Politische Ränkespiele, mögliche Rivalen und der immense Druck: Ist der FC Barcelona der richtige Klub für Marc-Andre ter Stegen? Borussia Mönchengladbachs Legende Jörg Stiel ist überzeugt - und warnt den "eckigen" Manuel Neuer.
SPOX: Sie sagten vor einem Jahr im SPOX-Interview : "Mit 22 wäre Marc-Andre ter Stegen soweit, um beim FC Barcelona zu spielen." Ter Stegen feiert Ende April seinen 22. Geburtstag - und der Wechsel zu Barca scheint beschlossen. Sind Sie immer noch überzeugt, dass es die richtige Entscheidung ist?
Jörg Stiel: Überzeugter denn je! Mit dem nahenden Weggang hat er sich für die Rückrunde noch eine ordentliche Portion Druck in den Rucksack gepackt, weil jetzt jeder auf ihn schaut, aber ich mache mir keinerlei Sorgen. Denn was ihn extrem auszeichnet neben all den torhüterischen Fähigkeiten: seine Birne. Sein zielgerichtetes Wesen, seine extreme Ruhe, das alles ist ungewöhnlich.
SPOX: Was ist mit der Schwächephase in der Vorsaison?
Stiel: Da wurde ihm eine Krise angedichtet, die gar nicht da war. Jeder Torwart fängt sich hier und da einen komisches Ding ein. Bei Marc-Andre wurde es nur so oft thematisiert, weil er die ersten eineinhalb Jahre auf einem solch hohen Niveau gespielt hat, dass jeder Fehler extrem auffällt. Doch die Art und Weise, wie er sich unberührt von den Diskussionen stabilisiert hat, zeigt seine Qualitäten. Daher bin ich überzeugt, dass er auch mit dem Druck in Barcelona klarkommt.
SPOX: Ist dieser Sommer der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel?
Stiel: Es wäre nicht dumm gewesen, den 2015 auslaufenden Vertrag vorzeitig um ein Jahr bis 2016 zu verlängern. Mönchengladbach hätte es gut getan und Marc-Andre hätte es nicht geschadet. Andererseits: Er wird 22 - und wer will zu Barca nein sagen? So ein gutes Timing kommt vielleicht nie wieder.
SPOX: Victor Valdes, die langjährige Nummer eins, wird die Katalanen verlassen. Die offenbar bevorzugte Nachfolgeregelung: Ter Stegen kommt - aber muss sich gegen einen Erfahren wie Pepe Reina durchsetzen.
Stiel: Reina würde für Barca Sinn machen und er ist kein Schlechter. Ihn sollte man nicht unterschätzen, er wäre ein guter Konkurrent. Mit Marc-Andre und Reina wäre Barca definitiv besser besetzt als vorher, beide sind Valdes überlegen. Dennoch wird schnell klar werden, dass nur Marc-Andre der Stammkeeper sein kann. Er steckt Reina hundertprozentig in die Tasche. Reina besitzt nicht die Fähigkeiten, sei es bei der Beidfüßigkeit oder der Antizipation.
Marc-Andre ter Stegen und Pepe Reina im OPTA-Vergleich
SPOX: Womöglich könnte sich Reina als Spanier klubintern sicher sein, mehr Fürsprecher zu besitzen. Timo Hildebrand klagte darüber zu seiner Zeit in Valencia, als er gegen Santiago Canizares den Kürzeren zog.
Stiel: Aber sollte das der Grund sein, Barca abzusagen? Das ist womöglich eine einmalige Chance für Marc-Andre! Zumal ich nicht weiß, wie es tatsächlich politisch im Verein aussieht. Die jetzige Mannschaft ist in ein bestimmtes Alter gekommen, bei der man um eine Umstrukturierung nicht vorbeikommt. Die anderen europäischen Teams haben punktuell aufgeholt und sich verjüngt. Daher ist das Bewusstsein sicherlich bei allen im Klub vorhanden, dass sich etwas verändern muss. Auch im Tor.
SPOX: 2012 sagten Sie voraus: "In spätestens zwei Jahren muss sich Manuel Neuer ganz warm anziehen. Die WM 2014 kommt womöglich zu früh, danach wird Marc sicher die neue deutsche Nummer eins."
Stiel: Wie es nach Brasilien aussieht, müssen wir schauen. Dass Neuer aktuell die Nummer eins ist, finde ich in Ordnung. Er hat die Zeitspanne, als Rene Adler verletzt war, perfekt genutzt. Das ist nicht wegzudiskutieren. Daher könnte ich damit leben, wenn für die WM 2014 die Reihenfolge so aussieht: Neuer, Adler, ter Stegen. Marc-Andre hat in der Nationalmannschaft noch nicht überzeugt, die Fehler dort muss er definitiv abstellen. Daher wäre es vertretbar, wenn statt Marc-Andre Roman Weidenfeller mitfährt als Honorierung der letzten Jahre.
SPOX: Sie klingen nicht allzu begeistert von Welttorhüter Neuer.
Stiel: Dass er zum Welttorhüter gewählt wurde, ist okay. Neuer ist ohne Frage ein sehr guter Torhüter. Nur: Wer waren denn die Rivalen? Über Gigi Buffon müssen wir nicht mehr reden, Iker Casillas spielt nur noch Champions League. Bei den Franzosen und Engländern gibt es keinen, genauso fehlen mittlerweile die Exoten wie Jorge Campos und Jose Luis Chilavert. Da bleibt nicht mehr viel übrig. Diego Benaglio hätte ich gerne vorne gesehen. Sein Klub Wolfsburg schreit zwar nicht unbedingt danach und Diego ist wie alle anderen Schweizer viel zu nett, dennoch gehört er zu den Besten überhaupt.
Seite 2: Jörg Stiel über Yann Sommer und den "eckigen" Neuer
SPOX: Wen sehen Sie zukünftig im deutschen Tor?
Stiel: Marc-Andre ist vom gesamten Auftreten vor Neuer. Er besitzt die Ausstrahlung - und er ist noch sechs Jahre jünger. Wer weiß, was in naher Zukunft passiert? Und vom eigentlichen Können finde ich Adler ohnehin talentierter als Neuer. Was viele vergessen: Es ist nicht allzu lange her, als Adler die unumstrittene Nummer eins war. Dann kam der Knick in Leverkusen. Hätte er sich damals nicht verletzt, wäre die Konstellation heute komplett anders.
SPOX: Adler ist talentierter als Neuer? Die Leistungen in dieser Saison bestätigen das nicht.
Stiel: Er leidet unter dem Durcheinander und der fehlenden Kontinuität in Hamburg. Und er hat nach wie vor immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen. Dennoch gefällt es mir vom Gesamtbild besser, wenn ich Adler auf dem Platz sehe. Es spielt auch eine persönliche Präferenz eine Rolle, aber bei ihm sieht alles einfach runder aus als Neuer. Benaglio ist ähnlich wie Adler. Man sieht ihnen gar nicht an, wie groß sie tatsächlich sind, weil sie so runde, flüssige Bewegungsabläufe haben. Neuer hingegen wirkt eckig.
SPOX: Sie loben Benaglio wiederholt. Wie gut ist Yann Sommer, sein Stellvertreter in der Schweizer Nationalmannschaft, der als ter Stegens Nachfolger in Gladbach gehandelt wird?
Stiel: Yann passt wie das Faust aufs Auge. Er ist wie Marc-Andre beidfüßig und beidhändig. Sein Spielverständnis, die Antizipation, das Verhalten auf der Linie, das Eins-gegen-eins - alles ist überdurchschnittlich bis überragend. Dazu ist er clever, smart, gut aussehend und dabei sehr bescheiden, so dass er vom Image her Marc-Andre perfekt nachfolgen könnte. Das Gesamtpaket spricht für Yann. Er könnte zur neuen Identifikationsfigur werden. Er verkörpert das gewisse Etwas.
Yann Sommer im Porträt: Symbiose aus Genie und Wahnsinn
SPOX: Doch es bleibt die Kritik, dass er mit 1,83 Metern zu klein ist für den europäischen Top-Fußball.
Stiel: Wenn ich so etwas schon höre... Da fragt man den Falschen, ich war ja ebenfalls nie der größte Torwart. Aber ist die Länge wirklich entscheidend? Ich habe noch nie eine Statistik gesehen, wonach Torhüter über 1,85 Metern mehr Bälle abfangen als Kleinere. Yann spielt in der Champions League und für die Schweizer Nationalmannschaft und hatte noch nie Probleme bei Flanken.
SPOX: Hat Sommer keine Schwächen?
Stiel: (schüttelt entschieden den Kopf)
SPOX: Wirklich keine Schwächen?
Stiel: Er ist nicht komplett fehlerfrei - wobei: Welcher Top-Torwart ist es? Ist das gleich eine Schwäche? Tut mir leid, ich würde gerne etwas sagen, allerdings geht es nicht.
SPOX: Demnach wäre eine Ablöse zwischen sechs und acht Millionen Euro gut angelegt, obwohl Sommers Vertrag wie bei ter Stegen 2015 endet?
Stiel: Man kann sich sicher sein: Wenn sich Max Eberl für einen Spieler interessiert, dann scoutet Gladbach denjenigen nicht erst seit gestern intensiv, sondern seit ein, zwei Jahren. Und wenn Max es für richtig hält, Geld in die Hand zu nehmen, dann hat es Hand und Fuß. Für mich sind gar nicht die Spieler, sondern Max und sein Office-Team das wahre Kapital des Vereins. Ich habe noch nie einen Sportchef gesehen, der so strukturiert und kompetent ist wie Max. Nicht umsonst sind mehr als 20 Juniorennationalspieler in Gladbach. Wenn ich mir vorstelle, wo der Klub vor zehn Jahren war, sind das Welten.
SPOX: Für Sommer wäre Gladbach der nächste Schritt einer interessanten Vita. Er war nie der Torwart-Überflieger, sondern diente sich hoch.
Stiel: Bei Sommer ist das entscheidende Wort: Karriereplanung. Ich habe selten einen Spieler gesehen, der so vorausschauend die Entscheidungen traf. Er ließ sich zum FC Vaduz nach Liechtenstein ausleihen, um spielen zu können. Dann kämpfte er sich bei den Grasshoppers durch, bevor er in Basel endlich die logische Nachfolge von Franco Costanzo antreten konnte. Daher würde die Borussia jetzt Sinn machen. Früher fanden Günter Netzer und Rainer Bonhof über Gladbach den Weg zu Real Madrid. Was die meisten nicht wissen: Auch Uwe Kamps war mal Thema bei Real. Und zuletzt bewiesen Dante und Marco Reus: Aus Mönchengladbach erobert man die große Welt.
Marc-Andre ter Stegen im Profil