Die Szene des Rennens ereignete sich erst, als alles schon vorbei war. Statt seinen Mercedes ordentlich auf der Zielgeraden zu parken, setzte der um seinen Sieg gebrachte Weltmeister ein kleines Zeichen. Er verzichtete aufs Bremsen und knallte den W06 mit dem Flügel gegen das Schild mit der Markierung für den Drittplatzierten.
Statt direkt auszusteigen, blieb er sitzen. Schon nach der Zieldurchfahrt hatte er in der Portier-Kurve angehalten und aufs Meer geschaut. Bei der Verleihung der Siegerpokale stand dem Weltmeister die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.
Ein Aufbrausen, gar ein Ausraster wäre verständlich gewesen. Stattdessen blieb Hamilton ruhig. "Wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen", war sein Fazit. Seine Vorgesetzten übernahmen die zu erwartenden Worte.
Wolff bittet um Entschuldigung
"Ich bitte Lewis um Entschuldigung für diese Entscheidung", sagte etwa Motorsportdirektor Toto Wolff. Die Mercedes-Ingenieure hatten den souverän führenden Engländer 14 Runden vor Schluss zum Reifenwechsel einbestellt, nachdem Max Verstappen mit einem spektakulären Unfall für eine Safety-Car-Phase gesorgt hatte.
"'Was zur Hölle habt ihr getan?' ist die richtige Frage. Es war eine Fehlentscheidung, denn wir haben Gelb falsch eingeschätzt. Das geht voll aufs Team", sagte Wolff. Aufsichtsratschef Niki Lauda ging noch einen großen Schritt weiter. "Die Strategen haben falsch entschieden. Vollkommen sinnloser Boxenstopp", regte sich der Österreicher bei Sky auf: "Wie es zu so etwas gekommen ist, muss jetzt genau analysiert, danach Konsequenzen gezogen werden."
Krisenmeeting in Monaco
Direkt nach der Siegerehrung trafen sich Wolff und Lauda mit Technikdirektor Paddy Lowe und den führenden Ingenieuren im Besprechungsraum oberhalb der Boxengasse. Wolff raufte sich die Haare. Dass Mercedes noch einige Gespräche für die Aufarbeitung braucht, führten die Chefs in Monte Carlo trotzdem allen vor.
Lauda: "Zu viele Köche verderben den Brei." Wolff: "Ich glaube, eher zu wenige." Selbst Ferrari-Teamchef Maurizio Arrivabene hatte eine eigene Meinung zur folgenschweren Entscheidung: "Aus meiner Sicht waren sie ein bisschen zu überzeugt. Sie sind intelligent und stärker als wir, aber diesmal waren wir eben etwas cleverer."
Sicher ist: Der Fehler kostete Hamilton den sicheren Sieg, weil er auf frischen, supersoften Reifen nur Zentimeter hinter Sebastian Vettel wieder auf die Strecke kam, der seine Angriffe in den letzten Runden erfolgreich abblockte. Ferrari hatte sich schon früh entschieden, keinen Stopp mehr einzulegen.
Hamilton gesteht eigenen Fehler
Und während die Bosse über die Fehler der Strategen diskutierten, schoss ausgerechnet Hamilton in eine ganz andere Richtung. "Ich habe eine Leinwand gesehen. Es sah aus, als wäre das Team draußen. Ich dachte, Nico wäre an der Box gewesen", erklärte er: "Als das Team sagte, ich solle draußen bleiben, dachte ich, die Reifen werden an Temperatur verlieren. Ich war besorgt, dass die anderen auf Options wären. Deshalb bin ich voller Überzeugung reingekommen, dass die anderen dasselbe getan hatten."
Mit anderen Worten: Mercedes' Ingenieure wiesen den Führenden zunächst an, auf der Strecke zu bleiben. Als Hamilton jedoch den Reifenwechsel auf Supersofts forderte, um den befürchteten Angriff von Rosberg und Vettel abzuwehren, gaben sie nach und holten ihn rein.
"Unsere Sorge war: Falls Seb auf weiche Reifen gehen würde, hätte er in den letzten Runden einen richtigen Vorteil. Das gepaart mit der Reifen-Meldung von Lewis war der Grund für unsere falsche Rechnung. Wir hatten einen Hund im Algorithmus, deshalb hat es nicht gestimmt", schloss Wolff. Dass diese Entscheidung ein Fehler war, ist unstrittig. Allerdings passt sie ins Bild.
Mercedes' Problem mit den Safety Cars
"Ein guter Ingenieur ist in der Lage, einen Kompromiss zwischen Daten und dem, was ihm der Fahrer sagt, einzugehen", sagte Wolff vor zwei Jahren im SPOX-Interview: "Die Krux an der Sache ist, dass wir vor und während des Rennens Entscheidungen aufgrund der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit treffen müssen. Wir sind danach alle immer sehr viel schlauer. Das ist wie im Fußballstadion, wo die besten Trainer immer auf den Tribünen sitzen."
In Monaco ging es mal wieder schief. Nicht zum ersten Mal. Schon beim Singapur-GP 2013 und beim Monaco-GP 2014 hatten die Strategieentscheidungen während der Safety-Car-Phasen negative Auswirkungen. Die Fehler sind menschlich. Sie entstehen binnen weniger Sekunden. Die finale Entscheidung wurde 50 Meter vor der Boxeneinfahrt getroffen", erklärte Wolff. Und trotzdem sind sie für die Perfektionisten der Formel 1 inakzeptabel.
Dass Hamilton nun seiner Intuition folgte, wird beim Blick auf den Deutschland-GP 2008 noch verständlicher: Damals bügelte er McLarens Fehleinschätzung aus und überholte nach dem verpassten Stopp zu Beginn der Safety-Car-Phase in den letzten Runden mit dem Mut der Verzweiflung noch Ferrari-Pilot Felipe Massa sowie Renault-Mann Nelson Piquet jr. und siegte.
Mehrere Faktoren führen zur Katastrophe
Wieso also ging der Stopp in Monaco schief? Als das Safety Car in Monaco auf die Strecke fuhr, hatte Hamilton noch weit über 20 Sekunden Vorsprung, beim Einbiegen in die Box weniger als 20. Diese verlorene Zeit kostete ihm letztlich den Sieg. Hamilton hätte trotz Reifenwechsel in Führung liegend wieder auf die Strecke kommen kommen. Fuhr er zu langsam? Bremsten ihn die Ingenieure? Wohl kaum. Er scheint in der Rascasse aufs Safety-Car aufgelaufen zu sein.
Sicher ist: Solch eine bittere Niederlage mussten nur wenige Sportler verdauen. Vergleiche sind schwer zu finden. "Nein, fällt mir spontan nichts ein", gab Rosberg zu Protokoll. Vettel dachte an den Südkorea-GP 2010, als er in Führung liegend mit einem Motorschaden ausschied: "Fernando, mein größter Rivale im Titelkampf, hat das Rennen gewonnen. Das war übel. Ich wäre damals über einen dritten Platz froh gewesen, aber die Umstände heute waren für Lewis ganz andere."
Der moralische Sieger tat sich ebenso schwer. "Ich kann nicht ausdrücken, wie ich mich fühle. Also versuche ich es gar nicht erst", gab Hamilton an: "Ich musste heute nicht mal viel pushen. Ich hätte den Abstand verdoppeln können, wenn es nötig gewesen wäre."
Rosberg: "So viel Glück wie noch nie"
"Ich hatte wahrscheinlich so viel Glück wie noch nie. Ich empfinde Empathie für Lewis, ich weiß, wie ekelhaft das für ihn ist", gab Rosberg, der selbst nach dem verpatzten Stopp nicht mit dem Erfolg gerechnet hatte: "Ich war davon überzeugt, dass Lewis das Rennen mit frischen Supersofts noch gewinnen wird. Meine Reifen waren beim Restart eiskalt und es war schon eine Herausforderung, nicht in die Leitplanke zu fahren."
Letztlich reichte es, Rosberg fuhr zu seinem dritten Monaco-Sieg in Folge. Das schafften außer ihm nur Graham Hill, Alain Prost und Ayrton Senna. "Ich genieße nur den Moment. Lewis war dieses Wochenende ein bisschen stärker, deshalb muss ich für das nächste Rennen hart arbeiten."
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