Nole? Muzza? FedEx? So eng war’s lange nicht!

Jochen Rabe
05. November 201214:59
Werden wohl den Titel unter sich ausmachen: Novak Djokovic, Andy Murray und Roger Federer (v.l.)Getty
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Vier Grand-Slams, vier verschiedene Sieger - das gab es letztmals im Jahr 2003. Die Weltspitze im Tennis ist so eng beisammen wie lange nicht. In London kommt es bei den ATP World Tour Finals zum großen Clash der Elite: Außer dem verletzten Rafael Nadal sind die Großen alle dabei - und haben alle Chancen auf den inoffiziellen Weltmeistertitel. Aber auch der Argentinier Juan Martin del Potro ist in Topform. Den Auftakt bestreiten Andy Murray und Tomas Berdych (JETZT im LIVE-TICKER).

Kollektives Versagen oder doch große Schonung in Paris? Absage Federer, frühes Aus von Djokovic und Murray - erstmals seit über zwei Jahren konnte ein anderer als die großen Vier ein Masters-Turnier gewinnen. Trotzdem oder gerade deswegen: Die Tenniselite geht ausgeruht und natürlich favorisiert in die World Tour Finals.

Dabei ist vor allem die Gruppe A hammerhart: Dort kommt es direkt zum Clash zwischen dem Djoker und Muzza! Harte Nummer, aber mit großem Anreiz: Wer sich an die Spitze setzt, kann im Halbfinale wohl Federer umgehen. Wir geben einen Überblick darüber, wie wir die Kräfteverhältnisse beurteilen.

1. Novak Djokovic

Nole back on top! Pünktlich zum Jahresende übernimmt Novak Djokovic wieder den Platz an der Sonne von Roger Federer. Wer nach dem Scheitern in den Finals der French und US Open und in den Halbfinals der beiden Wimbledon-Turniere geglaubt hat, der Djoker könne die Big Points nicht mehr verwandeln, sah sich zuletzt getäuscht.

Ein Beweis für die wieder gefundene Selbstverständlichkeit des Gewinnens? Das Finale von Shanghai gegen Andy Murray! Alles hatte darauf hingedeutet, dass sich der Brite zum dritten Mal in Folge in einem wichtigen Match gegen Djokovic durchsetzen kann. Der Serbe haderte mit seinem Spiel, zertrümmerte sein Racket, hatte im zweiten Satz schon fünf Matchbälle gegen sich - und drehte das Ding trotzdem noch.

Noles Triumph über Murray erinnerte an das Viertelfinale der French Open gegen Tsonga, als Djokovic ebenfalls mehrfach mit dem Rücken zur Wand stand und zahlreiche Matchbälle parierte. Das war noch zur Zeit seiner Weltranglistenführung, als er unschlagbar schien und auf dem Weg zum Nole-Slam war.

Jetzt steht er wieder oben. Und er kommt mit Turniersiegen aus Peking und Shanghai im Rücken nach London. Und Paris? Irgendwie werden wir das Gefühl nicht los, dass die Granden auf die Absage von Federer reagiert haben - und nicht die vollen 100 Prozent abgerufen haben. Oder warum sonst verlor der Djoker gegen Sam Querrey noch, nachdem er den ersten Satz locker mit 6:0 eingefahren hat? An Djokovic' Topform jedenfalls lässt uns das nicht zweifeln, zumal ihn auch private Dinge in seiner Konzentration gestört haben sollen.

Neben Federer ist er zudem der einzige Spieler im Feld, der die World Tour Finals schon einmal gewinnen konnte (2008). Wir sagen: In diesem Jahr führt der Weg zum Titel nur über Djokovic. Wenn dieser seine Form der letzten Wochen mitbringen kann, beendet er die Saison nicht nur als Nummer eins, sondern auch als (inoffizieller) Weltmeister.

2. Andy Murray

Endlich, endlich, endlich - nach unzähligen vergeblichen Versuchen hat Andy Murray in diesem Jahr den Durchbruch in die absolute Beletage der Tour geschafft. Gutes Tennis hat der Schotte schon jahrelang gespielt, nun konnte er bei Olympia und den US Open auch seine ersten großen Titel gewinnen. Besonders die Art und Weise, wie er beim Finale des Olympischen Turniers Roger Federer auf Rasen dominierte, war absolut beeindruckend.

Endlich am Ziel: Andy Murray mit dem US-Open-TitelGetty

Weg mit dem Image des ewigen Zweiten: Murray wird jetzt in einem Atemzug mit Djokovic, Federer und Nadal genannt. Zu Recht! Der 25-Jährige hat den großen Respekt abgelegt, kann die Granden mittlerweile auch in wichtigen Duellen schlagen. Dass er auf Augenhöhe ist, zeigen auch die ausgeglichenen direkten Vergleiche gegen Djokovic (3:3) und Federer (2:2) in diesem Jahr.

Für den Schotten ist es die fünfte Teilnahme in Folge. Besonders bitter im Vorjahr: Murray verletzte sich bereits in seinem ersten Gruppenspiel gegen David Ferrer und musste das Turnier vorzeitig beenden.

Dieses Jahr ist er ein ganz heißer Tipp auf den Turniersieg. Er ist vielseitiger geworden, mental stabil und der große Druck des Nicht-gewinnen-Könnens ist abgefallen. Ganz klar: Mit Murray ist zu rechnen.

3. Roger Federer

Was für eine Saison des Fed-Express! Sechs Titel mit teilweise schlicht überragendem Tennis, darunter sein siebter Sieg auf dem heiligen Rasen von Wimbledon. Die Rückkehr auf die Nummer eins, die gleichbedeutend war mit einem neuen Rekord: Mittlerweile stand Federer 302 Wochen ganz oben, nun bereits 16 Wochen mehr als Pete Sampras.

Gegen Ende des Jahres geht dem Eidgenossen aber die Luft aus. Bei seinem Heimturnier in Basel marschierte er problemlos ins Finale - und scheiterte dort knapp an Juan Martin del Potro. Seine geplante Teilnahme am Hardcourt-Turnier in Paris musste er absagen. Der Grund: "Es wäre einfach zu viel. Ich möchte mich richtig auf die ATP World Tour Finals vorbereiten und hätte meine Teilnahme auch abgesagt, wenn ich hier gewonnen hätte."

Eines ist klar: Federer wird auch in diesem Jahr ein Wörtchen um die Titelvergabe mitreden, immerhin gewann er das Turnier bereits sechsmal, zuletzt zweimal in Folge. Und auch die Auslosung spricht für den Schweizer: In der deutlich einfacheren Gruppe B geht er Djokovic und Murray aus dem Weg. Zwar sind die formstarken Ferrer und del Potro nicht zu unterschätzen, der Weg ins Halbfinale sollte jedoch geebnet sein. Heißt aber auch: Der Titel führt für Rog im Normalfall nur über Siege gegen beide Top-Konkurrenten!

Und: Dem Rekordmann fehlt nach der langen Saison die nötige Frische, um das enge Feld so zu dominieren, wie er es in den letzten beiden Jahren getan hat (10:0 Siege, 20:4 Sätze). Unsere Prognose: Halbfinale klar, dann wird's aber eng.

4. Juan Martin del Potro

Ganz klar: Der Argentinier hat nach seiner Handgelenksverletzung vor zwei Jahren endgültig wieder den Anschluss an die Weltspitze gefunden. Vier Titel holte del Potro in diesem Jahr und stellte damit seinen persönlichen Rekord von 2008 ein.

Sein Spiel wirkt so komplett wie nie, zuletzt trat er nicht mehr so lethargisch auf, wie man ihn einst schon gesehen hat. Stattdessen zeigt er sein bestes Tennis seit dem US-Open-Sieg 2009.

Schon bei Olympia setzte der 24-Jährige ein dickes Ausrufezeichen: Im Halbfinale lieferte er sich mit Federer einen erbitterten Kampf und verlor im finalen Satz des längsten Drei-Satz-Matches der Profitennis-Ära denkbar knapp mit 17:19. Im Spiel und Platz folgte ein glatter Sieg gegen Djokovic.

Zuletzt war der Argentinier auf Hardcourt in der Halle in absoluter Topform. Er gewann hintereinander die Turniere in Wien und Basel. Besonders bei letzterem zeigte er, dass er wieder ganz oben mitmischen kann, als er den Fed-Express im ersten Satz des Finales dominierte und schließlich im Tiebreak des dritten Satzes nervenstark blieb. Das ist der Eindruck, der bleibt, nicht der vom Betriebsunfall Paris.

Del Potro ist definitiv wieder da und ein Geheimfavorit auf den Sieg bei den World Finals. Zumindest hat er in Gruppe B gute Karten, in die Runde der besten Vier einzuziehen. Zwar ist seine Jahresbilanz gegen den größten Konkurrenten um den Halbfinaleinzug, Ferrer, in diesem Jahr negativ (0:2), diesmal hat er aber die Nase vorn. Deswegen: Del Potro auf die 4.

Seite 2: Von Ferrer bis Tipsarevic

5. David Ferrer

Es ist das Jahr des David Ferrer! Der Spanier läuft und kämpft wie eh und je um jeden Ball - und bringt auch beinahe jeden zurück.

Er spielt mit Abstand die beste Saison seines Lebens und gewann sieben (!) Titel - erstmals in seiner Karriere auf allen Belägen in einem Jahr. Vor allem zuletzt war der 30-Jährige in Galaform: Sieg in Valencia, Sieg in Paris - auch auf Hartplatz ist mit ihm zu rechnen. Er ist lange nicht mehr nur Sandplatz-Spezialist, sondern ein echter Allrounder.

Zum dritten Mal in Folge ist Ferrer bei den World Tour Finals dabei und darüber sehr glücklich: "Das ist eine große Leistung. Es ist immer eines meiner Ziele zu Beginn des Jahres."

Er kann auch glücklich sein, schließlich hat er an die inoffizielle Weltmeisterschaft gute Erinnerungen: Bei zwei seiner bisher drei Teilnahmen überstand er die Gruppenphase, 2007 zog er sogar ins Finale ein - und scheiterte dort, wie auch im Halbfinale des Vorjahres, an Federer.

Und genau das ist das große Problem des Spaniers: Es reicht einfach nicht für ganz oben. Ferrer gewann noch nie einen Grand Slam, stand nicht einmal im Finale und die Statistik gegen die Großen ist besonders in diesem Jahr geradezu verheerend. Von acht Matches gegen Federer, Djokovic und Nadal gewann Ferrer nur eines. Zu wenig, um im Olymp anzuklopfen. Deswegen für uns auch kein echter Titelanwärter - und trotz der phänomenalen Form nur auf der 5.

6. Jo-Wilfried Tsonga

Für einen Franzosen ist Roland Garros das schwierigste Turnier des Jahres. Wegen der hohen Erwartungshaltung, wegen des Drucks. Trotzdem schrammte Jo-Wilfried Tsonga in diesem Jahr nur knapp an einer Sensation vorbei: Im Viertelfinale traf der Lokalmatador auf Djokovic und hatte die Nummer eins mit teilweise fesselndem Sandplatz-Tennis am Rande der Niederlage. Doch Tsonga konnte vier Matchbälle nicht verwandeln und gab das Match am Ende in fünf ab.

Nicht nur an diesem Abend zeigte Tsonga, dass er auf hohem Niveau mithalten kann. "Ali" erreichte das Halbfinale in Wimbledon und holte zwei Turniersiege - natürlich beide auf Hardcourt. Auf dem schnellen Belag fühlt sich der Franzose wohl. 15 der 16 Finals, die Tsonga in seiner Karriere erreichte, waren auf eben diesem.

Eines dieser Finals war letztes Jahr in London. Und da hielt er gegen Federer gut mit, musste sich aber nach drei Sätzen geschlagen geben.

An einem guten Tag kann Tsonga jeden schlagen - vor allem auf Hartplatz. Die Achillesferse des Franzosen ist jedoch seine Ungeduld, die ihm häufig in engen Partien zum Verhängnis werden kann. Sicherlich auch daran wird er mit seinem neuen Trainer, dem Australier Roger Rasheed, arbeiten müssen. In London ist der 27-Jährige für die eine oder andere Überraschung gut, der ganz große Wurf wird ihm aber wohl nicht gelingen - zumal er in der Gruppe A gleich auf Djokovic und Murray trifft.

7. Tomas Berdych

Bei den US Open landete der Tscheche mal wieder einen Big Win: Im Viertelfinale besiegte er Federer nach einer hervorragenden Leistung in vier Sätzen. Zwar war im Halbfinale gegen Murray dann Schluss, doch vor allem Berdychs Wahnsinns-Return-Spiel gegen den Schweizer blieb in Erinnerung.

Sowieso fühlt sich der Tscheche auf Hartplatz am wohlsten, da er auf diesem Belag seine Stärken am besten zur Geltung bringen kann: seinen harten und hocheffektiven Aufschlag und seine wuchtige Vorhand. Entsprechend fuhr Berdych auch seine beiden Turniersiege des Jahres auf diesem Boden ein. Zuletzt bezwang der 27-Jährige im Finale von Stockholm Tsonga. Genau gegen diesen verlor er letztes Jahr im Halbfinale von London. Jetzt trifft man sich wieder in Gruppe A der Finals.

2012 war das erste Jahr in Berdychs Karriere, in dem er nie unter Weltranglistenrang sieben rutschte. Der Präsident der ATP, Brad Drewett, lobt den 1,96m-Hünen: "In den letzten Jahren hat sich Tomas auf dem höchsten Level der Tour etabliert und seine Qualifikation ist die Belohnung für eine weitere herausragende Saison."

Eine herausragende Saison, mit vier Finalteilnahmen und zwei Siegen Berdychs beste - um wirklich um den Titel mitzuspielen, reicht das aber nicht. Auch wenn er Tsonga zuletzt schlug, fehlt ihm im Gegensatz zum Franzosen der Hang zum Besonderen, zum Spektakulären - deswegen setzen wir ihn auf die 7.

8. Janko Tipsarevic

"Beauty will save the world" - dieses Dostojewski-Zitat hat der Serbe auf den linken Arm tätowiert. Und es steht stellvertretend für die Leidenschaft, die Janko Tipsarevic nach eigener Aussage jahrelang am Durchbruch hinderte: das viele Lesen großer Literatur. Das musste er erst deutlich einschränken, um den nächsten Schritt zu gehen, wie er zugibt: "Mir wurde klar, dass du nur richtig gut sein kannst, wenn du bereit bist, alles andere im Leben dem Tennis unterzuordnen."

Seitdem konzentriert sich der 28-Jährige mehr auf seine Karriere - mit Erfolg. Der Mann mit der Brille qualifizierte sich als Letzter für die World Tour Finals und ist damit auch erstmals von Beginn an beim Jahresabschluss-Event mit von der Partie (2011 rückte er als Ersatzmann für den verletzten Murray ins Feld).

Tipsarevic stand das gesamte Jahr in der Top 10, die Leistungen des Serben haben sich auf einem guten Niveau stabilisiert. Im Juli gewann er am Stuttgarter Weissenhof auf Sand seinen dritten Titel auf der Tour.

Allerdings ist bei keinem anderen Spieler im Feld der Graben zur Weltspitze so deutlich zu erkennen wie beim Djokovic-Kumpel. Bei keinem der vier Grand Slams kam Tipsarevic über das Viertelfinale aus, in Melbourne und Wimbledon scheiterte er sogar schon in Runde drei. Und auch die Statistik gegen die Topspieler sieht nicht rosig aus. Er holte nur einen Sieg aus fünf Spielen. Klare Prognose: Für Tipsarevic gilt in London das Olympische Motto "Dabei sein ist alles". Er wird sich aber punktlos verabschieden.

Die ATP-Weltrangliste