Beim DFB scheiterte Rainer Adrion als Coach der U21 bei der EM 2013. In Stuttgart soll er seit vergangenem Sommer die Jugendarbeit perfektionieren. Der Nachwuchsleiter über Gefahren für Talente, den Kampf um Joshua Kimmich und Gründe für die geringe Wertschätzung der Jugendnationalteams.
SPOX: Sie Sind seit Sommer letzten Jahres sportlicher Leiter U17 bis U23 beim VfB Stuttgart. Welche Baustelle hat Sie seitdem am meisten beschäftigt?
Rainer Adrion: Als ich kam, waren die Dinge bereits in vielerlei Hinsicht erstklassig. Aber nicht alles ist perfekt. Wir feilen seitdem an der Verbesserung von Kommunikationsabläufen. Auch die Individualisierung im Trainingsbetrieb wollen wir vorantreiben.
SPOX: Mit welchen Methoden gehen Sie dabei vor?
Adrion: Wir machen das unter anderem anhand eines Profils für jeden Spieler, in dem Stärken und Schwächen festgehalten werden. Diese werden in Abstimmung mit den Trainern übergreifend für die Talente der U17, U19 und U23 definiert.
SPOX: Wie läuft dieser Prozess ab?
Adrion: Am Anfang steht eine umfangreiche Talentprognose. Diese beinhaltet beispielsweise Testverfahren im athletischen Bereich. Darüber hinaus spielen die Einschätzungen der jeweiligen Trainer eine elementare Rolle. Wir diskutieren den bisherigen Fortschritt des Spielers und legen eine Strategie zur weiteren Entwicklung fest. Umso präziser diese Einschätzungen sind, desto größer die Kontinuität im weiteren Aufbau.
SPOX: Wie lässt sich dabei das Risiko von Fehleinschätzungen minimieren?
Adrion: Indem man alle an der Entwicklung der Spieler beteiligten Personen zusammenbringt. Auch deshalb bin ich hier. Früher waren die Nachwuchstrainer noch separiert für die jeweils eigene Mannschaft zuständig und häufiger auf sich allein gestellt. Durch die Schaffung einer sportlichen Leitung in zwei Bereichen - von U11 bis U16 sowie von U17 bis U 23 - werden die einzelnen Abteilungen besser verbunden. Jetzt läuft die Kommunikation reibungsloser und damit erhöht sich die Treffsicherheit in der Beurteilung von Talenten. Und es gibt nun jemanden, der bei unterschiedlichen Auffassungen zu einem Talent im Zweifel das letzte Wort hat.
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SPOX: Trotz der vielgerühmten Nachwuchsarbeit des VfB haben mit Rani Khedira und Joshua Kimmich im letzten Jahr zwei bekannte Talente Stuttgart verlassen. Wie sehr schmerzt Sie das?
Adrion: Die Entscheidung von Joshua Kimmich damals, nach Leipzig in die dritte Liga zu gehen, fiel vor meiner Zeit. Ich hätte vielleicht versucht, ihn zu halten, da auch wir mit der zweiten Mannschaft in derselben Liga spielen. Auch die Hintergründe für den Wechsel von Rani Khedira kenne ich nicht im Detail.
SPOX: Was hat Kimmich denn beim VfB gefehlt? Es gab Gerüchte, dass ihm lange Zeit keine eindeutige Perspektive geboten wurde.
Adrion: Joshua Kimmich hatte eine klare Perspektive bei den Profis. Der Plan war, ihn zurückzuholen und in der ersten Mannschaft zu integrieren. Wir haben auf ihn gebaut, das wurde ihm auch so aufgezeigt. Aber Bayerns Angebot veränderte alles. Es lief zwar absolut fair und korrekt ab, aber es wird ungleich schwerer für den VfB, wenn der FC Bayern so massiv um ein Talent mitbietet.
SPOX: Oft werden Talente in immer jüngeren Jahren abgeworben. Ein bedenklicher Trend, gerade für Sie als ehemaligen Jugendcoach?
Adrion: Diesen Kampf um Talente haben wir mittlerweile tatsächlich schon bei ganz jungen Spielern. Er ist härter geworden. In der Bewertung muss ich abwägen: Wenn man Spieler von unterklassigen Vereinen holt, ist das normal, da diese den Ausbildungsstandard nicht gewährleisten können. Dafür bekommen diese Klubs auch eine Ausbildungsentschädigung. In den Spitzenvereinen wird aber mittlerweile schon sehr früh um Talente gebuhlt. Da haben Vereine eine Gesamtverantwortung, die weit über das Sportliche hinausgeht.
SPOX: Das bedeutet?
Adrion: Es geht um die Fortführung der schulischen Ausbildung und um die Frage, ab wann es junge Spieler verkraften, das Elternhaus zu verlassen. Solche Angebote in frühen Jahren bergen auch stets die Gefahr, dass sich die Jungs plötzlich selbst überschätzen. All diese Einflüsse sind für junge Spieler noch sehr schwer einzuschätzen.
SPOX: Khedira hat im SPOX-Interview die mangelnde Perspektive bei Stuttgart beklagt. Er habe mit den Profis trainiert, aber meist bei der U23 gespielt. Haben Sie Verständnis für seine Bedenken?
Adrion: Grundsätzlich brauchen Spieler eine möglichst klare Perspektive. Mart Ristl zum Beispiel, unser U19-Kapitän, könnte schon jetzt in der U23 spielen. Aber aufgrund der aktuellen Konkurrenzsituation ist es für ihn besser, in der Jugend zu reifen und dabei als Persönlichkeit zu wachsen. So kann er Verantwortung für die Mannschaft übernehmen. Auch Persönlichkeitsentwicklung ist Teil unseres Ausbildungsgedankens. Aber dafür muss ein Spieler eine Heimat haben, er muss sich mit seiner Mannschaft identifizieren können.
SPOX: Aber wie kommt es, dass ein Spieler so wenig Vertrauen spürt, dass er lieber in die 2. Liga geht wie damals Khedira?
Adrion: Er hat hauptsächlich unter Thomas Schneider gespielt. Doch die Mannschaft war damals nicht gerade gefestigt, deshalb konnte er seine Leistung vielleicht nicht abrufen. Aber wie gesagt, die genauen Hintergründe seines Wechsels kenne ich nicht.
SPOX: Wie wollen Sie solche Verluste in Zukunft vermeiden?
Adrion: Man muss mit Spielern, Eltern und Beratern einen Karriereplan aufstellen. Der muss sowohl mannschaftssportliche Aspekte als auch individuelle Zielstellungen beim VfB Stuttgart beinhalten. Manchmal steht das zwar im Widerspruch dazu, dass Spieler immer so früh wie möglich bei den Profis spielen wollen. Doch man sollte offen erklären, weshalb es besser sein könnte, lieber noch ein halbes Jahr in der dritten Liga zu bleiben. Zum Beispiel, wenn bei den Profis auf dieser Position kein akuter Bedarf herrscht.
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SPOX: Präsident Bernd Wahler meinte, es sei wichtig, junge Spieler einzubauen, aber man dürfe sie nicht verheizen. Wurden in den vergangenen Jahren in Stuttgart junge Spieler verheizt?
Adrion: Ich stimme dem Präsidenten dabei absolut zu. Jeder Verantwortliche beim VfB weiß, welche Talente in den nächsten Monaten oder Jahren den Sprung schaffen können. Man muss jedoch den richtigen Zeitpunkt für die Beförderung finden. Es macht keinen Sinn, einen Spieler zwei Jahre lang als Nummer 20 bei den Profis mitlaufen lassen.
SPOX: Wie problematisch ist es für junge Spieler, dass die Profis im Abstiegskampf stecken? In einer solchen Drucksituation ist wenig Platz für Anfängerfehler.
Adrion: Für junge Spieler ist es grundsätzlich wichtig, in eine Mannschaft mit intakter Hierarchie zu kommen, in der es erfahrene Spieler gibt, die den Talenten den Druck nehmen. Aber der Abstiegskampf kann auch eine lehrende Erfahrung für die weitere Karriere sein.
SPOX: Sie selbst hatten schon beim DFB viel mit Nachwuchsspielern zu tun. Bei Ihrer letzten EM mit der U21 schied Deutschland in Israel aus, auch weil zahlreiche Stars damals mit dem A-Team auf USA-Reise gingen. Waren Sie sehr verärgert?
Adrion: Ich bin niemandem böse. Es war einfach ein anderes Konzept, das von der Führungsebene so festgelegt wurde. Joachim Löw wollte die Spieler schon frühzeitig in der A-Nationalmannschaft integrieren. Das war von vornherein klar. Ein Jahr später sind wir Weltmeister geworden, also kann es nicht falsch gewesen sein.
SPOX: War es ein Grund für die Trennung, dass Sie als Trainer nicht aus dem Vollen schöpfen konnten?
Adrion: Es war nicht der einzige Grund. Ich wollte nicht nochmal einen Jahrgang über zwei Jahre aufbauen und natürlich war der DFB auch mit den Ergebnissen nicht zufrieden. Mit dem vorhandenen Spielermaterial wäre vielleicht mehr drin gewesen. Zumal wir im Jahr davor die Qualifikation für die WM verpasst hatten. Dafür war aber die Durchlässigkeit an Talenten enorm hoch. Viele meiner Spieler fanden schnell den Weg in die A-Nationalmannschaft.
SPOX: Sie verspüren also keinerlei persönliche Enttäuschung?
Adrion: Ich war damals schon etwas enttäuscht. Aber es kamen auch andere Faktoren erschwerend hinzu. Wir hatten zum Beispiel enormes Verletzungspech. Dazu wurden die beiden Niederlagen gegen Spanien und die Niederlande erst kurz vor Schluss besiegelt.
SPOX: Anfang dieser Saison stand die U19-EM auf dem Programm. Weil sie auf die Vorbereitung der Bundesligisten fiel, wurden viele Top-Talente wie Schalkes Max Meyer oder Timo Werner vom VfB von ihren Klubs nicht freigegeben. Ist der Stellenwert der U-Mannschaften in Deutschland so gering?
Adrion: Das ist durchaus möglich. Ich bin immer noch überzeugt, dass man Talenten die Chance ermöglichen sollte, internationale Erfahrung bei großen Turnieren zu sammeln. Dadurch können sie sich enorm verbessern. Aber das muss natürlich im Einklang mit den Interessen des jeweiligen Vereins geschehen.
SPOX: Woher rühren diese Unterschiede?
Adrion: Man muss differenzieren. Nicht alle sträuben sich, aber bei Terminkollisionen muss man darüber reden. Man bewegt sich in einem Spannungsfeld. Bei den Italienern oder Spaniern zum Beispiel gibt es damit kein Problem. Da ist ein Thiago bei der Weltmeisterschaft dabei und spielt ein paar Monate wieder in der U21.
SPOX: Weshalb ist das so?
Adrion: Den Spielern wird vermittelt, wie wichtig das für ihre Ausbildung ist. Das betrifft die Spieler, die in der A-Nationalmannschaft noch keine Stammkräfte sind. Es wird auf dem Weg zum A-Nationalspieler auch eine gewisse Einstellung zum Nationalverband erwartet. Es ist ja durchaus logisch, dass ein internationales Top-Turnier einen Spieler wie Thiago weiterbringen kann. Letztlich wurde er 2011 und 2013 Europameister und beide Male zum besten Spieler des Turniers gewählt.
SPOX: Ihre Haltung zu dieser Thematik hat sich offensichtlich auch durch den Seitenwechsel nicht geändert. Was haben Sie aus Ihrer DFB-Zeit denn mitgenommen?
Adrion: Die Professionalität und Planmäßigkeit, die beim DFB herrscht, nehme ich mit. Auch den Überblick über all die Talente, die es in den verschiedenen Altersstufen gibt. Da kann ich mein Wissen für den VfB gut einbringen.
SPOX: Ist das nicht sogar ein gewaltiger Wissensvorsprung im Vergleich zur Konkurrenz?
Adrion: Kann man so sagen. Ich habe das Geschäft aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachten können, das birgt schon einige Vorteile.
SPOX: Ohne Nachteile?
Adrion: Ich kann selbst nicht mehr mitspielen (lacht). Dazu wird die Kluft zur Jugend und den Dingen, die sie bewegt, immer größer. Aber solange Spieler das Wesentliche im Fokus behalten - Fleiß, Respekt und die Entwicklung als Persönlichkeit - ist mir das egal. Indem ich mich damit auseinandersetze, bleibe ich auch jung.
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