Nach den wenig überzeugenden Auftritten der Nationalmannschaft wächst die Zahl der Kritiker, doch Jogi Löw scheint das nichts anzuhaben. Ist der Bundestrainer noch der richtige Mann? Das Pro und Contra der SPOX-Redaktion.
PRO LÖW: Erst die EM entscheidet über Löws Zukunft
Von Kerry Hau: Es mag sein, dass das DFB-Team seit dem WM-Debakel spielerisch kaum Fortschritte gemacht hat. Und natürlich ist immer der Trainer der Hauptverantwortliche für das, was auf dem Rasen passiert, weshalb Kritik an Joachim Löw absolut berechtigt ist.
Eine Diskussion über die Zukunft von Löw ergibt aktuell trotzdem keinen Sinn. Man hat sich vor zwei Jahren dazu entschieden, dem Bundestrainer noch eine Chance zu geben. Angesichts der Corona-Pandemie und damit einhergehenden Probleme hinsichtlich des Trainings- und Spielbetriebs lässt sich noch kein endgültiges Fazit ziehen, ob diese Entscheidung richtig oder falsch war. Das hängt einzig und allein davon ab, wie sich die Mannschaft präsentiert, wenn es wirklich darauf ankommt, nämlich bei der Europameisterschaft im kommenden Jahr.
Ein Trainerwechsel vor dem Turnier würde nur noch mehr Staub aufwirbeln. Erstens stehen vor der Vorbereitung auf die EM nur noch zwei Länderspielreisen mit vielleicht fünf, sechs Trainingseinheiten an. Zweitens ist auch kein vielversprechender Nachfolger in Sicht, mit dem sich nicht nur der Zuschauer, sondern auch die Mannschaft identifiziert.
Man darf nicht vergessen: Wichtige Stützen wie Manuel Neuer, Joshua Kimmich, Toni Kroos oder Serge Gnabry stehen noch immer hinter Löw - und werden sich von einer besseren Seite präsentieren, wenn nächstes Jahr der Ball gegen Frankreich, Portugal und Co. rollt. Deutschland war - mit Ausnahme von dem Debakel in Russland - stets eine Mannschaft, die unter echten Wettbewerbsbedingungen über sich hinauswuchs und entscheidende Prozente herauskitzelte, die letztlich auch die zwischen den großen Turnieren schon früher und oft zu Recht gelangweilte breite Masse ansteckte.
Was will der allgemeine Fan, der sich gerade wieder an Bundesliga-Fußball gewöhnt hat, denn mit all diesem auf künstlicher Spannung basierenden Nations-League-Zirkus? Löw kann man keinen Vorwurf machen, wenn er in Partien wie gegen die Türkei eine bessere U21 spielen lässt anstatt unnötige Verletzungen zu riskieren. Es ist in erster Linie der volle Terminkalender, der die spielerische Entwicklung der Mannschaft hemmt, nicht Löw.
Auch wenn es nach den jüngsten Erfahrungen zweifelsfrei an der Zeit ist, das Experiment Dreierkette Experiment sein zu lassen und wieder zur altbewährten Formation mit einer aus zwei Innen- und zwei Außenverteidigern bestehenden Viererkette zurückzukehren. Damit würde er nicht nur seiner für Offensivfußball prädestinierten Mannschaft einen Gefallen tun, sondern auch sich selbst.
CONTRA LÖW: Kein Neuanfang unter Löw
Von Martin Volkmar: Seit mehr als 16 Jahren arbeitet Joachim Löw für den DFB. Bis 2018 war das eine Erfolgsgeschichte mit dem WM-Titel Nummer 4 nach 24 Jahren Wartezeit als Höhepunkt.
Doch von da an ging es bergab mit dem Tiefpunkt des WM-Debakels 2018. Danach wuchs die Zahl seiner Kritiker, aber es gab auch genug Fans und Experten, die dem Bundestrainer mit Verweis auf die Jahre zuvor Zeit für einen Neuanfang zugestehen wollten.
Knapp zweieinhalb Jahre später ist die Zahl der Fürsprecher rapide gesunken und Löw tut gerade sehr viel dafür, auch noch die letzten Getreuen zu verlieren. Denn unterm Strich ist fast nichts besser geworden in der Nationalmannschaft, gleichzeitig aber zeigt sich der 60-Jährige kritikresistent und realitätsfremd.
Fußballerisch jedenfalls gab es seit dem Debakel in Russland nur wenige Lichtblicke wie den 3:2-Sieg in den Niederlanden, hingegen zahlreiche weitere Rückschläge. Vor allem aber geht von Löw und seiner DFB-Auswahl keine Aufbruchstimmung mehr aus wie einst vor der WM 2006, das Interesse ist auf einen Tiefstand wie zu Rumpelfußball-Zeiten gesunken.
Das liegt vor allem daran, dass die Mannschaft meist fehlerhaft, uninspiriert sowie beinahe lustlos auftritt und Siege zuletzt in unschöner Regelmäßigkeit in den Schlusssekunden noch herschenkte - selbst das 2:1 gegen die aktuell international zweitklassigen Ukrainer wurde daher zur Zitterpartie.
Sicherlich, Löw kann nichts für die Folgen der Corona-Pandemie, wegen der er auf gemeinsames Training weitgehend verzichten, Spieler schonen und andere ohne viel Erfahrung ins kalte Wasser werfen muss. Aber fragwürdige taktische Maßnahmen und nicht nachvollziehbare Personalentscheidungen machen den Bundestrainer angreifbar. Vor allem aber müsste er öffentlich dem Eindruck vehement entgegentreten, dass ihm diese Negativentwicklung egal ist.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Kritik nehme er nicht allzu ernst, sagte er dieser Tage, die fehlende Identifikation mit dem Nationalteam sei momentan "ganz normal" und ohnehin zählt für ihn offenbar nur die EM-Endrunde im nächsten Sommer. Oder mit Löws Worten: "Ich stehe über den Dingen."
Deutlicher hätte er kaum ausdrücken können, wie weit er mittlerweile der Realität entrückt ist. Tatsache ist, dass sich die Mannschaft unter ihm nicht mehr weiterentwickelt. Einsicht wäre da bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Darauf wartet man bislang aber vergeblich und wenig spricht dafür, dass sich das ändern wird.
Meistgelesene Artikel
Das könnte Dich auch interessieren
.jpg?quality=60&auto=webp&format=pjpg&width=317)


