"Es wird keine Rücksicht genommen"

Von Interview: Benedikt Treuer
34. Spieltag der Saison 2012/13: Schiedsrichter Drees stellt BVB-Keeper Weidenfeller vom Platz
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SPOX: Technische Hilfsmittel sind heutzutage aber gar nicht mehr wegzudenken. Das Schiedsrichtergespann zum Beispiel trägt während des Spiels Headsets. Was genau wird zwischen Ihnen und den Assistenten kommuniziert?

Drees: Salopp formuliert habe ich als Schiedsrichter auf dem Platz erst einmal das Sagen. Daher muss ich für das, was ich tue, auch geradestehen. Es wäre aber fatal, wenn ich mich der Kompetenz und des Wissens der Assistenten nicht bedienen würde. Es geht darum, sich über relevante Entscheidungen zu verständigen. Wenn ich mir als Schiedsrichter in einer gewissen Situation nicht sicher bin, kann ich so Informationen vom Assistenten oder vierten Offiziellen einholen. War es ein Foul? Muss ich einen Spieler verwarnen oder reicht ein Ansprechen? Was ist hinter meinem Rücken passiert?

SPOX: Wird über den Funk auch Kritik geäußert?

Drees: In einzelnen Situationen kann es vorkommen, dass der Assistent dem Schiedsrichter nahelegt, eine strengere oder weniger strenge Linie zu fahren. Es ist durchaus möglich, über das Headset die Funken sprühen zu lassen, wenn sich ein Kollege zusammenreißen soll oder einfach aus einem vorübergehenden Loch geholt werden muss.

SPOX: Bestes Beispiel für diese Kommunikation war der letzte Spieltag der Saison 2012/13, als Sie Borussia Dortmunds Ausgleichstor in der Nachspielzeit gegen die TSG Hoffenheim nach einer engen Abseitssituation zurücknahmen. Hoffenheim entging dadurch dem Abstieg, die Öffentlichkeit lobte Ihren Entschluss. Fehlt es deutschen Schiedsrichtern manchmal an diesem Mut zu unpopulären Entscheidungen?

Drees: Das war eine besondere Entscheidung und ein einschneidendes Ereignis, was meine Schiedsrichtertätigkeit der letzten Jahre betrifft. Ich kann nicht sagen, dass der Mut fehlt. Wären die Schiedsrichter nicht mutig, könnten Sie diese Tätigkeit gar nicht ausführen. Man braucht neben der Konsequenz, mit der man bestimmte Situationen umsetzt, auch ein bisschen Glück. In Dortmund war es damals so, dass ich eine Wahrnehmung hatte, jedoch nicht mit absoluter Sicherheit eine Entscheidung treffen konnte. Gleiches galt für meinen Assistenten. Durch das Zusammenführen unserer Informationen war es möglich, die Situation zu beurteilen. In dem Moment hat es mehr mit professionellem Abarbeiten als mit Mut zu tun.

SPOX: Inwiefern?

Drees: Hätten wir uns Gedanken darüber gemacht, welche gravierenden Folgen die Entscheidung hätte haben können, wäre uns sicher etwas flau geworden. So konnten wir uns auf die Sachentscheidung konzentrieren, was zur richtigen Beurteilung geführt hat.

SPOX: Das heißt, Konsequenzen einer Entscheidung blenden Sie auf dem Platz komplett aus?

Drees: Das würde ich schon von mir behaupten. Ich denke nicht daran, welche Konsequenzen eine Entscheidung für das nächste Spiel hat. Innerhalb des Spiels ist es mir bewusst, dass ich beispielsweise einen gelbbelasteten Spieler womöglich bei der nächsten Aktion vom Platz stellen muss. Dann kann ich versuchen, rechtzeitig auf ihn einzuwirken, um das vielleicht zu verhindern. Was die Konsequenzen darüber hinaus betrifft, kann ich alles ganz gut ausblenden.

SPOX: Auch die Reaktionen der Spieler? Thorsten Kinhöfer sagte im letzten Jahr, dass die Aggressivität gegen Schiedsrichter angestiegen sei. Haben Sie das im Verlauf Ihrer Karriere auch festgestellt?

Drees: Mit Aggressivität hatte ich glücklicherweise bislang wenig Kontakt. Was wir beobachten ist, dass die Aggressivität gerade in den kleinen Klassen - im Jugend- und Amateurbereich - immer weiter zunimmt und es vermehrt zu tätlichen Angriffen auf die Kollegen kommt.

SPOX: Wie kann man dem entgegenwirken?

Drees: Eigentlich nur durch Aufklärung und ein Miteinander. Über eine höhere Akzeptanz muss gelernt werden, dass auf Fehlentscheidungen nicht mit Aggressivität reagiert werden darf. Wenn trotzdem jemand über das Ziel hinausschießt, muss man mit entsprechenden Strafen arbeiten, sonst schreckt es nicht ab.

SPOX: Gibt es im Profi-Bereich dennoch einen Mangel an Respekt gegenüber den Schiedsrichtern? Wenn nicht von den Spielern, dann von den Vereinsoffiziellen?

Drees: Den Verantwortlichen geht es in erster Linie um ihren Klub. Sie versuchen, das Beste herauszuholen. Das ist verständlich, schließlich ist es ihr Job. Dennoch geht es oft gegen den Schiedsrichter, weil er das schwächste Glied in der öffentlichen Wahrnehmung und Auseinandersetzung ist. Die Spieler auf dem Platz treten aber in 90 Prozent der Fälle sehr respektvoll auf. Dass man auf dem Platz mal eine andere Meinung hat, ist völlig okay.

SPOX: Nicht jedem fiel es so leicht, diesem öffentlichen Druck standzuhalten. Hat sich die Wahrnehmung der deutschen Schiedsrichter nach dem Selbstmordversuch von Babak Rafati 2011 geändert?

Drees: Ich glaube, wir sind sensibler geworden, was dieses Thema betrifft. Vorher haben wahrscheinlich die meisten gedacht: "Uns kann so etwas nicht passieren. Wir sind es ja gewöhnt, dass wir Einzelkämpfer sind." Nach dem Fall von Babak Rafati haben wir uns persönlich, aber auch in der Gruppe hinterfragt, um festzustellen, ob es bei uns auch derartige Anzeichen gibt. Mittlerweile haben wir die Möglichkeit, auf sportpsychologische Betreuung zurückzugreifen, die in anonymisierter Form stattfindet. Auch unter den Schiedsrichtern können wir offener damit umgehen, da wir die Scheu und das Tabu davor etwas ablegen konnten. Ich glaube, dass sich im Positiven einiges verändert hat.

SPOX: Haben Sie das Gefühl, man geht auch von außen vorsichtiger mit Schiedsrichtern um?

Drees: Nein, das glaube ich nicht und das darf man auch nicht erwarten. Fußball ist ein hartes Geschäft, in dem auf Einzelne keine Rücksicht genommen wird. Weder auf die Schiedsrichter, noch auf die Spieler. Wenn jemand seine Leistung nicht bringt, wird keiner ewig an ihm festhalten. Ich habe daher nicht die Wahrnehmung, dass ein Kollege nun sagen würde: "Seid bitte so lieb und fasst mich mit Samthandschuhen an."

Seite 1: Drees über Zweifel am Profi-Schiri, Leidensfähigkeit und Videobeweis

Seite 2: Drees über Konsequenzen eines Pfiffs, Aggressivität und öffentlichen Druck

Dr. Jochen Drees im Steckbrief

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