Schuhverkäufer Sacchi lehrt Raumverknappung

SPOXAndreas Renner
18. Juli 200914:35
Arrigo Sacchi lehrt und Ruud Gullit, Paolo Maldini, Carlo Ancelotti und Co. lauschenImago
Werbung

Nie wurde in Deutschland soviel über Fußball-Taktik diskutiert wie heute. Doch woher kommen 4-4-2 und 4-2-3-1 und ballorientierte Raumdeckung? Gemeinsam mit Sky-Kommentator und SPOX-Blogger Andreas Renner haben wir versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Herausgekommen ist die SPOX-Themenwoche: Die Geschichte der Fußball-Taktik in acht Teilen.

SPOXManch einer glaubt, ein guter Trainer müsse unbedingt auch ein guter Spieler gewesen sein. Wolfgang Overath, der Präsident des 1. FC Köln, zum Beispiel. Er soll bei der Suche nach einem Nachfolger für Christoph Daum Wert darauf gelegt haben, dass der neue Coach auch in der Bundesliga gespielt habe.

Nun, das kann man auch anders sehen. Arrigo Sacchi, der mit dem AC Mailand ganz entscheidend die Art und Weise prägte, wie heute Fußball gespielt wird, war kein guter Spieler. Das sei auch nicht nötig gewesen, hielt Sacchi seinen Kritikern immer wieder vor: "Ein Jockey muss schließlich auch nicht als Pferd geboren worden sein."

Erfindung der Viererkette

Was Sacchi der Fußballwelt brachte, war unter anderem die konsequente ballorientierte Raumdeckung und mit der Abschaffung des Liberos auch die Viererkette. Sacchis Raumdeckungskonzept setzte das fort, was die Holländer angefangen hatten.

Mit Pressing wurde der Raum, den der Gegner zum Spielen hat, extrem reduziert. Und die verteidigende Mannschaft begann, sich als Einheit in Richtung Ball zu verschieben. Und nicht mehr nur einem Gegner hinterherzulaufen.

Trainer mit 26

Sacchis Trainerkarriere begann in seinem Heimatort Fusignano. Weil er nicht gut genug war, um für seinen Heimatort zu spielen, trainierte er eben das Team. Mit 26 Jahren. Sein Geld verdiente er als Verkäufer in der Schuhfirma seines Vaters.

Die nächsten Schritte auf der Karriereleiter waren klein. Als Jugendcoach begann er in der dritten Liga, bevor er das Nachwuchsteam des AC Florenz übernehmen durfte, immerhin ein Serie A-Klub. Von da aus ging es nach Parma, damals in Liga 3.

Aber Sacchi war nun Cheftrainer der ersten Mannschaft. Mit nur 14 Gegentoren in 34 Spielen schaffte er den Aufstieg in Liga 2, denn eine solide Defensive war immer die Grundlage seines Systems.

Berlusconi greift zu

Im Jahr darauf verpasste Parma den Aufstieg in die Serie A nur knapp, besiegte aber den AC Mailand im Pokal gleich zwei Mal (damals gab es eine Gruppenphase und anschließend eine K.o.-Runde). Das war genug, um die Aufmerksamkeit von Silvio Berlusconi zu wecken, der Milan kurz zuvor gekauft hatte.

Dass Sacchi keine Spielerkarriere vorzuweisen hatte, thematisierte er gleich zu Beginn seiner Amtszeit beim neuen Klub. "Ich komme vielleicht nur aus Fusignano, aber was habt ihr eigentlich gewonnen?", fragte er seine Spieler.

Die Antwort war: Nicht viel. Ein Meistertitel in zwanzig Jahren war für einen Klub von Milans Rang eher ärmlich. Außerdem war da noch ein Zwangsabstieg in die Serie B (wegen eines Bestechungsskandals) im Jahr 1980. Wenig Erfolg in der Vergangenheit bedeutet eben auch eines: Nämlich die Bereitschaft der Spieler, sich auf Neues einzulassen. Das Alte hat schließlich nicht sonderlich gut funktioniert.

Es half natürlich, dass Berlusconi seinem neuen Trainer auch Spieler vom Kaliber eines Ruud Gullit, Frank Rijkaard und Marco van Basten besorgte (auch wenn der im ersten Jahr ständig verletzt war). Für die Holländer waren Sacchis Vorstellungen jedenfalls nicht total fremd und der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Milan verlor nur zwei Saisonspiele und holte den Titel.

Üben bis zum Umfallen

SPOXDer Schlüssel zu allem war das extreme Verknappen des Raums, den der Gegner zum Spielen hatte. Alle Akteure mussten verteidigen (das wurde selbstverständlich vorausgesetzt) und der Abstand zwischen Abwehr und Angriff sollte, so Sacchi, im Optimalfall nicht mehr als 25 Meter betragen.

Dadurch wurde der Gegner so unter Druck gesetzt, dass er keine Zeit hatte, die weit aufgerückte Abwehr des AC mit Pässen zu überspielen. Stattdessen zog sich das Abwehrnetz um den Mann im Ballbesitz so zu, dass ihm oft nur ein Rückpass oder ein unkontrollierter Schlag nach vorne möglich war. In beiden Fällen hatte die Abwehr ihr Ziel erreicht.

Sacchis Mannschaft reduzierte so aber auch die eigenen Laufwege, weil der Raum, in dem man den Gegner angreifen musste, klein gehalten wurde.

SPOXMit anderen Worten: Die Laufarbeit im Fußball veränderte sich völlig. Wo man vorher einem Gegenspieler gefolgt war und sprintete, wenn er sprintete, dafür aber auch herumstand, wenn der Gegner stand, war die Mannschaft als Einheit nun permanent in Bewegung. Man sparte sich so aber viele Kraft raubende Sprints, weil man immer nah am Geschehen dran war. (siehe Grafik)

Fünf schlagen zehn

Die Effektivität seiner Methoden bewies Sacchi seinem Team mit einer Übung. "Ich sagte ihnen, dass fünf Spieler mit guter Organisation zehn Spieler ohne Organisation schlagen könnten." Sacchi nahm Torwart Galli plus die Verteidiger Tassotti, Costacurta, Baresi und Maldini. Dagegen stellte er Gullit, Van Basten, Rijkaard, Virdis, Evani, Ancelotti, Colombo, Donadoni, Lantignotti und Mannari.

Die zehn Akteure bekamen 15 Minuten Zeit, um gegen Sacchis fünf Mann ein Tor zu machen. Die einzige Regel für die Angreifer war, dass sie bei Ballverlust wieder in der eigenen Hälfte beginnen mussten. Sacchi behielt Recht: 15 Minuten lang blieb Gallis Kasten sauber.

Geisterspiel

Natürlich war Sacchis Philosophie für die Spieler anstrengend. Volle Konzentration war gefragt, über 90 Minuten. "Unsere Spieler hatten vier Referenzpunkte: den Ball, den Raum, den Gegner und seine Mitspieler. Jede Bewegung musste in Beziehung zu diesen Referenzpunkten passieren. Jeder Spieler musste entscheiden, welcher dieser Referenzpunkte seine Bewegungen bestimmen sollte."

Geübt wurde das Ganze bis zum Umfallen. An jedem Spieltag gab es morgens eine Trockenübung. "Wir stellten uns in unserer Formation auf. Ich rief unseren Spielern zu, wo der imaginäre Ball war und die Spieler mussten sich entsprechend bewegen, den unsichtbaren Ball passen und sich wie ein Uhrwerk über den Platz bewegen, basierend auf den Reaktionen der Spieler."

Ein Scout von Real Madrid sah eine solche Trainingseinheit und berichtete: "Sie haben ein Spiel gemacht mit elf Mann über das ganze Feld, ohne Gegner und ohne Ball." Geisterfußball - bei so viel Fußball-Voodoo können sogar Königliche Angst bekommen.

90 Minuten Freude

Aber Sacchis Philosophie war keineswegs nur auf Defensive ausgelegt. "Ich wollte bei eigenem Ballbesitz immer fünf Mann vor dem Ball haben. Und es musste immer ein Spieler den linken und den rechten Flügel besetzen. Aber das konnte jeder sein, es mussten nicht immer die gleichen Leute sein." Unbedingt gewinnen zu müssen, war gar nicht die Maxime des Coachs.

"Ich tat es, um den Menschen 90 Minuten Freude zu bereiten. Diese Freude sollte nicht nur vom Gewinnen kommen, sondern daher, dass man unterhalten wurde und etwas Besonderes zu sehen bekam."

Viele von Sacchis Nachahmern haben sich in den folgenden Jahren allerdings hauptsächlich auf die Defensivstrategie konzentriert und die Offensive weitgehend außer Acht gelassen.

Wegbereiter der deutschen Revolution

SPOXDie größten Erfolge feierte Milan international. Im Europapokal der Landesmeister 1989 tat sich Sacchis Team zunächst noch schwer. Gegen Roter Stern Belgrad und Werder Bremen hatte Milan ernsthafte Probleme und auch viel Glück. Im Halbfinal-Rückspiel gegen Real Madrid im San Siro allerdings nicht mehr. Milan fertigte die Königlichen mit 5:0 ab und zog nach einem 1:1 im Hinspiel ins Finale ein. (siehe Grafik)

Auch weil Mittelfeldspieler Carlo Ancelotti, der bei seiner Ankunft vom AS Rom 1987 nicht sofort mit den Methoden des neuen Trainers zurecht gekommen war, mittlerweile eine Schlüsselfigur war.

SPOXSacchi: "Er hatte am Anfang Probleme. Berlusconi sagte, wir hätten einen Dirigenten für unser Orchester, der keine Musik vom Blatt lesen konnte. Ich sagte zu (Berlusconi), dass ich (Ancelotti) schon beibringen würde, in der gleichen Tonart wie unser Orchester zu singen. Jeden Tag ließ ich ihn eine Stunde vor Trainingsbeginn erscheinen und zusammen mit einigen Spielern aus dem Nachwuchsteam alles einstudieren. Am Ende sang er in der perfekten Tonart."

Im Finale bekam es Steaua Bukarest zu spüren, das beim 0:4 nicht den Hauch einer Chance hatte. Keeper Silvio Lung behauptete hinterher, nie zuvor so viele Schüsse auf sein Tor bekommen zu haben.

"Bei uns hatten alle Schiss"

Ungefähr zu dieser Zeit wurden auch deutsche Trainer auf Sacchis Arbeit aufmerksam. Wolfgang Frank, der frühere Bundesligaprofi und spätere Raumdeckungspionier als Trainer bei Mainz 05 erinnert sich im Gespräch mit SPOX: "Damals trainierte ich Aarau in der Schweiz. Uli Stielike schickte mir ein Video von Milans Spiel gegen Bukarest. Nur hatte keiner von uns den Mut, das was Sacchi gemacht hat auch umzusetzen."

Schon gar nicht in Deutschland, wo man gerade auf einer Erfolgswelle schwamm. Frank: "Dabei muss man sich gerade im Erfolg weiter entwickeln. Aber bei uns hatten alle Schiss. Wenn man ein neues System einführt und dann ein Spiel verliert, dann heißt es sofort: Das System ist Mist. Wir waren damals auf einer total eingefahrenen Schiene."

Und zwar auf der Schiene Manndeckung. Sacchis Änderungen drangen zwar nach Deutschland durch, doch es sollte fast zehn Jahre dauern, bis die ersten Profitrainer den entscheidenden Schritt wagten.

Differenzen mit Baggio

Ein Jahr später wiederholte Milan seinen europäischen Triumph mit einem Finalsieg gegen Benfica Lissabon. Danach wurde Sacchi Nationaltrainer Italiens. Und war zunächst durchaus erfolgreich: 1994 erreichte Italien das Finale der WM in den USA, verlor dort aber im Elfmeterschießen gegen Brasilien. Aber Sacchis Philosophie stieß an ihre Grenzen.

Die kurze Zeit, die Nationaltrainer mit ihren Mannschaften haben, gab ihm wenig Gelegenheit, seine Prinzipien zu lehren. Und da für Sacchi nur die Mannschaft als Ganzes zählte, tat er sich mit Superstars wie Roberto Baggio schwer.

Sacchi betonte immer wieder, dass ein guter Fußballer nicht auch zwangsläufig ein brauchbarer Spieler sei, wenn er seine vorgegeben Positionen nicht einnimmt und schlechte Entscheidungen trifft. Ein Zwist, den viele Trainer bis heute austragen. Genau deshalb ist Lucien Favre nie ein Freund von Marko Pantelic geworden.

Wegbereiter der deutschen Revolution

Das Vorrunden-Aus der Italiener bei der Europameisterschaft 1996 beendete Sacchis Amtszeit als Nationalcoach. Seine früheren Erfolge konnte er nicht wiederholen, weder bei einer kurzen Rückkehr zu Milan (das in der Zwischenzeit unter Fabio Capello mit einer defensiveren Grundausrichtung große Erfolge gefeiert hatte), noch bei Ausflügen zu Atletico und Real Madrid (als Sportdirektor).

Seine Prinzipien fanden mit Verzögerung schließlich auch den Weg nach Deutschland. Sie lösten die entscheidende Revolution im deutschen Fußball aus. Nach Sacchi konnte es nicht weitergehen wie zuvor. Doch darum geht es am Sonntag...

Sacchi lehrt Raumverknappung - zurück zu Seite 1