"Es wird keine Rücksicht genommen"

Benedikt Treuer
20. Januar 201514:10
34. Spieltag der Saison 2012/13: Schiedsrichter Drees stellt BVB-Keeper Weidenfeller vom Platzgetty
Werbung

Er verantwortete den ersten regenbedingten Spielabbruch der Bundesliga-Geschichte und bewahrte Hoffenheim 2013 durch eine mutige Entscheidung vor dem möglichen Abstieg. In zehn Jahren Bundesliga hat Dr. Jochen Drees Höhen und Tiefen erlebt - persönlich und im gesamten deutschen Schiedsrichterwesen. Im Interview mit SPOX spricht der Allgemeinmediziner über Zweifel an der Professionalisierung, den Videobeweis und öffentlichen Druck.

SPOX: Dr. Drees, Sie sind der erste Schiedsrichter, der je ein Bundesligaspiel wegen Regens abgebrochen hat. War das einer der kuriosesten Tage Ihrer Karriere?

Dr. Jochen Drees: Ganz bestimmt. Wie man schon aus der Statistik lesen kann, passiert so etwas nicht so häufig. Ich habe auch erst im Nachhinein zugetragen bekommen, dass es wohl schon Abbrüche wegen Nebels oder Schnee gab, jedoch nicht wegen Regens. Das war sicherlich kurios.

SPOX: Was hat Sie überhaupt dazu gebracht, Schiedsrichter zu werden?

Drees: Mein natürliches Interesse und die Liebe zum Fußball waren der Grundantrieb. Als ich selbst noch aktiv gespielt habe, hat mich eine Verletzung dazu gezwungen, eine Pause einzulegen. Zufälligerweise bot die regionale Schiedsrichtergruppe zu der Zeit einen Lehrgang an. Ich habe diesen Kurs belegt und bin dann Schiedsrichter geworden. Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass ich das wohl besser kann, als selbst Fußball zu spielen und so bin ich dabei geblieben.

SPOX: Hauptberuflich arbeiten Sie heute in einer Gemeinschaftspraxis als Allgemeinmediziner. Wie ist das zeitlich mit Ihrer Schiedsrichtertätigkeit vereinbar?

Drees: Durch An- und Abreise zu den Spielen fallen mir öfters Arbeitstage in der Praxis weg, so dass ich gezwungen bin, Termine umzulegen oder Kollegen zu bitten, mich zu vertreten. Das ist nicht immer unproblematisch. Es ist eine Frage der Organisation, aber das funktioniert normalerweise ganz gut.

SPOX: Sollte es Profi-Schiedsrichter geben, um solche Überschneidungen zu vermeiden?

Drees: Ich zweifle an, dass die Leistungen zwangsläufig besser werden, wenn man das Schiedsrichterwesen professionalisiert. So, wie wir es derzeit in Deutschland machen, ist es nach meinem Gefühl ein sehr vernünftiger und zielführender Weg: Wir versuchen, das Umfeld der Schiedsrichter möglichst professionell zu gestalten. Jemanden gänzlich vom Fußball abhängig zu machen, bringt Probleme mit sich.

SPOX: Welche zum Beispiel?

Drees: Was macht derjenige denn, wenn er sich verletzt oder schlechte Leistungen bringt und keine Spiele mehr leiten kann? Jeder hat mal eine schlechte Phase, so wie es bei den Spielern auch der Fall ist. Da ist es gut, wenn man ein Rückzugsgebiet hat, das einem eine Grundunterstützung gibt - finanziell wie psychisch.

SPOX: Inwiefern psychisch? Muss man als Schiedsrichter eine hohe Leidensfähigkeit mitbringen?

Drees: Ich würde nicht sagen, dass man leidensfähig sein muss, jedoch unbedingt kritikfähig. Ein Schiedsrichter, der von sich annimmt, dass er der Beste ist und ihm nichts passieren kann, weil er immer tolle Spiele macht, der hat von Anfang an verloren. Dass es auch einmal Situationen gibt, die von Leiden geprägt sind, insofern, dass sie einem selbst leidtun oder unglücklich laufen, kommt leider immer wieder einmal vor. Solange die Kritik sachlich und inhaltlich fundiert ist, können wir die Anregungen in die nächste Spielleitung mit einbauen. Bundesliga Spielplaner - Der Tabellenrechner von SPOX.com

SPOX: Wie sieht konkret die Vorbereitung auf ein Spiel aus?

Drees: Wir treffen uns am Vorabend mit dem Gespann am Spielort und gehen bei einem gemeinsamen Essen das bevorstehende Spiel durch. Das ist sehr theoretisch. Wir unterhalten uns vor allem über das, was in den letzten Wochen passiert ist und was in Schiedsrichterkreisen bezüglich des Regelwerks aktuell im Fokus steht. Am Tag des Spiels gibt es noch eine Vorbesprechung, in der wir uns auf die anstehende Partie einstimmen.

SPOX: Da sprechen Sie sicher auch über den Wandel, dem sich der moderne Fußball dieser Tage auch in Deutschland unterzieht. Nach dem Freistoßspray wurde nun auch die Einführung des Hawk-Eye-Systems beschlossen. Wie stehen Sie diesen Neuerungen gegenüber?

Drees: Ich bin schon seit vielen Jahren Anhänger der Torlinientechnologie, in welcher Art auch immer diese schließlich durchgeführt wird. Wichtig ist, dass sie technisch zweifelsfrei funktioniert, denn die Frage "Tor oder nicht Tor" ist eine ganz entscheidende und sehr beeinflussende im Spiel. Wenn es 5:0 steht, ist das 5:1 in den meisten Fällen sicherlich unerheblich. Beim Stand von 0:0 hat ein entsprechendes Tor aber eine sehr weitreichende Konsequenz. Durch die Geschwindigkeit im Spiel lassen sich manche Fälle mit dem menschlichen Auge nicht hundertprozentig auflösen. Daher ist es sinnvoll, auf ein solches System zurückgreifen zu können. Jedoch muss es unmittelbar helfen, es darf dadurch nicht zu Verzögerungen im Spielablauf kommen.

SPOX: Das heißt, der Videobeweis wäre nicht in Ihrem Sinne?

Drees: Bezüglich des Videobeweises bin ich skeptisch. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens wäre die Unmittelbarkeit nicht gegeben, so dass diese Einführung direkt auf das Spiel einwirken würde. Wenn wir zur Entscheidung erst eine Pause machen müssten, um die Situation an einem Fernseher außerhalb des Spielfelds anzusehen, würde das Spiel dadurch eine andere Richtung erhalten. Das wäre auch so, wenn ein Oberschiedsrichter die Situation von der Tribüne aus beurteilen würde.

SPOX: Und zweitens?

Drees: Wenn man am Wochenende eine strittige Szene in Sportsendungen sieht, hat man teilweise in zwei, drei verschiedenen Sendungen auch zwei oder drei unterschiedliche Wertungen. Es gibt einfach Situationen, die trotz drei, fünf oder acht Kameraeinstellungen nicht zweifelsfrei geklärt werden können. Diesen subjektiven Einfluss kann man auch technisch nicht vollständig ausmerzen. Ich glaube daher nicht, dass der Videobeweis zielführend und hilfreich für uns wäre.

SPOX: Spiegelt das die generelle Meinung in der Schiedsrichtergilde wider?

Drees: Es existiert ein sehr vielfältiges Meinungsbild. Viele können sich so etwas in gewissen Situationen oder Fragestellungen durchaus vorstellen. Ein Beispiel sind Abseitssituationen, die man am Fernseher besser auflösen kann. Ich glaube trotzdem, dass die Tendenz dahin geht, dass die meisten den Videobeweis eher kritisch ansehen und - zumindest im Moment - ablehnen.

Seite 1: Drees über Zweifel am Profi-Schiri, Leidensfähigkeit und Videobeweis

Seite 2: Drees über Konsequenzen eines Pfiffs, Aggressivität und öffentlichen Druck

SPOX: Technische Hilfsmittel sind heutzutage aber gar nicht mehr wegzudenken. Das Schiedsrichtergespann zum Beispiel trägt während des Spiels Headsets. Was genau wird zwischen Ihnen und den Assistenten kommuniziert?

Drees: Salopp formuliert habe ich als Schiedsrichter auf dem Platz erst einmal das Sagen. Daher muss ich für das, was ich tue, auch geradestehen. Es wäre aber fatal, wenn ich mich der Kompetenz und des Wissens der Assistenten nicht bedienen würde. Es geht darum, sich über relevante Entscheidungen zu verständigen. Wenn ich mir als Schiedsrichter in einer gewissen Situation nicht sicher bin, kann ich so Informationen vom Assistenten oder vierten Offiziellen einholen. War es ein Foul? Muss ich einen Spieler verwarnen oder reicht ein Ansprechen? Was ist hinter meinem Rücken passiert?

SPOX: Wird über den Funk auch Kritik geäußert?

Drees: In einzelnen Situationen kann es vorkommen, dass der Assistent dem Schiedsrichter nahelegt, eine strengere oder weniger strenge Linie zu fahren. Es ist durchaus möglich, über das Headset die Funken sprühen zu lassen, wenn sich ein Kollege zusammenreißen soll oder einfach aus einem vorübergehenden Loch geholt werden muss.

SPOX: Bestes Beispiel für diese Kommunikation war der letzte Spieltag der Saison 2012/13, als Sie Borussia Dortmunds Ausgleichstor in der Nachspielzeit gegen die TSG Hoffenheim nach einer engen Abseitssituation zurücknahmen. Hoffenheim entging dadurch dem Abstieg, die Öffentlichkeit lobte Ihren Entschluss. Fehlt es deutschen Schiedsrichtern manchmal an diesem Mut zu unpopulären Entscheidungen?

Drees: Das war eine besondere Entscheidung und ein einschneidendes Ereignis, was meine Schiedsrichtertätigkeit der letzten Jahre betrifft. Ich kann nicht sagen, dass der Mut fehlt. Wären die Schiedsrichter nicht mutig, könnten Sie diese Tätigkeit gar nicht ausführen. Man braucht neben der Konsequenz, mit der man bestimmte Situationen umsetzt, auch ein bisschen Glück. In Dortmund war es damals so, dass ich eine Wahrnehmung hatte, jedoch nicht mit absoluter Sicherheit eine Entscheidung treffen konnte. Gleiches galt für meinen Assistenten. Durch das Zusammenführen unserer Informationen war es möglich, die Situation zu beurteilen. In dem Moment hat es mehr mit professionellem Abarbeiten als mit Mut zu tun.

SPOX: Inwiefern?

Drees: Hätten wir uns Gedanken darüber gemacht, welche gravierenden Folgen die Entscheidung hätte haben können, wäre uns sicher etwas flau geworden. So konnten wir uns auf die Sachentscheidung konzentrieren, was zur richtigen Beurteilung geführt hat.

SPOX: Das heißt, Konsequenzen einer Entscheidung blenden Sie auf dem Platz komplett aus?

Drees: Das würde ich schon von mir behaupten. Ich denke nicht daran, welche Konsequenzen eine Entscheidung für das nächste Spiel hat. Innerhalb des Spiels ist es mir bewusst, dass ich beispielsweise einen gelbbelasteten Spieler womöglich bei der nächsten Aktion vom Platz stellen muss. Dann kann ich versuchen, rechtzeitig auf ihn einzuwirken, um das vielleicht zu verhindern. Was die Konsequenzen darüber hinaus betrifft, kann ich alles ganz gut ausblenden.

SPOX: Auch die Reaktionen der Spieler? Thorsten Kinhöfer sagte im letzten Jahr, dass die Aggressivität gegen Schiedsrichter angestiegen sei. Haben Sie das im Verlauf Ihrer Karriere auch festgestellt?

Drees: Mit Aggressivität hatte ich glücklicherweise bislang wenig Kontakt. Was wir beobachten ist, dass die Aggressivität gerade in den kleinen Klassen - im Jugend- und Amateurbereich - immer weiter zunimmt und es vermehrt zu tätlichen Angriffen auf die Kollegen kommt.

SPOX: Wie kann man dem entgegenwirken?

Drees: Eigentlich nur durch Aufklärung und ein Miteinander. Über eine höhere Akzeptanz muss gelernt werden, dass auf Fehlentscheidungen nicht mit Aggressivität reagiert werden darf. Wenn trotzdem jemand über das Ziel hinausschießt, muss man mit entsprechenden Strafen arbeiten, sonst schreckt es nicht ab.

SPOX: Gibt es im Profi-Bereich dennoch einen Mangel an Respekt gegenüber den Schiedsrichtern? Wenn nicht von den Spielern, dann von den Vereinsoffiziellen?

Drees: Den Verantwortlichen geht es in erster Linie um ihren Klub. Sie versuchen, das Beste herauszuholen. Das ist verständlich, schließlich ist es ihr Job. Dennoch geht es oft gegen den Schiedsrichter, weil er das schwächste Glied in der öffentlichen Wahrnehmung und Auseinandersetzung ist. Die Spieler auf dem Platz treten aber in 90 Prozent der Fälle sehr respektvoll auf. Dass man auf dem Platz mal eine andere Meinung hat, ist völlig okay.

SPOX: Nicht jedem fiel es so leicht, diesem öffentlichen Druck standzuhalten. Hat sich die Wahrnehmung der deutschen Schiedsrichter nach dem Selbstmordversuch von Babak Rafati 2011 geändert?

Drees: Ich glaube, wir sind sensibler geworden, was dieses Thema betrifft. Vorher haben wahrscheinlich die meisten gedacht: "Uns kann so etwas nicht passieren. Wir sind es ja gewöhnt, dass wir Einzelkämpfer sind." Nach dem Fall von Babak Rafati haben wir uns persönlich, aber auch in der Gruppe hinterfragt, um festzustellen, ob es bei uns auch derartige Anzeichen gibt. Mittlerweile haben wir die Möglichkeit, auf sportpsychologische Betreuung zurückzugreifen, die in anonymisierter Form stattfindet. Auch unter den Schiedsrichtern können wir offener damit umgehen, da wir die Scheu und das Tabu davor etwas ablegen konnten. Ich glaube, dass sich im Positiven einiges verändert hat.

SPOX: Haben Sie das Gefühl, man geht auch von außen vorsichtiger mit Schiedsrichtern um?

Drees: Nein, das glaube ich nicht und das darf man auch nicht erwarten. Fußball ist ein hartes Geschäft, in dem auf Einzelne keine Rücksicht genommen wird. Weder auf die Schiedsrichter, noch auf die Spieler. Wenn jemand seine Leistung nicht bringt, wird keiner ewig an ihm festhalten. Ich habe daher nicht die Wahrnehmung, dass ein Kollege nun sagen würde: "Seid bitte so lieb und fasst mich mit Samthandschuhen an."

Seite 1: Drees über Zweifel am Profi-Schiri, Leidensfähigkeit und Videobeweis

Seite 2: Drees über Konsequenzen eines Pfiffs, Aggressivität und öffentlichen Druck

Dr. Jochen Drees im Steckbrief