SPOX: Wie bewerten Sie das Auftreten der deutschen A-Nationalmannschaft bei der EM in Frankreich?
Ernst Tanner: Ich sehe es deutlich kritischer als viele andere. Deutschland spielt zum Beispiel einen Stil, der sehr stark auf Dominanz ausgerichtet ist. Uns fehlen jedoch die Waffen, um das auch in Tore umzumünzen. Dann muss die Frage gestellt werden, ob das zielführend ist.
SPOX: Das heißt, uns fehlt ein Sturmtank der Marke Gomez?
Tanner: Nein, überhaupt nicht. Es geht vielmehr um die Spielidee. Wenn ein Team nach einer Balleroberung nicht ins Risiko geht und zielgerichtet und schnell nach vorne spielt, wird es heutzutage extrem schwer, Tore zu schießen. Insbesondere wenn auf bestimmen Positionen schlichtweg die Geschwindigkeit fehlt. Damit meine ich sowohl die physische Schnelligkeit als auch die spieldynamische. Gegen vermeintlich schwächere Gegner haben sich die Deutschen auch noch Torchancen herausgespielt, keine Frage. Im Spiel gegen Italien und Frankreich sah das schon anders aus. Da hatten wir kaum Möglichkeiten und haben hinten recht viel zugelassen.
SPOX: Sie schlagen also vor, dass Deutschland wieder wegkommen muss vom dominanten Ballbesitz-Fußball?
Tanner: Meiner Meinung nach schon. Es ist bekannt, dass man Tore in der heutigen Zeit relativ schnell nach der Balleroberung erzielen muss. Denn eigentlich hat man gegen organisierte Teams nur wenige Sekunden Zeit, um den Ball nach vorne und durch Lücken zu spielen. Danach ist alles sofort wieder zu. Wenn man sich in Deutschland daran ergötzt, 80 Prozent Ballbesitz zu haben und ellenlange Ballstafetten zu spielen, dann verkennt man den Zahn der Zeit. Das ist zum Teil langweiliges Ballgeschiebe und eröffnet dem Gegner zudem die Möglichkeit zum Pressing.
SPOX: Der FC Barcelona spielt mit so viel Ballbesitz allerdings seit Jahren äußerst erfolgreich.
Tanner: Klar, Barca kann das auch machen. Die haben Neymar, Messi und Suarez vorne drin und spielen im Hinblick auf Spielwitz und Tempo in einer anderen Liga. Mit diesen Stars kann auch eine stabile Abwehr ausgehebelt werden. Deutschland hat aber diese Spieler nicht, deshalb muss man sich was anderes überlegen.
SPOX: Wie könnte so etwas aussehen? Vor allem gegen tiefstehende Gegner tat sich der DFB ja zuletzt äußerst schwer.
Tanner: Die destruktive Spielweise ist ja nicht neu. Chelsea hat das beispielsweise vor Jahren schon erfolgreich vorgemacht. Wer gegen tiefstehende Mannschaften erfolgreich sein will, muss sowohl gegen als auch mit dem Ball unglaublich schnell und dynamisch agieren. Im Grunde muss man so einen Gegner packen, wo es nur geht und immer wieder schnell und dynamisch von allen Seiten in den Strafraum spielen. Aber das ist mit Risiko verbunden, alles andere als einfach und muss zwingend im Training geübt werden. Die hohe Kunst ist es, die Räume dahinter geordnet zuzustellen und Konter so zu unterbinden. Es ist ein sehr intensives Spiel, für das auch eine gewisse Fitness nötig ist. Wenn die nicht vorhanden ist, kann ich es nicht spielen.
SPOX: Herrscht beim DFB denn eine zu große Zufriedenheit für solch einschneidende Veränderungen? Schließlich war Deutschland seit 2006 bei den großen Turnieren stets mindestens im Halbfinale und ist aktueller Weltmeister.
Tanner: Deutschland hat meines Erachtens auch bei der WM 2014 außer gegen Brasilien keinen berauschenden Fußball gespielt, sondern war seinen Gegnern qualitativ in vielen Bereichen und als Mannschaft insgesamt klar überlegen. Die aktuelle EM war generell auf einem äußerst schwachen Niveau. Keine einzige Mannschaft hat es geschafft, seine Dominanz auf die Anzeigetafel zu bringen oder ist durch einen besonderen Spielstil aufgefallen. Das wirft natürlich Fragen auf, die sich auch der deutsche Fußball zwingend stellen muss: Warum hat der Ballbesitz-Fußball nicht funktioniert? Was muss ich in der Zukunft ändern? Und welche Spieler habe ich überhaupt in Zukunft? Darauf müssen Antworten gefunden und Rückschlüsse gezogen werden.
SPOX: Muss auch die Frage nach Dreier- oder Viererkette geklärt werden?
Tanner: Im Nachhinein ist es immer einfach zu reden. Aber ich finde, dass die Analysen im TV und den Medien das Problem überhaupt nicht erkannt haben. Da wurde ja tagelang über diese Abwehrumstellung philosophiert. Das trifft nicht ansatzweise den Kern. Generell war das doch keine schlechte Idee. Gegen die zwei lahmen Stürmer der Italiener brauchst du ja nicht viel verteidigen, da reichen unsere drei Verteidiger sowieso. Aus der Mitte und vorne kam dann von den Deutschen halt zu wenig, obwohl Italien keine Raketen hinten drin hat.
SPOX: Wird denn nicht grundsätzlich zu viel in einzelne Systeme hineininterpretiert?
Tanner: Auf jeden Fall. Ich bin beispielsweise überhaupt kein Systemfanatiker. Ob jetzt ein Team in einem 4-3-3 oder in einem 4-1-4-1 spielt, ist völlig egal. Das sind auf dem Spielfeld ein paar Meter Unterschied. Für mich ist die zugrundeliegende Spielidee viel entscheidender. Es geht um das schnelle Umschalten, um kognitive Prozesse, Antizipation, schnelle Entscheidungsfindung und vor allem temporeiche Ausführung. Das alles muss verinnerlich werden.
SPOX: Gibt es also eine so große mediale Diskussion, weil viele durchschnittlich interessierte Fans sich an diese Zahlen klammern?
Tanner: Das ist genau das Problem. Viele verstehen nicht, was auf dem Feld passiert und können die Dinge nicht nachvollziehen. Durch die Ballorientierung weichen wir den Systemgedanken ja nahezu komplett auf. Diese Philosophie kennt keine Positionstreue und hat thematisch einen ganz anderen Ansatz. Die beiden Begriffe sind eigentlich im Grunde widersprüchlich.