Weltklasse mit Hindernissen

Stefan RommelAndreas Lehner
20. November 201409:43
Vom Testspiel gegen Chile bis zum WM-Titel: das Jahr 2014 des DFB
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Das Länderspieljahr 2014 wird als das erfolgreichste seit Jahrzehnten in die Geschichte der Nationalmannschaft eingehen. Der WM-Triumph von Brasilien steht über allem - er kaschiert aber zum Teil auch die Probleme, mit denen sich Bundestrainer Joachim Löw und die Mannschaft herumschlagen mussten. Für eine erfolgreiche Zukunft müssen Veränderungen her. Die Meilensteine eines aufregenden Jahres.

Der Start

Es waren völlig neue Botschaften, die Joachim Löw im März an seine Belegschaft richtete. Vor dem ersten Länderspiel des Jahres gegen Chile war es dem Bundestrainer ein besonderes Anliegen, seinen Spielern ein paar deutliche Signale mit auf den Weg zu geben.

"Auf dem Papier haben wir eine Top-Mannschaft mit hoher Qualität und Top-Individualisten. Aber die Wahrheit sieht nicht so schön aus", sagte Löw damals. "Für einige ist das auch ein Appell und ein Weckruf: Die Uhr tickt! Nur wer sie hört, wird auch eine Chance haben."

Löw war klar, dass er sich vor der Weltmeisterschaft auf das unsichere Terrain der Improvisation wird begeben müssen. Also wollte er wenigstens die Dinge festzurren, die er noch einigermaßen selbst beeinflussen konnte - so gut das als Nationaltrainer, der nicht in der täglichen Arbeit mit seinen Spielern Missstände verändern kann, überhaupt möglich war.

"Die Spieler sind aufgefordert individuell zu arbeiten und ihr Training zu optimieren", sagte Löw und deutete an, dass seine Linie härter und der Selektionsprozess akkurater werden würde. "Ich stehe in engem Kontakt zu meinen Spieler. Ich werde sie intensiv beobachten, sie in Anführungszeichen überwachen."

Er hat im Frühjahr erstmals in einem Turnierjahr seine Linie verlassen. Er hat nicht einfach nur das erfolgreiche Qualifikationsjahr verlängert, so wie er es dreimal vorher gemacht hatte - er hat einen tiefen Einschnitt vorgenommen. Das war auch der überaus großen Zahl an verletzten oder formschwachen Spielern geschuldet, in erster Linie aber einem klaren Richtungswechsel in Löws Herangehensweise. SPOX

"Jetzt ist die Phase der Wahrheit und der Klarheit gekommen", sagte Löw dann noch zum Abschluss seines Monologs. Die eigenen Vorsätze ließen sich für Löw aus den unterschiedlichsten Gründen nicht immer einhalten. Der Bundestrainer musste notgedrungen immer wieder Schlupflöcher öffnen, seine Vorgaben über den Haufen werfen.

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Seite 2: Die Probleme

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Seite 5: Die Umstrukturierung

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Die Probleme

Die Wochen und Monate vor der WM waren geprägt von sehr viel Ungewissheit. Den einzigen Test gegen Chile setzte die Mannschaft trotz eines 1:0-Siegs nahezu komplett in den Sand. Die Darbietung ließ Raum für noch mehr Fragen, anstatt die ersten Antworten zu liefern.

Die Tatsache, dass sich mit den Bayern und Borussia Dortmund die zwei Mannschaften ins DFB-Pokalfinale spielten, die vermutlich die meisten Spieler für die WM stellen, sorgte auch nicht eben für mehr Planungssicherheit.

Ilkay Gündogan und Sami Khedira fehlten schon seit Monaten, Miroslav Klose (Muskelfaserriss) verpasste die letzten Wochen der Saison, Bastian Schweinsteiger (Patellasehnenreizung) verpasste das Pokalfinale, Philipp Lahm (Kapseleinriss im Sprunggelenk) und Manuel Neuer (Einriss am Kapselapparat des rechten Schultereckgelenks) verletzten sich während der Partie gegen den BVB. Das war drei Tage vor der Abreise ins Trainingslager nach Südtirol.

Am Abend vor dem Abflug dann der nächste Schock, als sich der große Hoffnungsträger Marco Reus im letzten Testspiel gegen Armenien einen Teilriss im vorderen Syndesmoseband oberhalb des linken Sprunggelenks zuzog und die WM absagen musste. Löw hatte etwas zu viel mit der "Wenn-dann-Theorie" zu tun, die ein Trainer so gerne vermeiden würde.

Abseits der Verletzungen fielen einige Nationalspieler zusätzlich aus der Rolle, was disziplinarische Maßregelungen nach sich ziehen musste. Auch Löw selbst geriet auf einmal in den Fokus, als Meldungen über den Verlust seines Führerscheins die Runde machten und die Frage nach dem fehlenden Vorbildcharakter plötzlich im Raum stand.

In Südtirol überschattete dann ein Autounfall im Rahmen einer PR-Maßnahme das Trainingslager. Die Debatten über Sinn und Unsinn solcher Aktionen während einer gezielten Vorbereitung auf ein "Turnier der Urkräfte" mussten der Trainerstab und Teammanager Oliver Bierhoff zusätzlich aushalten.

Mit sehr viel Ungewissheit im Gepäck machte sich der Tross nach Brasilien auf, die Stimmung im Land war angesichts der widrigen Umstände nicht mehr nur positiv. Löw selbst schätzte die Lage vor dem Abflug ziemlich realistisch ein. "Unsere Fans dürfen unabhängig vom Titel auch Leidenschaft, Siegeswille und Einsatz von uns erwarten", sagte er da zwar, fügte aber auch an: "Als Sportler respektieren wir immer den Gegner. Und wenn der Gegner besser sein sollte, werden wir ihm fair gratulieren."

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Das Glück

So viel in der Vorbereitung auf Brasilien auch schieflief und so groß die Sorgen auch waren - mit der Ankunft im Campo Bahia schienen sich die Probleme nach und nach förmlich in Luft aufzulösen.

Die medizinische Abteilung schaffte eine Punktlandung nach der anderen. Schweinsteiger wurde bis zum Auftaktspiel gegen Portugal ebenso wieder fit wie Khedira, Neuer und vor allen Dingen Lahm. Der hatte längst den Entschluss gefasst, nach der WM seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft zu vollziehen - und musste quasi bis zur letzten Sekunde überhaupt um seine Teilnahme an dieser zittern.

"Um ehrlich zu sein, war überhaupt nicht klar, ob ich zur WM rechtzeitig fit werde", sagte er Wochen nach der WM in einem Interview mit dem "SZ-Magazin". "Es war ja eigentlich keine große Verletzung, aber sie hat sich so angefühlt."

Lahm lief wie den anderen auch stets in Gefahr, mitten im Turnier wieder einen Rückfall zu erleiden. "Die Probleme mit dem Sprunggelenk haben sich dann auch durchs Turnier gezogen. Es wurde dann besser, aber dann gab's Tage, wo's plötzlich wieder schlimmer wurde, weil ich kaum geradeaus laufen konnte. Selbst nach den ersten beiden Trainingseinheiten in Brasilien habe ich gedacht: Wenn's so bleibt, kann ich nicht spielen."

Das Pech der Vorbereitungsphase schien aufgebraucht, bis zum Finale gegen Argentinien kamen mit Ausnahme von Khedira, der das Turnier eher durchstand als durchspielte und die letzte Partie verpasste, keine Verletzungen von wichtigen Spielern mehr dazu.

"Wir hatten in einigen Phasen auch das notwendige Glück auf unserer Seite", gab Löw nach dem Triumph von Rio zu. Vor allen Dingen aber entwickelte die Mannschaft gerade wegen der unschönen Umstände einen ganz neuen Geist. "Die Mannschaft hat in diesen Wochen einen unglaublichen Teamgeist entwickelt mit einem großartigen Können, das sie hat, und mit einer unglaublichen Willenskraft. Deswegen haben wir es auch geschafft."

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Die Leistung

Vor der Weltmeisterschaft lief wenig zusammen bei der deutschen Mannschaft und danach auch. Die Gründe dafür sind unterschiedlicher Natur. Erst waren da die vielen gesundheitlichen Probleme, danach kamen ein Umbruch und eine gewisse Zufriedenheit dazu.

Beim Highlight des Jahres aber war die Mannschaft auf den Punkt voll da und zeigte beim Turnier alle Fähigkeiten eines Champions. Deutschland war als einzige Mannschaft des Turniers in der Lage, die gesamte Palette der Anforderungen zu bedienen.

Löws Mannschaft zeigte sich flexibel, hochkonzentriert, kampf- und willensstark. Löw überraschte mit einigen ungewöhnlichen, aber effektiven taktischen Maßnahmen und konnte sich in den entscheidenden Momenten auf seine Spieler verlassen.

Thomas Müller startete einmal mehr furios ins Turnier, die Bankspieler Klose, Mario Götze oder Andre Schürrle streuten frische Impulse, die Mannschaft konnte Rückstände wegstecken und auch dieses eine schwierige Spiel überstehen, das gemeinhin immer auf dem Weg nach ganz oben lauert.

Gegen Algerien staunte die Welt über Torhüter Neuer, die Franzosen wurden mit einer soliden Defensivtaktik geschlagen, das Brasilien-Spiel wird für alle Zeit ein Highlight der deutschen Länderspielgeschichte bleiben. Und im Finale gegen einen Gegner auf Augenhöhe machte am Ende auch der unbedingte Wille dieser Generation den Unterschied zu Argentinien aus.

"Wir haben, glaube ich, in diesem Turnier die beste Leistung gezeigt über die kompletten sieben Spiele", sagte Löw. "Alle Spieler dieser Mannschaft haben alles gegeben. Ich habe von Anfang an gesagt, dass wir nicht mit elf Spielern über die Runden kommen. Sondern dass wir eine erste 14 haben, dass alle in höchster Alarmbereitschaft sein müssen."

Ungeachtet des sportlichen Erfolgs hat das Team mit seinem Auftreten und seiner Art im Gastgeberland und im Rest der Welt für Aufsehen gesorgt. "Wir repräsentieren 80 Millionen Deutsche und ein ganzes Land auf einem anderen Kontinent. Da wollten wir auch eine gewisse Sympathie ausstrahlen", sagte Löw.

Für den Bundestrainer selbst wurde das Turnier auch zu einer Befreiung. Löw stand nach dem verlorenen EM-Halbfinale gegen Italien zwei Jahre zuvor unter besonderer Beobachtung. Mit jeder Absage und jeder neuen Verletzung eines Leistungsträgers entwich aber auch für Löw etwas der Druck, die Gegebenheiten erinnerten im Vorfeld des Turniers ein wenig an die vor der WM in Südafrika, als Deutschland mit einer erneuerten Mannschaft die Welt verblüffte.

Dass am Ende nicht der bestmögliche Kader zur Verfügung stand und Löw einige grundlegende Entscheidungen somit förmlich abgenommen wurden, ersparte ihm einige leidige Personaldiskussionen und drängte manches Mal die letztlich richtige Entscheidung förmlich auf - etwa in der personellen Besetzung der Viererkette, in der Löw in Ermangelung an Alternativen für die Außenverteidigerpositionen zunächst mit vier gelernten Innenverteidigern spielen ließ und nach Shkodran Mustafis Verletzung dann doch wieder Lahm nach hinten zog.

Seit dem 13. Juli 2014 steht Löw jetzt also in einer Reihe mit Sepp Herberger, Helmut Schön und Franz Beckenbauer. Mehr kann man von einem Bundestrainer kaum erwarten.

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SPOX

Die Umstrukturierung

Keine 24 Stunden nach Mario Götzes Tor ereilte Löw das erste Rücktrittsgesuch. Sein Kapitän machte den Anfang, es folgten kurze Zeit später auch Klose und Per Mertesacker. Der Mannschaft fehlen seither drei Säulen, die teilweise für mehr als eine Dekade des deutschen Fußballs standen.

"Unglaublich viele gute Spieler kommen nach. Ich gebe den Platz frei, das schafft neue Möglichkeiten für neue Spieler. Die Nationalelf ist so gut aufgestellt, mir ist überhaupt nicht bange, wenn jetzt drei Nationalspieler zurücktreten", sagte Mertesacker. Trotzdem fehlen seitdem der ehemalige Kapitän und zwei Spieler des Mannschaftsrats.

Schweinsteiger plagen immer mehr Wehwehchen, Khediras Rolle bei Real ist derzeit ungewiss, Lukas Podolski will im Winter den FC Arsenal verlassen - auch, um im DFB-Dress nochmal einen Angriff wagen zu können auf die Jugend, die unaufhörlich drängelt.

Die Nachwehen der WM wurden in den letzten Spielen deutlich sichtbar. Alleine die letzten Tage im Rahmen der letzten beiden Spiele des Jahres standen voll im Zeichen des WM-Triumphes: Empfang beim Bundespräsidenten, die Premiere des WM-Kinofilms, Ehrungen für einzelne Spieler bei den Galaveranstaltungen des "Laureus" und beim "Bambi".

Eigentlich sollte sich so langsam eine neue Mannschaft herauskristallisieren. Im Moment dürfte jeder beim DFB aber in erster Linie froh sein, dass das Jahr vorbei ist und es erst wieder Ende März in der EM-Qualifikation weitergeht. Zuletzt war viel Drumherum und wenig Fußball. "Das ist ja alles auch schön, aber die Vergangenheit muss Vergangenheit sein", sagte Löw, mittlerweile auch ein wenig genervt.

Er selbst hatte auf der ersten Pressekonferenz nach dem Turnier die wichtigsten Schritte eingeleitet. Thomas Schneider folgt als Co-Trainer auf Hansi Flick, Schweinsteiger als Kapitän auf Lahm. "Stillstand darf es nicht geben!", hatte Löw gefordert. Bekommen hat er seitdem: Stillstand.

Nicht umsonst hat der Bundestrainer schon angedeutet, die Zügel wieder deutlich anzuziehen. Und er hat bestimmte Spieler auch in der etwas schwierigeren Phase schon ausdrücklich gelobt. Jene Spieler, mit denen er den Umbruch angehen und auf sie setzen will. Toni Kroos etwa oder Jerome Boateng. Die beiden Spieler, die im Jahr 2014 sicherlich den größten Sprung nach vorne gemacht haben und im internen Ranking neue Positionen bezogen haben.

Löw lobte Spieler wie Boateng, die "immer noch brennen, die sich mit nichts zufrieden geben, nicht einmal mit einem Weltmeistertitel." Und er lobte Kroos im Nachlauf der abschließenden Partie gegen Spanien. "Toni ist der beste Mittelfeldspieler. Er sorgt für Ordnung und Ausgeglichenheit auf dem Platz und er kann geniale Pässe spielen."

Kroos hat sich auf der zentralen Position vor der Abwehr enorm entwickelt, ist vom Ergänzungs- zum Stammspieler gereift und kann in Zukunft eine noch wichtigere Rolle im Team einnehmen.

Es war auch ein schöner Zufall, dass mit ihm eine der bestimmenden Figuren des abgelaufenen Länderspieljahres und hoffentlich der nahen Zukunft in Vigo mit seinem Treffer den Schlusspunkt setzte...

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Was kommt jetzt?

"Wir sind nach der WM auf dem harten Boden der Realität gelandet", sagte Löw. "Wir müssen dieses Kapitel jetzt auch mal beenden." Er werde sich in der Winterpause "Gedanken über die eine oder andere Veränderung machen."

Vor allen Dingen die Spielausrichtung lässt viel Raum für Spekulationen. Löw deutete bereits an, in alle Richtungen offen zu sein für Neues. Eine Formation mit zwei nominellen Angreifern sei möglich, die gegen die Spanier erneut getestete Dreier- beziehungsweise Fünferkette gehört dazu.

Die Suche nach geeigneten Außenverteidigern und Angreifern wird auch die Zeit bis zur EM 2016 in Frankreich bestimmen. Nebenbei muss die Mannschaft den Rückstand in der Qualifikationsrunde aufholen - eine ungewohnte Herausforderung, die mit dem weltmeisterlichen Personal aber zu schaffen sein muss.

Mit der Partie gegen Spanien schließt Löw das WM-Buch. Die "totale Zufriedenheit", die DFB-Präsident Wolfgang Niersbach dem Jahr 2014 überstülpt, das "Weltklasse" von Kroos, das "tolle Jahr", das Mustafi ausgemacht hat - das alles muss vergessen sein, wenn es im Frühjahr wieder in den Alltag geht.

Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen, um langfristig im internationalen Vergleich zu bestehen. Der WM-Titel hat der Mannschaft nun auch die Gewissheit verliehen, die ganz großen Ziele erreichen zu können. In Europa stellt Deutschland mit seinem Potenzial die Spitze dar. Nur muss sich das auch auf dem Platz und in den Ergebnissen widerspiegeln.

Der Sieg gegen Europameister und Weltmeister-Vorgänger Spanien sei "eine gute Vorlage für das nächste Jahr" gewesen, sagte Löw. "Wir haben nochmal gezeigt, dass mit uns zu rechnen ist", meinte Müller. 2015 wird ein Übergangsjahr mit dem Pflichtprogramm der erfolgreichen EM-Qualifikation. Begonnen hat es bereits mit dem Sieg im Testspiel von Vigo.

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