Auf dem Kop, der nach einer verlustreichen Schlacht im Burenkrieg benannten Anfield-Tribüne, werden viele schöne Lieder gesungen. Der imposanteste Schlachtruf aber ist vergleichsweise simpel gestrickt.
"Attack, attack, attack!" schreien die Anhänger der Reds, schon seit Jahrzehnten. Und in dieser Saison hört die Mannschaft auf sie: 73 Tore hat die Elf von Brendan Rodgers in der laufenden Spielzeit geschossen, Spitzenwert in der Liga. Nicht einmal Manchester City (69, zwei Spiele weniger) ist vor dem gegnerischen Kasten so gnadenlos gut.
In der Defensive ist man zwar bestenfalls Mittelmaß - 35 Gegentreffer in 28 Partien - aber das fällt bei all der Offensivkraft nicht so stark ins Gewicht. Gerade die Anfälligkeit der Hintermannschaft macht in Verbindung mit dem irrwitzigen Tempo und hohen Qualität der Stürmer Liverpool derzeit zu der Mannschaft, die auf der Insel den aufregendsten Stil spielt.
"Bis einer tot umfällt"
Partien wie der 4-3-Sieg gegen Swansea (23. Februar), das 3:2 in Fulham (12. Februar) oder das 5:3 in Stoke (12. Januar) befriedigen die britische Sehnsucht nach "cavalier football", dem Fußball der Kavaliere. Ein Duell, bei dem die Kombattanten todesmutig so lange aufeinander schießen, bis einer tot umfällt.
Eigentlich hatte sich diese etwas naive Spielweise auf der Insel überlebt. Aber Liverpools Ansatz ist derart retro-britisch, dass er in der von ausländischen Trainern dominierten Prem fast schon wieder revolutionär erscheint. Dazu kommt, dass sich Rodgers' Team im Gegensatz zu den Konkurrenten im Spitzenfeld voll und ganz auf die Ligaspiele konzentrieren kann.
"Liverpool ist im Rennen mit dabei und sie haben den Vorteil, dass die Meisterschaft ihr einziger Wettbewerb ist", sagte Arsene Wenger, der Trainer des Tabellendritten Arsenal. Dieser Punkt ist zwar offensichtlich, aber tatsächlich nicht zu unterschätzen.
Chihuahua unter Rennpferden
In der Premier League wird wegen der hohen Spielfrequenz nur sehr spärlich und insgesamt eher schonend trainiert. Liverpool hat jedoch Zeit und Energie, in den Übungseinheiten an die Grenzen zu gehen. Die Mannschaft wirkt gerade in den Schlussphasen oft frischer als die Gegner. "Alle arbeiten bei uns sehr hart", sagt Torhüter Simon Mignolet, "wir versuchen, aus jeder kleinen Übung das Maximum herauszuholen."
Die Roten (Platz zwei) haben nur vier Punkte Rückstand auf Spitzenreiter Chelsea, wollen aber (offiziell) nichts mit der Meisterschaft zu tun haben. "Wir sind der Chihuahua, der zwischen den Beinen der (großen) Rennpferde läuft," wiegelte Rodgers ab.
Der 40-Jährige hat es in seinem zweiten Jahr auf der Bank geschafft, die Mannschaft entscheidend nach vorne zu bringen. Die Saison zuvor war ein Übergangsjahr; Rodgers extremer Ballbesitz-Fußball und die von Vorgänger Kenny Dalglish eher als robuste Kämpfertruppe zusammengestellte Elf passten nicht wirklich zusammen. Platz sieben lautete am Ende die enttäuschende Bilanz.
Neues System voller Dynamik
In dieser Spielzeit hat Rodgers sein System jedoch entscheidend verändert. Liverpool spielt als einzige Mannschaft im oberen Tabellendrittel ein sehr konsequentes 4-3-3 mit zweieinhalb echten Stürmern und einem zentralen Mittelfeld mit guter Arbeitsaufteilung.
Der Brasilianer Philippe Coutinho fungiert als Spielmacher. Jordan Henderson, den viele schon als Fehleinkauf abkanzelten, unterstützt auf der Acht die Offensive mit seiner Dynamik und weicht ohne Ball in die Halbräume zwischen Innenverteidiger und Außenverteidiger aus, um den hoch positionierten Stürmern den Rücken frei zu halten.
Und Routinier, Kapitän und Legende Steven Gerrard, 33, spielt aus dem defensiven Mittelfeld heraus lange, schnelle Bälle nach vorne und grätscht die Gegner weg. Das ist bei weitem kein perfektes Konstrukt - die individuell eher schwach besetzte Abwehr gerät oft stark unter Druck - aber in dieser Unausgeglichenheit liegt auch der Reiz dieses Teams.
Suarez: Hochform bei Liverpool statt Arsenal-Wechsel
Der vielleicht wichtigste Moment in der Entwicklung der Mannschaft kam im Sommer, als Arsenal mit dem sehr präzisen Angebot von 40000001 Pfund (umgerechnet 48 Millionen und 1,20 Euro) für Luis Suarez vorstellig wurde. Der Uruguayer wollte den Wechsel und gab dies sogar öffentlich zu Protokoll ("Liverpool hatte mir versprochen, dass ich gehen darf"), doch Besitzer John W. Henry blieb standhaft.
"Was rauchen die im Emirates?" machte er sich auf "Twitter" über die Londoner lustig. Die Gunners waren einer Fehlinformation aufgesessen und hatten geglaubt, dass es Angebot für mehr als 40 Millionen Pfund - deswegen das extra Pfund - eine Ausstiegsklausel in Suarez' Vertrag aktivieren würde.
Doch diese Klausel existierte nicht. Liverpool blieb hart, Gerrard redete dem 27-Jährigen ins Gewissen und der Rest ist aus der Sicht des Traditionsklubs eine tolle Geschichte. Suarez erzielte, nach dem er seine Sperre (Bissattacke auf Branislav Ivanovic) abgesessen hatte, in 27 Partien in allen Wettbewerben 24 Tore.
Seine Leistungen sind so gut, dass er bereits als Topkandidat für den Titel "Spieler des Jahres" gilt - trotz der rassistischen Beleidigung von Patrice Evra (Manchester United) im Oktober 2011.
Zurück zu alter Größe
Die größte Konkurrenz für diese individuelle Auszeichung könnte dem Südamerikaner aus dem eigenen Lager erwachsen. Kollege Daniel Sturridge, der nach mehr oder minder erfolglosen Jahren bei Manchester City und Chelsea schon als gescheitertes Talent galt, hat an der Seite von Suarez zu eindrucksvoller Konstanz gefunden.
18 Tore in 20 Ligaspielen sind auch im europaweiten Vergleich eine fantastische Bilanz für den 24-Jährigen. Unterstützt wird das rasend schnelle, extrem unangenehm spielende Duo von Flügelstürmer Raheem Sterling. Der 19-Jährige macht zwar nicht alles richtig, aber mit seinem Enthusiasmus und Tempo vieles wieder gut. In der Summe sind die drei in Alptraum für jede Abwehr. Direkter und öfter kommt derzeit kein Team auf der Insel vors Tor.
Mit sechs Punkten Vorsprung auf Platz fünf (Tottenham) liegt Liverpool auf Kurs für die Qualifikation der Champions League; ein enorm wichtiges Etappenziel auf dem Weg zurück zu alter Größe. Ohne die Millionen aus der Königsklasse wird Suarez nicht zu halten sein. Aber wer sagt, dass es in dieser wundersamen Saison nicht noch zum ganz großen Triumph kommt?
"Andere Mannschaften sind besser, wir können nur unser Bestes geben und von Spiel zu Spiel schauen", sagt Rodgers. Mit dieser Masche sind zuletzt auch andere Überraschungsmeister sehr gut gefahren.
FC Liverpool: News und Informationen
Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 1993 in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 37-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.