Viele große Rätsel

Stefan Rommel
01. Juli 201220:56
Drei deutsche Figuren der EM: Sami Khedira, Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger (v.l.)Getty
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Die Europameisterschaft aus deutscher Sicht: Manche Spieler haben sich in den Vordergrund gespielt, andere müssen in Zukunft wieder deutlich zulegen. Von Badstuber bis Zieler - eine Bilanz.

Die Torhüter

Manuel Neuer: In seinem Kerngeschäft innerhalb des Strafraums während der gesamten EM ohne groben Fehler. Gegen Portugal mit seinen Paraden einer der Garanten für den Auftaktsieg. Bei einigen Ausflügen nach draußen nicht immer sicher - allerdings bereinigte er so auch manch potenziell gefährliche Szene schon im Ansatz. In der Endphase gegen Italien mit dem unbedingten Willen, spielte fast eine Art Libero, ging dreimal mit nach vorne. Insgesamt ein starkes Turnier von Neuer. Seine Rolle in der Mannschaft dürfte auch in den nächsten Jahren unstrittig sein: die der Nummer eins.

Tim Wiese: Wie schon vor zwei Jahren die Nummer zwei hinter Neuer. Hielt sich auch dieses Mal strikt an die Etikette, maulte nicht, sondern war im Gegenteil wieder einer der Spaßvögel im Kader. Das Gute an Wiese ist, dass man ihn wirklich jederzeit absolut bedenkenlos einsetzen hätte können. Mehr kann man von einer Nummer zwei nicht erwarten. Obwohl: Bei der geforderten Ansprache im Beisein der Kanzlerin kniff er. Kann man irgendwie auch verstehen... Zukunft: Weiter in Schwarz und Weiß, weiter größtenteils auf der Bank.

Ron-Robert Zieler: Er feierte seinen persönlichen Sieg bereits im Trainingslager in Tourrettes, als er sich im Rennen um die dritte Torhüterposition knapp gegen Marc-Andre ter Stegen durchsetze. Bei der EM dann erwartungsgemäß der Trainingspartner von Neuer und Wiese, durfte reinschnuppern und den Rest der Mannschaft beim Poolbillard abzocken. Wird sich aber schon ab dem ersten Bundesligaspieltag den Angriffen ter Stegens, Bernd Lenos oder Sven Ulreichs erwehren müssen.

Die Abwehrspieler

Holger Badstuber: Er galt schon vor dem Turnier als die Konstante in der Innenverteidigung und gesetzt. Bestätigte das Vertrauen von Löw mit teilweise sehr guten Leistungen. Spielte defensiv unspektakulär, nach vorne flach, präzise und hart. In der Abstimmung mit Mats Hummels in den ersten vier Spielen nahezu fehlerlos. Gegen Italien schien es aber so, als sei er entweder schlecht vorbereitet auf die zweite nominelle Spitze oder aber damit überfordert. Hatte im Halbfinale einige sehr unwirsche Aktionen, die seinen guten Gesamteindruck schmälern. Trotzdem bleibt Badstuber mit seinen Qualitäten ein Spieler für die erste Elf.

Jerome Boateng: Reiste mit einer aufgebauschten Gina-Lisa-Affäre im Gepäck nach Danzig und bekam deshalb vom Bundestrainer öffentlich einen Rüffel verpasst wie noch kaum einer vor ihm. Die eingeforderten Leistungen erbrachte Boateng dann aber, wenn er denn spielen durfte. Sein Ersatzmann Lars Bender nutzte die Gunst der Stunde zwar gegen Dänemark, stark genug um an Boateng vorbeizukommen war er dem Bundestrainer aber nicht. Gegen Italien das größte Opfer der taktischen Umstellung, machte immerhin noch das Beste daraus. Aber: Boateng ist und bleibt gelernter Innenverteidiger und auf der rechten - oder linken - Außenbahn nur die beste Notlösung.

Benedikt Höwedes: Der Schalker durfte sein erstes Turnier erleben und fügte sich klaglos in die Rolle des EM-Touristen. War in der Innenverteidigung Alternative Nummer vier, als Rechtsverteidiger erst Nummer zwei, dann nur noch Nummer drei. Trotzdem empfand er die Erfahrungen bei der EM als wertvoll. Die heißesten Gefechte lieferte er sich mit Lars Bender am Billardtisch. In Zukunft wird er für die Position rechts in der Viererkette vielleicht wieder in Frage kommen. Je nachdem, wo er beim FC Schalke demnächst aufgestellt wird. Für den Posten in der Innenverteidigung erscheint die Konkurrenz zu groß.

Mats Hummels: Schien gegen Portugal schon als fixer Ersatzspieler eingeplant und rutschte dann doch ins Team. Nach zehn Minuten Eingewöhnungsphase eine Bank im deutschen Abwehrzentrum - bis zu seinem ebenso unerklärlichen wie einfachen Fehler gegen Antonio Cassano. Das einzig Gute daran: Diese Art Fauxpas wird man von Hummels nicht wieder sehen. Mit seiner selbstbewussten Art nicht für jeden in der Mannschaft leicht zu nehmen. Aber Hummels überzeugte bei seinem ersten großen Turnier, was Mut macht für die Zukunft. Die will er entscheidend mitprägen und dabei auch selbst vorangehen.

Philipp Lahm: Wünschte sich die rechte und bekam aber erneut nur die linke Seite in der Viererkette zugewiesen. Verrichtete seine Arbeit dort ordentlich bis gut, gegen die Niederlande sogar wie der Lahm in Weltklassemanier. Aber auch ihm fehlte die Konstanz, das gesamte Turnier auf Toplevel zu absolvieren. Dann gegen Italien nach seinem Tor gegen die Griechen in zwei entscheidenden Szenen zu inkonsequent: Vor Balotellis 0:2 und bei der dicken, von ihm selbst glänzend eingefädelten Chance direkt nach der Pause. Als Kapitän sehen viele einen Nachteil: Befindet sich auf der Außenbahn immer einen Tick zu weit weg vom Geschehen, um in heiklen Situationen (verbal) einzugreifen.

Per Mertesacker: Zwischen Stammspieler und Bankdrücker war vor der EM alles möglich. Für Mertesacker wurde es letztlich ein Turnier aus der Zuschauerperspektive. Eine neue Erfahrung, war er doch in den drei Großveranstaltungen davor stets in der Innenverteidigung gesetzt. Seine langwierige Verletzung ließ aber zunächst offenbar keinen Einsatz auf diesem Niveau zu, nach dem Portugal-Spiel hatten sich Badstuber und Hummels dann als Duo festgespielt. Also blieb Merte nur die Rolle des Motivators, der als Mitglied des Mannschaftsrats ein wenig anleiten durfte. Die Frage, ob nun eine Ära im DFB-Team zu Ende gehen würde, wurde mit den Worten "totaler Schwachsinn" beantwortet - von seinem Konkurrenten Badstuber. Trotzdem dürfte es für Mertesacker schwer werden, noch mal richtig zurückzukehren in die erste Elf.

Marcel Schmelzer: Sein Schicksal war mit Löws Entscheidung, seinen Kapitän lahm auf die linke Seite zu beordern, quasi schon besiegelt. Der Bundestrainer traute dem Dortmunder ein Turnier auf diesem Niveau noch nicht zu, also blieb für Schmelzer nur die Rolle des Beobachters. Sollte Deutschland auch bis zur WM in zwei Jahren nicht zufällig noch einen Weltklasse-Außenverteidiger aus dem Hut zaubern, darf Schmelzer wieder angreifen.

Seite 2: Das Mittelfeld und der Angriff

Das Mittelfeld

Lars Bender: Schaffte es anders als sein Bruder Sven mit in den Flieger nach Danzig. Auch, weil der Bundestrainer schon früh das Experiment mit Bender auf der rechten Außenbahn im Kopf hatte. Gegen Dänemark bekam er als gelernter Mittelfeldspieler dann tatsächlich seine Chance und nutzte sie prompt. Nicht nur wegen seines Tores hat Bender gezeigt, dass man ihn bringen und sich auf ihn verlassen kann. Obwohl die Konkurrenz im Mittelfeld schon enorm groß ist, darf sich Lars Bender auch in Zukunft Hoffnungen auf mehr machen.

Mario Götze: Er kam nicht austrainiert im Trainingslager an und fand erst spät Anschluss an die Mannschaft. Vor dem Turnier wurde er als Tipp für den Newcomer der EM gehandelt - als er dann nach drei Vorrundenspielen keine einzige Minute auf dem Platz stand, leistete er sich einen Anflug an Kritik. Die 15 Minuten Einsatzzeit gegen Griechenland waren letztlich nicht mehr als ein kleines Zugeständnis. Dabei wäre Götze mit seinen Ideen gerade gegen Italien in der Schlussphase noch eine Option gewesen, vielleicht sogar im defensiven Mittelfeld für Bastian Schweinsteiger und an der Seite von Sami Khedira. So endete das erste große Turnier für Götze doch einigermaßen ernüchternd.

Ilkay Gündogan: Rutschte gefühlt als Letzter in den 23er-Kader. Die Meisten hatten ihm nicht mal dies zugetraut. Aber Gündogan überzeugte in der Vorbereitung und hätte gegebenenfalls an Stelle von Schweinsteiger eine Option werden können, als dessen Wadenverletzung noch Rätsel aufgab. Wurde erst nach gut zwei Wochen in Danzig von einem Reporter belangt, der doch tatsächlich ein Interview mit Gündogan angefragt hatte. Lief ansonsten unter dem Radar, sammelte aber wie einige andere auch Eindrücke und Erfahrungen. Da er hauptsächlich auf die Rolle in der Mittelfeldzentrale festgelegt ist, muss er sich in Zukunft ziemlich langmachen, um im engeren Kreis zu bleiben. Das Gute: Gündogan hat auf jeden Fall die Klasse dazu.

Sami Khedira: Unterm Strich wohl der beste deutsche Feldspieler bei der EM. Von der ersten Minute an ein Eckpfeiler im Team, bei Real Madrid sichtlich gereift und noch dominanter als vor zwei Jahren, als sein Stern erst aufging. Drängte automatisch und nur durch Leistung in die bestimmende Rolle im deutschen Mittelfeld. Sein Selbstverständnis und seine Souveränität halfen der Mannschaft auch in schwierigen Momenten. Gegen Italien aber in der zweiten Halbzeit auch nicht derjenige, der voranzugehen vermochte. Trotzdem bedeutete die EM den vorläufigen Höhepunkt seiner DFB-Karriere. In der Verfassung einer der ganz wichtigen Spieler für die nächsten Jahre.

Toni Kroos: Kam zuerst nur sporadisch zum Einsatz, immer nur von der Bank aus. Dabei hatte er berechtigte Hoffnungen, für den angeschlagenen Schweinsteiger auflaufen zu dürfen. Als er sein Schicksal kommen sah, scherte er aus und bemängelte sein Reservistendasein. Gegen Italien dann wegen Löws Planungen plötzlich wie aus dem Nichts in der Startelf. Enttäuschte da in seiner Rolle zwar nicht komplett, ließ die Niederlage aber auch über sich ergehen. Mit einem Turnier, das seiner Saison bei den Bayern in etwa entsprach: für seine Möglichkeiten unterdurchschnittlich. Irgendwie möchte man Kroos immer mal wieder an seine überragenden Fähigkeiten erinnern und dass er sie doch vehementer zur Geltung bringen möge.

Thomas Müller: Auch er fand trotz guter Ansätze nie so richtig in den Wettkampf. Der Grundsatz "Müller spielt immer" wurde schon früh aufgeweicht, im wichtigsten Spiel des Turniers wurde er ein Opfer der Taktik - vermutlich wäre er aber andernfalls auch von Marco Reus aus der Mannschaft gedrängt worden. Müllers Problem war dabei natürlich auch immer seine Leistung vor zwei Jahren in Südafrika, die sofort als Referenzgröße herangezogen wurde. Ein solides Turnier des Münchners, angesichts der Tatsache, dass er in der K.o.-Runde aber zweimal nicht zur ersten Elf gehörte, auch ein Zeichen für die Zukunft. Von Müller muss und wird wieder mehr kommen.

Mesut Özil: Es sollte sein Turnier werden. Letztlich konnte Özil seine eigenen Erwartungen aber immer nur streckenweise erfüllen. Kam schwer in Tritt, weil die Gegner ihm einfach keinen Raum lassen wollten und ihm offensichtlich auch der eine oder andere geeignete Spielpartner fehlte. Trotzdem der Kreativste aller deutschen Spieler, auch wenn viele seiner guten Ideen an der Umsetzung scheiterten. Gegen Italien ein Sinnbild für die Leistung einiger anderer: Zuerst gewillt und gut, mit zunehmender Spieldauer aber immer verzagter. Für die Rolle des Anführers nicht gemacht. Trotzdem wird er auch in den nächsten Jahren die bestimmende Figur in der deutschen Offensive bleiben.

Lukas Podolski: Sein Vorhaben war so groß - seine Umsetzung dagegen ziemlich minimal. Defensiv in den ersten Spielen mehr gefordert als erwartet und es ihm lieb sein konnte. Verrichtete die Arbeit aber wenigstens nach Vorschrift. Das Tor gegen Dänemark und die Erwartung, endlich auf polnischem Boden spielen zu dürfen, ließen eine Explosion Podolskis erhoffen. Leider war dann genau das Gegenteil der Fall. Das Griechenland-Spiel verpasste er, gegen Italien ging er komplett unter. Fasst man die Voraussetzungen zusammen, wurde die Europameisterschaft in seiner zweiten Heimat zu einer einzigen großen Enttäuschung für ihn. "War stets bemüht" reicht nicht (mehr). Beim FC Arsenal muss er jetzt zeigen, dass er in einer guten Mannschaft mit viel Konkurrenzkampf bestehen kann. Im Nationaldress wird es demnächst im Prinzip genauso sein: Die Kontrahenten auf seiner Position haben auf- und ihn vielleicht auch schon überholt.

Marco Reus: Er hatte nur 135 Minuten Zeit, nutzte die aber sensationell gut. Reus zeigte, dass er auch auf internationalem Niveau mithalten kann, obwohl er noch kein einziges Europapokalspiel auf Klubebene bestritten hat. Wenn es vor dem Italien-Spiel im deutschen Kader einen Spieler gab, der so etwas wie einen Lauf hatte, dann Reus. Trotzdem durfte er im Halbfinale erst zur zweiten Halbzeit ran. Er ist einer der Gewinner, weil er gezeigt hat, dass er alles mitbringt für die Anforderungen auf höchster Ebene. Sein Wechsel zu Borussia Dortmund dürfte seiner Entwicklung schon recht bald noch einen weiteren Schub geben. Ein großer Hoffnungsträger für die Zukunft.

Andre Schürrle: Der Leverkusener zeigte ansprechende Leistungen bei der EM, ohne dabei aber ähnlich auffällig zu werden wie sein Kumpel Reus. Schürrle gegen defensive Griechen auf seine eine große Stärke beschränkt, von Außen zum Tor zu ziehen und abzuschließen. Als Einwechselspieler gegen Dänemark einen Tick gefährlicher, weil dort seine Schnelligkeit besser zum Tragen kam. Im Prinzip ist er auf die Rolle im linken offensiven Mittelfeld oder vielleicht noch als hängende Spitze beschränkt. Auf Podolski dürfte er einiges an Kredit aufgeholt haben.

Bastian Schweinsteiger: Das größte aller Rätsel. Fit? Nicht fit? Keiner wusste so genau Bescheid, auch Schweinsteiger selbst nicht, der sich wenige Tage vor dem Halbfinale körperliche Leistungsbereitschaft attestierte, ihm aber nach eigenem Bekunden auch einige wichtige Teilaspekte für sein Spiel fehlten. Die Wende schien dabei schon beim Niederlande-Spiel geschafft, als er zusammen mit Khedira das Mittelfeld beherrschte und zweimal überragend für Gomez vorbereitete. Der leichte Rückfall (gegen Dänemark) und dann schwere Rückfall (gegen Griechenland) ließ seine Leistung so nebulös erscheinen wie die der Mannschaft, die man nie so richtig einschätzen konnte - wegen der veränderten Spielweise oder der personellen Umstellungen. Für Schweinsteiger endete so eine verkorkste Saison inklusive zweier schwerer Verletzungen mit einem neuerlichen Niederschlag. Das muss er jetzt wegstecken und gleichzeitig endlich wieder richtig fit werden.

Der Angriff

Mario Gomez: Noch so einer, dessen Leistungen nur schwer einzuordnen sind. Zuerst die drei Tore, die für zwei Siege gut waren und ihm in der Gruppenphase den Vortritt vor Miroslav Klose ließen. Trotzdem wurde Gomez auch da schon nicht nur im TV kritisiert. Dabei nahm er sich die Ratschläge durchaus zu Herzen und bewegte sich besser. Gegen Italien war er beileibe nicht gut, aber auf Grund der eigenwilligen taktischen Ausrichtung auch nahezu auf verlorenem Posten vorne drin im Sturm und ohne vernünftige Anspiele der Kollegen. Gomez war voll drin in der EM und am Ende doch wieder irgendwie draußen. Offenbar bleibt dies sein Schicksal im Nationaldress.

Miroslav Klose: Er musste wie Mertesacker und Götze speziell fit gemacht werden, nachdem ihn eine Verletzung wochenlang außer Gefecht gesetzt hatte. Der Bundestrainer vertraute auch deshalb zunächst auf Gomez, im Hintergrund machte sich Klose für seinen Einsatz fit und zeigte dann gegen Griechenland, dass er da ist, wenn er gebraucht wird. Seine Nichtnominierung gegen Italien war ein Fehler, gerade im Zusammenhang mit dem Plan, Andrea Pirlo und Daniele de Rossi irgendwie einzubremsen. Immerhin will Klose, mittlerweile 34, noch bis zur WM in Brasilien weitermachen. Angesichts der fehlenden Konkurrenz auf seiner Position ein wichtiges Signal.

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