapp zwei Jahren vom einstigen Enigma zum wertvollen Rollenspieler entwickelt.

Damion Lee spielt in seiner mittlerweile vierten Saison bei den Dubs den besten Basketball seiner Laufbahn, auch wenn er seine überragende Form der ersten fünf Spiele nicht ganz halten konnte. Kevon Looney ist seit Jahren unter "solider Arbeiter" im NBA-Duden zu finden. Und dann ist da noch der faszinierendste Spieler von allen: der Fäustling.

Gary Payton II ist offiziell seit 2016 ein NBA-Spieler, "The Mitten" hat mit seinem berühmten Vater spielerisch jedoch nur die Defense gemein und steht in diesen Jahren nur bei 87 Einsätzen in der Liga. Seit Jahren galt er als einer der besten Guard-Verteidiger der Welt, seine Offense jedoch war so limitiert, dass es seinen bisher vier Teams schwer fiel, eine Rolle für ihn zu finden. In Jahr zwei haben die Dubs das nun offensichtlich geschafft.

Wie Gary Payton II zum kleinsten Center der Liga wurde

Payton ist neuerdings gewissermaßen der kleinste Center der Liga. 23 Prozent seiner Field Goals in dieser Spielzeit sind Dunks, in dieser Liste stehen laut basketball-reference.com ausschließlich Big Men vor dem 1,91-m-Mann. Seinen Abschlüssen geht zu fast 90 Prozent ein Assist voraus, auch das spricht mitnichten für einen konventionellen Guard.

Payton ist etwas anderes - ein Play-Finisher. Er hat gelernt, sich im System der Warriors zu bewegen, Lücken zu finden und dann seine Athletik einzusetzen. Bei 52 seiner 56 Abschlüsse in dieser Saison gab es vorher maximal 1 Dribbling. Immer wieder erkennt er es, wenn sein Verteidiger eine Millisekunde zu sehr auf Curry fixiert ist, und lässt es im Anschluss krachen.

Die Warriors generieren 1,67 Punkte aus Plays mit einem Payton-Cut, wenn dieser entweder selbst abschließt oder, seltener, ein Teamkollege nach Pass von ihm abschließt. Das ist quasi zu gut, um wahr zu sein (97. Perzentil). Es gibt nicht viele Plays dieser Art (1,3 pro Spiel), aber sie verdeutlichen gut, wie ein limitierter Offensivspieler im richtigen System zur Waffe werden kann. Payton trifft den Dreier bei sehr geringem Volumen momentan auch gut, wird dabei allerdings auch selten bis nie verteidigt.

Bruce Brown bei den Nets ist dafür ein anderes Beispiel, ähnlich wie Brown kann Payton sich vor allem aufgrund der Brillanz neben ihm so entfalten. Bei den meisten Teams wäre das in dieser Art nicht möglich, aber im Warriors-Ökosystem klappt es - und Payton kann sich mehr Zeit denn je verdienen, um sein bestes Asset, die Defense, mit einzubringen.

Warriors: Die Defense ist wieder elitär

Überhaupt, die Defense: Mehr noch als in der Offensive haben die Warriors hier ihre alte Dominanz zurück. Es zeichnete sich schon in der Vorsaison ab, in der Green sich zurück in die DPOY-Konversation spielte, in der laufenden Spielzeit sieht das Ganze (und Draymond) sogar noch besser aus.

Auch hier kann eine Vielzahl von Spielern genannt werden, die ihren Beitrag leisten, neben der institutionellen Genialität von Green und Iguodala sticht etwa auch Rookie Jonathan Kuminga mit seinem Potenzial in dieser Disziplin heraus. Und Payton eben auch: Der Fäustling ist ein ständiger Terror für gegnerische Ballhandler, pro 100 Ballbesitzen sammelt er 4,7 Steals ein - das ist mit Abstand Platz 1 ligaweit (Platz 2: Alex Caruso mit 3,7). Etliche der zahlreichen Transition-Angriffe der Warriors starten mit einem Ballgewinn durch ihn.

Payton bricht sogar mit einer alten Tradition. Seit 2014 ist es eigentlich Gesetz, dass Curry und/oder Green das Team bei der On/Off-Differenz anführen. Momentan ist Payton der König: CTG zufolge sind die Warriors in seinen Minuten um satte 26,8 Punkte besser als ohne ihn. Nicht schlecht für einen Spieler, der noch vor der Saison von den Warriors entlassen und wenige Tage später wieder unter Vertrag genommen wurde.

Warriors: Was bedeutet der Saisonstart?

Nun fragt sich, wie aussagekräftig dieser Start von Payton, vor allem aber von den Warriors als Team wirklich ist. Im Prinzip könnte es nicht besser laufen, zumal Verstärkung unterwegs ist: Klay Thompson könnte in der Woche vor Weihnachten zurückkehren, auch bei James Wiseman gibt es langsam Fortschritte.

Niemand weiß, wie Thompson nach zwei vollen Jahren Verletzungspause aussehen wird, die größeren Fragezeichen stehen eigentlich trotzdem hinter Wiseman. Es ist kein Zufall, dass die Warriors vergangene Saison erst so richtig explodierten, als der Rookie sich verletzte - was nicht zuletzt mit dem oben beschriebenen System Curry zu tun hat.

Wiseman ist als junger Big mit kaum Spielpraxis eben kein Bjelica oder gar Draymond; seine explosive Athletik schreit eigentlich nach genau der konventionellen Pick'n'Roll-Offense, die Golden State oft verschmäht. Es ist (zu) viel von ihm verlangt, dass er nach einer drei Spiele andauernden College-Karriere in die NBA kommt und sich intuitiv in der ungewöhnlichsten Offense der Liga zurechtfindet.

James Wiseman ist das große Fragezeichen der Warriors

Ist Wiseman mental nun einen Schritt weiter, nachdem er so lange pausieren musste und sich das Spiel in Ruhe ansehen konnte? Wie sieht seine Rolle überhaupt aus? Starten wird er kaum, Payton und Bjelica haben bisher so gut gespielt, dass man sie kaum aus der Rotation streichen wollen wird. Es wird ein Balance-Akt werden, Wiseman die Spielzeit zu geben, die er dringend benötigt, und gleichzeitig nichts vom Rhythmus einzubüßen.

Vieles würde in der aktuellen Situation eigentlich dafür sprechen, dieses Asset in einen gestandenen Big oder einen weiteren Wing zu investieren, der kurzfristig dabei hilft, die vierte Meisterschaft der Ära Curry zu gewinnen. Bei allem Potenzial wird Wiseman dies vermutlich nicht tun, selbst wenn er sich steigert.

Die Warriors waren bisher das beste Team der Liga, ein Banner für den besten Saisonstart seit 2016 wird man im Chase Center aber nicht aufhängen. Eine unfehlbare Maschine a la 2017 gibt es aktuell nicht in der NBA, bei einem sehr guten Team würde konventionelles NBA-Wissen also dafür sprechen, alles daran zu setzen, dieses Vakuum zu füllen.

Nur: Wenn die Warriors eines bewiesen haben, dann ist es das - sie denken nicht unbedingt konventionell. Und das müssen sie auch nicht; ihre Geduld ist einer der Gründe, warum sie aktuell wieder dort stehen, wo ihr Besitzer Joe Lacob ("Light years ahead") sie ohnehin immer sieht. Neben dem Typen mit der Nummer 30 natürlich.