Wie war das 5:2 des FC Schalke 04 bei Inter Mailand möglich? Glück spielte eine wichtige Rolle, entscheidend waren aber Ralf Rangnicks Mut, seine Hoffenheim-Barca-Vision und pikanterweise Felix Magath.
1. Taktische Ausrichtung: Run'N'Gun
Dass Schalkes Trainer Ralf Ragnick ein Mann der Experimente ist, bewies er bereits in den 80er Jahren, als er früher als das restliche Deutschland von der Manndeckung abkehrte und die ballorientierte Raumdeckung spielen ließ.
Was er jedoch bei Inter Mailand seiner Mannschaft als taktische Vorgabe mitgab, war an Radikalität und Risikobereitschaft ebenfalls nicht zu unterschätzen. Nachdem er Inters 0:3 im Derby eingehend studiert hatte, sah er die größte Schwäche des Champions-League-Siegers im Umschaltverhalten nach Ballverlust. Getty
Daher gab er die Ausrichtung aus, das Mittelfeld so zügig wie möglich zu überbrücken, um schnell in die Nähe des gegnerischen Strafraums zu kommen. Dass dies auf Kosten der eigenen Kompaktheit ging und Schalkes Doppel-Sechs Papadopoulos/Jurado im Mittelfeld kaum Zugriff auf den zweiten Ball bekam, nahm Rangnick hin. "Wir haben so offensiv gespielt wie selten zuvor", sagte Torwart Manuel Neuer.
Was folgte, war ein wildes Hin und Her beider Teams, ein sortiertes Mittelfeldspiel fand im Grunde nicht statt. Phasenweise erinnerte es weniger an Fußball als mehr an Basketball, wenn dort zwei offensivstarke Teams "Run'N'Gun" spielen - einfach nur rennen und schießen.
Wenn die technisch überlegenen Mailänder nur etwas mehr Ruhe und Weitsicht an den Tag gelegt und die Mittelfeldspieler ihre Positionen gehalten hätten, wäre Rangnicks Hasardeur-Taktik wohl gescheitert. Inter jedoch nahm munter an der wilden Hatz teil, obwohl es anders als Schalke darauf nicht vorbereitet war. Joel Matip meinte: "Wir wurden von Ralf Rangnick sehr gut darüber informiert, wie wir zu spielen haben."
Außerdem auffällig: Rangnick gab seiner Mannschaft mit auf den Weg, es verstärkt mit Hereingaben zu versuchen. Der ohne Lucio schwächelnde Andrea Ranocchia sowie Aushilfs-Innenverteidiger Cristian Chivu wurden offensichtlich als Schwachpunkte ausgemacht und mit Flanken eingedeckt, um den wuchtigen Edu und den sich extrem clever im Raum bewegenden Raul erfolgreich zu Kopfballchancen zu verhelfen.
2. Aufstellung - Rangnick geht bewusst volles Risiko
3. Taktische Umstellung - Rückkehr der Hoffenheim-Barca-Vision
4. Physis - Magaths Anteil am Erfolg
5. Spielverlauf - Schalke profitiert von Stankovic-Traumtor
2. Aufstellung: Rangnick geht bewusst volles Risiko
So kühn die taktische Ausrichtung war - auch mit seiner Aufstellung bewies Rangnick Wagemut und sein derzeit glückliches Händchen. Angesichts der Ausfälle hätte man erwarten können, dass Rangnick behutsamer vorgeht, immerhin fehlte vom Torwart abgesehen auf jeder Position ein Leistungsträger: Metzelder (Abwehr), Kluge (Mittelfeld) und Huntelaar (Sturm).
Doch statt sich für die vorsichtigere Variante zu entscheiden und den gelernten Sechser Schmitz ins Mittelfeld zu stellen, ersetzte Rangnick den für die Stabilität so ungemein wichtigen Kluge mit dem begabten, aber häufig unwirksamen Jurado.
Der Spanier, sonst ein Defensivrisiko, sollte als Sechser/Zehner-Hybrid im Spiel gegen den Ball Papadopoulos helfen, nach Ballgewinn jedoch sofort sich hinter die beiden Spitzen schieben und den Angriff lenken.
Eine ungemein schwierige Aufgabe, die Jurado erstaunlich gut ausfüllte, auch wenn ihm, ähnlich wie Baumjohann, als Offensivspieler gelegentlich das Timing fehlte, wann er den ballführenden Gegenspieler direkt angreifen oder lieber abwarten sollte.
Baumjohann zeigte seine bekannten Ballfertigkeiten in sehenswerten Kombinationen mit Jurado, Raul sowie Jefferson Farfan und erledigte seine Defensivaufgaben nicht fehlerfrei, nichtsdestotrotz aber gewissenhaft.
Eine Randgeschichte, die im 2:5-Trubel unterging: Mit Baumjohann und dem nicht minder laufstarken Hans Sarpei wurde die linke Seite von zwei Spielern besetzt, die unter Felix Magath in die 4. Liga zu Schalke II herabgestuft worden waren - und in Mailand fast schon beiläufig Maicon, den vielleicht besten Rechtsverteidiger der Welt, ausschalteten.
Weitere richtige Personalien: Matip überraschend in der Innenverteidigung aufzubieten, obwohl dieser von Magath nur auf der Sechs oder rechts hinten benötigt wurde, und dafür den kantigen und bissigen Papadopoulos als Sneijder-Sonderbewacher ins defensive Mittelfeld zu stellen (Rangnick: "Seine Aggressivität hilft uns").
Noch eine wichtige Entscheidung verknüpfte Rangnick mit einem Seitenhieb in Richtung Magath. Entgegen der Meinung seines Vorgängers sieht Rangnick in Edu einen Keilstürmer, der kraft seiner Physis und Wucht Räume für Raul schaffen soll. Edu erzielte in Mailand zwei Tore. Rangnick süffisant: "Wenn man Edu aufstellt, muss man ihn vorne bringen. Das ist kein Spieler für die Außenbahn."
1. Taktische Ausrichtung: Run'N'Gun
3. Taktische Umstellung - Rückkehr der Hoffenheim-Barca-Vision
4. Physis - Magaths Anteil am Erfolg
5. Spielverlauf - Schalke profitiert von Stankovic-Traumtor
3. Taktische Umstellung: Rückkehr der Hoffenheim-Barca-Vision
Rangnicks Inbegriff der fußballerischen Perfektion ist das Mittelfeld des FC Barcelona, weswegen er in Hoffenheim ein ähnliches 4-3-3 aufbot mit drei Mittelfeldspielern, die variabel als Zehner, Achter oder Sechser agierten.
In der Halbzeitpause in Mailand besann sich der neue Schalke Trainer auf sein Ideal und modifizierte das ursprüngliche 4-4-2 zu einem verkappten 4-3-3. Je nach Spielsituation schob sich Farfan aus dem Mittelfeld nach rechts vorne, Raul lief nach links außen und Baumjohann sowie Jurado gingen auf die Halbpositionen im Mittelfeld, mit Papadopoulos als Absicherung.
"In der Halbzeit haben wir noch mal umgestellt auf drei Sechser. Das war wichtig, denn dann haben wir nicht mehr so viele Chancen zugelassen. In der ersten Halbzeit hatten wir noch zu viele Räume geliefert. Wichtig war es, dass wir in der zweiten Halbzeit besser verteidigen konnten als in der ersten. Sonst hätte es am Ende 7:7 stehen können", sagte Rangnick.
Sein Gegenüber Leonardo hingegen wurde von Rangnick auf schmerzliche Weise ausgecoacht. Trotz der offensichtlich fehlenden Balance im Inter-Spiel beließ er es beim 4-4-2 in der Raute, dabei hatte er zahlreiche Optionen zur Korrektur. Etwa, indem er den ballsicheren Javier Zanetti zur Unterstützung von Thiago Motta ins defensive Mittelfeld gestellt hätte, statt den Argentinier auf links hinten zu verschenken, wo es mit Yuto Nagatomo eine Alternative gegeben hätte. Getty
Den stabilsten Eindruck hinterließ Inter zum Ende der ersten Halbzeit, als sich Sneijder der Bewachung von Papadopulos entzog und nach links außen ging, während der taktisch ungewohnt undisziplinierte Esteban Cambiasso mit Motta die Doppel-Sechs bildete und aus der 4-4-2-Raute ein flaches 4-4-2 wurde.
Direkt nach der Pause jedoch kehrte Inter aus welchen Gründen auch immer zur Raute und damit zur gewohnten Unsicherheit zurück.
1. Taktische Ausrichtung: Run'N'Gun
2. Aufstellung - Rangnick geht bewusst volles Risiko
4. Physis - Magaths Anteil am Erfolg
5. Spielverlauf - Schalke profitiert von Stankovic-Traumtor
4. Physis: Magaths Anteil am Erfolg
Magath mag einen seltsamen Führungsstil verfolgen, seine Kompetenz in der Trainingssteuerung und beim Aufbau einer physischen Grundlage für den Saisonendspurt ist hingegen unumstritten. Das 5:2 gegen Inter dient als Beleg.
Selbstredend leidet Mailand unter der Terminflut, in den 30 Wochen seit dem Saisonstart hatte Inter 46 Pflichtspiele zu bestreiten.
Entsprechend kraftlos gestalteten sich die letzten 30 Minuten gegen Schalke. Doch auch Schalke war diese Saison ähnlich im Einsatz: 43 Pflichtspiele in 32 Wochen.
Auch wenn sich S04 im Ligabetrieb gelegentlich schonen konnte, die überlegene Physis gegenüber Inter war augenscheinlich, was auf einer Kombination verschiedener Faktoren fußt: Magaths Wirken, genauso wie Rangnicks Courage, eine im Vergleich zu Inter wesentlich jüngere und damit auch ausdauerndere Mannschaft einzusetzen. Am Ende war Schalke elf Kilometer mehr gelaufen.
Nicht unterschätzt werden darf die Arbeit des im Sommer scheidenden Michael Boris. Der Trainer von Schalke II, dessen Vertrag nicht verlängert wird, betreute Baumjohann und Sarpei nach deren Degradierung und war mitverantwortlich dafür, dass sich beide trotz fehlender Praxis auf höchstem Niveau bewähren konnten.
1. Taktische Ausrichtung: Run'N'Gun
2. Aufstellung - Rangnick geht bewusst volles Risiko
3. Taktische Umstellung - Rückkehr der Hoffenheim-Barca-Vision
5. Spielverlauf - Schalke profitiert von Stankovic-Traumtor
5. Spielverlauf: Schalke profitiert von Stankovic-Traumtor
In jedem anderen Spiel wäre dieser Treffer wohl das Ereignis schlechthin gewesen. Erst 26 Sekunden gespielt, langer Steilpass auf Milito, Neuer stürzt aus dem Kasten, klärt den Ball mit dem Kopf aus dem vermeintlichen Gefahrenbereich, aber in der Nähe der Mittellinie steht Inters Stankovic und schießt volley - der Ball fliegt über den verdutzten Neuer hinweg ins Tor.
Getty"Ein so früher Rückstand war für uns nicht ganz einfach, zumal wir heute sehr viele junge Spieler in der Startelf hatten und in dieser Formation noch nie zuvor gespielt haben", sagte der Nationaltorwart.
Aber: Das Gegentor sollte sich als Segen für Schalke erweisen.
Inter fühte sich in seiner Allmacht bestätigt und bekam vor lauter Pomadigkeit nicht mit, dass der Außenseiter nicht aufsteckte, sondern schlicht und ergreifend weiterspielte.
Neuer: "Vielleicht tat uns dieses Tor sogar gewissermaßen gut, denn auf diese Weise hat sich Mailand etwas sicherer gefühlt."
1. Taktische Ausrichtung: Run'N'Gun
2. Aufstellung - Rangnick geht bewusst volles Risiko
3. Taktische Umstellung - Rückkehr der Hoffenheim-Barca-Vision
4. Physis - Magaths Anteil am Erfolg
Inter - Schalke: Daten & Fakten zum Spiel