Alles spricht im Vorfeld des NBA-Drafts von den beiden Top-Talenten Kyrie Irving und Derrick Williams, die kommende Rookie-Klasse gilt angesichts des drohenden Lockouts als eine der schwächsten überhaupt. Doch das bedeutet nicht, dass sich im weiteren Feld nicht noch das ein oder andere Juwel finden lässt. Gute Chancen, sich in der Liga zu etablieren, hat vor allem Enes Kanter, der als bester Big Man in die Draft-Nacht geht. Doch der Center hat ein schweres Jahr hinter sich.
Ein kleiner Blick in die Zukunft: Es ist die Nacht vom 23. auf den 24. Juni 2011. Im Prudential Center in Newark, New Jersey tritt NBA-Commissioner David Stern ans Mikro, um den Namen des diesjährigen Pick eins zu verkünden. Gewählt haben werden diesen die Cleveland Cavaliers. Und sein Name wird entweder Dukes Kyrie Irving oder Derrick Williams von den Arizona Wildcats lauten. Das erscheint sicher. Aber wer kommt danach?
Die meisten Websites führen in ihren Mock Drafts einen von zwei Kentucky Wildcats auf Rang drei. Entweder Point Guard Brandon Knight, oder aber einen Kollegen, der aufgrund einer Sperre die komplette vergangene College-Saison aussetzen musste: Enes Kanter.
Der 19-Jährige machte beim Nike Hoop Summit 2010, wo ein US-All-Star-Team immer auf eine internationale Auswahl trifft, auf sich aufmerksam. Damals ging neben Irving und den Top-Talenten Terrence Jones und Jared Sullinger unter anderem auch der extrem gehypte Harrison Barnes für die USA in die Partie.
Und obwohl der North Carolina Tar Heel, der als einer der heißesten Kandidaten auf den Top-Pick im nächsten Jahr gilt, mit 27 Punkten die US-Auswahl zum Sieg führte, stahl ihm doch einer die Show - eben jener Enes Kanter.
34 Punkte holte der Türke, weiterhin schnappte er sich 13 Rebounds. Und gab sich anschließend ganz bescheiden: "Ich war Teil des Teams, wegen des Teams habe ich 34 Punkte erzielt."
Bei aller Bescheidenheit, mit den 34 Zählern stellte er einen neuen Scoring-Rekord für das Junioren-All-Star-Spiel auf. Und löste damit die 1998 aufgestellte Bestmarke eines anderen Internationalen ab, der kürzlich NBA-Champion wurde. Ein gewisser Dirk Nowitzki.
Die große Unbekannte
Trotzdem gilt Kanter, der in Zürich in der Schweiz geboren wurde, als eine der großen Unbekannten im kommenden Draft. Der Grund dafür: Er schrieb sich zwar vor der letzten Saison am College von Kentucky ein, bestritt aber kein einziges Saisonspiel für die Wildcats.
Anlass hierfür war, dass er von seinem ehemaligen türkischen Klub Fenerbahce Ülker während der Saison 2008/09 zirka 33.000 US-Dollar (23.000 Euro) erhalten hatte, um zumindest das Minimum seiner Unkosten abzudecken.
Kanter hatte bewusst auf Millionenbeträge verzichtet, um seinen Amateurstatus zu bewahren und somit seinen Traum, für ein US-College spielen zu können, verwirklichen zu können. Aus Sicht der NCAA (National Collegiate Athletic Association) war aber auch der genannte Betrag schon zu hoch. Sie entschied, dass Kanter als Profi tätig war und sperrte ihn für die Saison 2010/11.
Der Fall erregte auch dadurch großes Aufsehen, dass im vergangenen November ans Licht kam, dass der Vater von Football-Quarterback Cam Newton - kürzlich an erster Stelle im NFL-Draft von den Carolina Panthers gewählt - "zwischen 100.000 und 180.000 Dollar" (70.000 bis 125.000 Euro) gefordert hatte, damit sein Sohn für die Mississippi State University spielt.
Am 1. Dezember 2010 war Newton, der mittlerweile bei Auburn angeheuert hatte, daraufhin gesperrt worden. Sein College klagte aber prompt gegen die Entscheidung und Newton wurde, obwohl es Beweise für den Vorfall gab, freigesprochen.
Coach Kanter
Eine Entscheidung, durch die die Heftigkeit der Entscheidung im Fall Kanter schwer nachzuvollziehen ist. Den Center jedenfalls traf die Sperre hart: "Ich weine, wenn ich mir die Spiele meiner Mannschaft anschaue", erklärte er im März gegenüber "Yahoo! Sports". Spiel eins nach Verkündung seiner Sperre gegen Georgia hatte er sich noch, mit einem leeren Klemmbrett auf der Bank sitzend, angesehen, danach blieb er den Partien häufig fern. "So fertig habe ich ihn noch nie gesehen", erklärte Kentuckys Medienvertreter DeWayne Peevy anschließend.
Stattdessen trainierte der 19-Jährige wie ein Besessener. Und nicht nur das, er avancierte regelrecht zum Co-Trainer, der mit seinen Big-Men-Kollegen arbeitete und den Spielern wertvolle Tipps gab. Einsatz, den auch seine Mitspieler anerkannten und ihm großen Anteil am Erreichen des Final Fours zusprachen. "Es hilft mir sehr, täglich gegen ihn zu spielen. Er macht mich zu einem besseren Basketballer", lobte Center Josh Harrellson: "Dadurch, dass ich ihn im Training stoppen muss und gegen einen der Besten spiele, weiß ich im Spiel immer, dass mein Gegenspieler weniger drauf hat als Enes."
Und auch Brandon Knight weiß um die Qualitäten seines Draft-Konkurrenten: "Enes ist einer der besten Big Men im ganzen Land. Es ist deutlich schwerer, ihn zu verteidigen als viele seiner Kollegen, da er aus Double Teams rauspassen kann. Außerdem kann er sich auch durch ein Dribbling befreien und verfügt über einen gefährlichen Sprungwurf."
Offensive und Power pur
Der 2,11 Meter große und 118 Kilogramm schwere Kanter hat seine Qualitäten vor allem in der Offensive. Neben einem feinen Händchen für Würfe aus der Mitteldistanz zeichnet sein Spiel sich auch durch große Kraft aus. Dank seiner langen Arme und athletischen Veranlagung sowie einem ordentlichen Repertoire an Post Moves kann er sich in der Zone durchpowern.
Zudem ist Kanter ein hervorragender Rebounder, der sich unter den gegnerischen Körben immer wieder auch gegen mehrere Gegenspieler durchsetzt und zweite Chancen erarbeitet. Beim Nike Hoop Summit dominierte er so in der zweiten Halbzeit Jared Sullinger - immerhin der wohl beste NCAA-Post-Spieler der abgelaufenen Saison - nach Belieben.
Darüber hinaus ist er nicht durch die klassische Hack-a-Center-Methode zu stoppen, da er auch von der Freiwurflinie sicher schießt. Seine Coaches loben ihn neben seiner Geschicklichkeit und seinem für einen Big Man besonders ausgeprägten Körpergefühl vor allem auch für seine positive Einstellung und Arbeitseinstellung. Laut Kentucky-Teamkollege Jarrod Polson ist er zudem "albern abseits des Courts".
Aber halt eben nur, wenn er nicht auf dem Parkett steht, denn dort ist Kanter absolut fokussiert. So verwundert es auch wenig, dass er vor seinem Umzug in die USA jahrelang seine Altersgruppe in Europa dominierte. Mit einer überragenden Vorstellung bei der U-18-Europameisterschaft 2009 in Frankreich führte er sein Heimatland zur Bronzemedaille und wurde zum MVP des Turniers ernannt.
Wunschteam Washington mit Buddy Wall
Bedenken haben die Draft-Experten neben seiner nicht vorhandenen College-Erfahrung vor allem hinsichtlich seiner Verletzungsgeschichte: Der Türke erlitt bereits mehrere Knieverletzungen, die sich auf Dauer in der NBA als Problem erweisen könnten. Weiterhin ist er zwar nicht langsam, aber auch nicht schnell genug, um mit einigen der Top-NBA-Center mithalten zu können. Und auch in der Defense hat Kanter noch deutlich Luft nach oben, vor allem was das Blocken von Würfen angeht.
Im Mai sorgte Kanter für Negativschlagzeilen, als berichtet wurde, er würde sich weigern, für eine Reihe von Teams vorzuspielen. Schnell kam aber das Dementi von Agent Max Ergül, der im Gespräch mit "Sports Illustrated" erklärte, das einzige Team, das ihn nicht interessiere, seien die Milwaukee Bucks. So unschön diese Äußerung auch ist, so ist sie doch auch nachvollziehbar. Denn die Bucks besitzen den zehnten Pick, und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass Ergüls Klient bis dahin längst gewählt wurde.
Sein Wunschteam, die Washington Wizards, kann sich Kanter aber wohl auch abschminken. Vor der Lottery hatte er erklärt, gemeinsam mit John Wall, den er als "wirklich guten Freund" bezeichnet, in der US-Hauptstadt spielen zu wollen. Da die Wizards aber lediglich den sechsten Pick erhalten haben, wäre dies wohl nur im Falle eines Trades möglich. Wahrscheinlicher ist, dass Kanter von den Utah Jazz, Cleveland Cavaliers oder spätestens an fünfter Stelle von den Toronto Raptors gewählt wird.
Oder doch Minnesota?
Allerdings erscheint auch Pick zwei nicht völlig abwegig, denn: Wen auch immer die Cavaliers an Eins wählen - derzeit deutet alles auf Kyrie Irving hin - Minnesota braucht nach der Zusage von Ricky Rubio, in der kommenden Saison für die Timberwolves zu spielen, weder einen Point Guard noch einen weiteren Tweener Forward. Entsprechend würde ein Center wie Kanter, der im Frontcourt mit Kevin Love ein starkes Duo bilden könnte, wohl mehr Sinn ergeben.
Zudem wusste Kanter, der im Vorfeld des Drafts für diverse Teams vorspielte, beim Workout in Minneapolis am vergangenen Donnerstag zu überzeugen: "Enes hat viel Kraft und weiß, wie man spielt. Er hat eine Menge Selbstvertrauen", lobte Minnesotas Assistant Manager Tony Ronzone anschließend. "Er hat das ganze Jahr über mit den Coaches bei Kentucky gearbeitet, von daher mache ich mir keine Sorgen."
Und auch der angehende Rookie selbst war zufrieden: "Diese Trainingseinheiten sind sehr wichtig, weil ich mich präsentieren und zeigen muss, dass ich der Beste bin. Aber ich denke, ich habe einen guten Job gemacht." Ob es gereicht hat, um die Wolves-Verantwortlichen um General Manager David Kahn davon zu überzeugen, ihn dem Pac-10-Spieler-des-Jahres Derrick Williams vorzuziehen? Abwarten, die Antwort erhalten wir in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni.