SPOX: Sie Sind seit Sommer letzten Jahres sportlicher Leiter U17 bis U23 beim VfB Stuttgart. Welche Baustelle hat Sie seitdem am meisten beschäftigt?
Rainer Adrion: Als ich kam, waren die Dinge bereits in vielerlei Hinsicht erstklassig. Aber nicht alles ist perfekt. Wir feilen seitdem an der Verbesserung von Kommunikationsabläufen. Auch die Individualisierung im Trainingsbetrieb wollen wir vorantreiben.
SPOX: Mit welchen Methoden gehen Sie dabei vor?
Adrion: Wir machen das unter anderem anhand eines Profils für jeden Spieler, in dem Stärken und Schwächen festgehalten werden. Diese werden in Abstimmung mit den Trainern übergreifend für die Talente der U17, U19 und U23 definiert.
SPOX: Wie läuft dieser Prozess ab?
Adrion: Am Anfang steht eine umfangreiche Talentprognose. Diese beinhaltet beispielsweise Testverfahren im athletischen Bereich. Darüber hinaus spielen die Einschätzungen der jeweiligen Trainer eine elementare Rolle. Wir diskutieren den bisherigen Fortschritt des Spielers und legen eine Strategie zur weiteren Entwicklung fest. Umso präziser diese Einschätzungen sind, desto größer die Kontinuität im weiteren Aufbau.
SPOX: Wie lässt sich dabei das Risiko von Fehleinschätzungen minimieren?
Adrion: Indem man alle an der Entwicklung der Spieler beteiligten Personen zusammenbringt. Auch deshalb bin ich hier. Früher waren die Nachwuchstrainer noch separiert für die jeweils eigene Mannschaft zuständig und häufiger auf sich allein gestellt. Durch die Schaffung einer sportlichen Leitung in zwei Bereichen - von U11 bis U16 sowie von U17 bis U 23 - werden die einzelnen Abteilungen besser verbunden. Jetzt läuft die Kommunikation reibungsloser und damit erhöht sich die Treffsicherheit in der Beurteilung von Talenten. Und es gibt nun jemanden, der bei unterschiedlichen Auffassungen zu einem Talent im Zweifel das letzte Wort hat.
Die Bundesliga geht in die heiße Phase - Jetzt bei Tipico wetten!
SPOX: Trotz der vielgerühmten Nachwuchsarbeit des VfB haben mit Rani Khedira und Joshua Kimmich im letzten Jahr zwei bekannte Talente Stuttgart verlassen. Wie sehr schmerzt Sie das?
Adrion: Die Entscheidung von Joshua Kimmich damals, nach Leipzig in die dritte Liga zu gehen, fiel vor meiner Zeit. Ich hätte vielleicht versucht, ihn zu halten, da auch wir mit der zweiten Mannschaft in derselben Liga spielen. Auch die Hintergründe für den Wechsel von Rani Khedira kenne ich nicht im Detail.
SPOX: Was hat Kimmich denn beim VfB gefehlt? Es gab Gerüchte, dass ihm lange Zeit keine eindeutige Perspektive geboten wurde.
Adrion: Joshua Kimmich hatte eine klare Perspektive bei den Profis. Der Plan war, ihn zurückzuholen und in der ersten Mannschaft zu integrieren. Wir haben auf ihn gebaut, das wurde ihm auch so aufgezeigt. Aber Bayerns Angebot veränderte alles. Es lief zwar absolut fair und korrekt ab, aber es wird ungleich schwerer für den VfB, wenn der FC Bayern so massiv um ein Talent mitbietet.
SPOX: Oft werden Talente in immer jüngeren Jahren abgeworben. Ein bedenklicher Trend, gerade für Sie als ehemaligen Jugendcoach?
Adrion: Diesen Kampf um Talente haben wir mittlerweile tatsächlich schon bei ganz jungen Spielern. Er ist härter geworden. In der Bewertung muss ich abwägen: Wenn man Spieler von unterklassigen Vereinen holt, ist das normal, da diese den Ausbildungsstandard nicht gewährleisten können. Dafür bekommen diese Klubs auch eine Ausbildungsentschädigung. In den Spitzenvereinen wird aber mittlerweile schon sehr früh um Talente gebuhlt. Da haben Vereine eine Gesamtverantwortung, die weit über das Sportliche hinausgeht.
SPOX: Das bedeutet?
Adrion: Es geht um die Fortführung der schulischen Ausbildung und um die Frage, ab wann es junge Spieler verkraften, das Elternhaus zu verlassen. Solche Angebote in frühen Jahren bergen auch stets die Gefahr, dass sich die Jungs plötzlich selbst überschätzen. All diese Einflüsse sind für junge Spieler noch sehr schwer einzuschätzen.
SPOX: Khedira hat im SPOX-Interview die mangelnde Perspektive bei Stuttgart beklagt. Er habe mit den Profis trainiert, aber meist bei der U23 gespielt. Haben Sie Verständnis für seine Bedenken?
Adrion: Grundsätzlich brauchen Spieler eine möglichst klare Perspektive. Mart Ristl zum Beispiel, unser U19-Kapitän, könnte schon jetzt in der U23 spielen. Aber aufgrund der aktuellen Konkurrenzsituation ist es für ihn besser, in der Jugend zu reifen und dabei als Persönlichkeit zu wachsen. So kann er Verantwortung für die Mannschaft übernehmen. Auch Persönlichkeitsentwicklung ist Teil unseres Ausbildungsgedankens. Aber dafür muss ein Spieler eine Heimat haben, er muss sich mit seiner Mannschaft identifizieren können.
SPOX: Aber wie kommt es, dass ein Spieler so wenig Vertrauen spürt, dass er lieber in die 2. Liga geht wie damals Khedira?
Adrion: Er hat hauptsächlich unter Thomas Schneider gespielt. Doch die Mannschaft war damals nicht gerade gefestigt, deshalb konnte er seine Leistung vielleicht nicht abrufen. Aber wie gesagt, die genauen Hintergründe seines Wechsels kenne ich nicht.
SPOX: Wie wollen Sie solche Verluste in Zukunft vermeiden?
Adrion: Man muss mit Spielern, Eltern und Beratern einen Karriereplan aufstellen. Der muss sowohl mannschaftssportliche Aspekte als auch individuelle Zielstellungen beim VfB Stuttgart beinhalten. Manchmal steht das zwar im Widerspruch dazu, dass Spieler immer so früh wie möglich bei den Profis spielen wollen. Doch man sollte offen erklären, weshalb es besser sein könnte, lieber noch ein halbes Jahr in der dritten Liga zu bleiben. Zum Beispiel, wenn bei den Profis auf dieser Position kein akuter Bedarf herrscht.
Seite 1: Adrion über Gefahren für Talente, Khediras Kritik & den Kampf um Kimmich
Seite 2: Adrion über Enttäuschung beim DFB, Wissensvorsprung und Altersvorteile