Von Hornissen, Taktikern und Unverstandenen

Nino Duit
05. Januar 201715:28
Sanchez, Kane, Ibrahimovic, Costa, Firmino und de Bruyne sind mit die prägendsten Spieler dieser PL-Saisongetty
Werbung

Die Spitze der Premier League ist breit wie selten zuvor, sechs Vereine dürfen sich nach 20 Spieltagen noch Hoffnungen auf den Titelgewinn machen. Da wären das Real Madrid seiner Zeit, der Super6-Lotto-Verein, der unverstandene Suchende, die teamgewordene Eingespieltheit, der Haufen wilder Hornissen und die blaue Taktik-Maschine. Getrennt sind die Bewerber nicht nur durch ihre Farben, sondern auch ihre Philosophien und Probleme.

All die Experten und die, die denken, solche zu sein, und eigentlich alle anderen auch ahnten es natürlich schon vor der Saison. Sie sahen sich nach dem 1:4 beim FC Liverpool bestätigt, sie sahen sich nach dem 1:4 bei Manchester United erneut und noch viel mehr bestätigt und wussten es schließlich nach dem 0:3 beim FC Chelsea so gut wie sicher: Ein Märchen wird nur einmal geschrieben und dann halt immer und immer wieder und wieder erzählt und von Mal zu Mal heldenhafter. Wiederholt wird es aber nicht. Leicester, das war einmal aber wird nicht zweimal sein.

Im vergangenen Winter, nach dem 20. Spieltag, waren einst 40 von 81 Kapiteln des Märchens namens "Leicester" geschrieben. Oder Punkte, wie man sagen würde, wenn es sich um gewöhnlichen Fußball handeln würde. Mit dieser Ausbeute wären die märchenhaften Foxes in dieser Saison nach dem 20. Spieltag lediglich einen Punkt vor Platz sechs.

Und Platz sechs, das ist die eine Seite der großen Schlucht, die nicht zu überbrücken ist. Es gibt ein Drunter und es gibt ein Drüber. Sechs Vereine, die großen Sechs, kämpfen um das Thronerbe von Leicester City. Der Sieger dieses Kampfes wird kein Märchen geschrieben haben, aber er wird als Sieger der wohl umkämpftesten und in der Spitze ausgeglichensten Premier-League-Saison aller Zeiten in die Geschichte eingehen.

Die Bewerber kommen aus London, Manchester und Liverpool. Vereint sind sie im Kampf um den Titel, getrennt nicht nur durch ihre Farben, sondern auch Philosophien und Probleme.

Erlebe die Premier League Live und auf Abruf auf DAZN. Hol Dir jetzt Deinen Gratismonat

Das Real Madrid seiner Zeit

Da wäre Manchester United (Platz 6, 39 Punkte), der Verein, der einst David Beckham an Real Madrid - den großen Glamour-Klub dieser Zeit - verlor. Heute würde ein fußballspielender Popstar wie Beckham wohl zu United wechseln, würde er nicht ohnehin aus der Jugendabteilung dieses Vereins kommen.

Rund 185 Millionen Euro gab United im Sommer aus und wäre Zlatan Ibrahimovic nicht ablösefrei zu haben gewesen, wohl noch beträchtlich mehr. Glamour United: Angeleitet vom größten Trainer-Selbstdarsteller der Welt Jose Mourinho sind Ibrahimovic und sein Teamkollege mit dem Titel "teuerster Spieler aller Zeiten" Paul Pogba wohl mit die größten Egos, die es in der aktuellen Welt des Fußballs überhaupt gibt. Selbstdarsteller zwar, aber solche, deren Leistungen das Selbstdarstellen zumeist rechtfertigen.

United spielt einen Heldenfußball, es lebt von den magischen Momenten und Geistesblitzen der großen Zauberer. Meist Ibrahimovic und Pogba, neuerdings auch manchmal Henrikh M. Flkhitaryan. So spektakulär United aber oft trifft, so unausgewogen ist der Kader. Läuft es bei den Stars nicht, läuft es bei United nicht.

Der Super6-Lotto-Verein

Da wäre der FC Arsenal (Platz 5, 41 Punkte), der große Lokalrivale der Tottenham Hotspur und der Klub, der sich besonders gerne am Versagen der Spurs erheitert. Einmal jährlich, dann, wenn Arsenal von Tottenham nicht mehr einzuholen ist, wird der "St. Totteringham's Day" gefeiert. Das letzte Mal, als er ausgefallen ist, war 1996.

Für Arsenal ist es gewissermaßen der Trostpreis dafür, dass es seit langem keine großen Titel zu feiern gibt. Die Endplatzierungen der Gunners seit dem Meistertitel 2004 lesen sich wie zwei recht einfallslose Super6-Lottoscheine hintereinander. 2, 4, 4, 3, 4,3 und 4, 3, 4, 4, 3, 2. Tabellarisch gesehen schon sehr gut, aber eben nicht gut genug.

Die aktuelle, vielleicht letzte Saison von Manager Arsene Wenger ist passenderweise eine Kurzzusammenfassung davon. Seit dem 5. Spieltag befindet sich Arsenal in den Top-Vier, Tabellenführer war es aber noch nie. Tabellenführer sind die Gunners dafür in der Scorerliste: 13 Treffer, acht Assists, Alexis Sanchez ist hier absolute Spitze und da er das auch mit seinem Verein sein will, kokettiert er mit einem Abschied. SPOX

Der unverstandene Suchende

Da wäre Manchester City (Platz 4, 42 Punkte). Als Titelfavorit und mit einem tollen Saisonstart legten die Skyblues los, um mittlerweile vielleicht trotzdem die größte Enttäuschung der Saison zu sein. Heilsbringer Pep Guardiola hat den durchschnittlich teuersten Kader der Liga, aber es ist nicht sein Kader.

Guardiola ist ein Suchender. Gefunden hat er die Lösung auf die Frage, wie sich die Stärken seiner Spieler mit denen seiner Philosophie vermengen lassen, noch nicht. Kein Trainer änderte seine Startelf bisher öfter als Guardiola. "Ich weiß es nicht", sagt Guardiola, wenn er gefragt wird, wann sein Team seine Philosophie verinnerlicht haben wird.

Nicht zu seiner Philosophie zählen jedenfalls Tackles, wie Guardiola jüngst kundtat. Er sei einfach kein Trainer für diese Grobheiten, sagte er sinngemäß (trotz bereits vier Platzverweisen seiner Spieler in dieser Saison), und das ließ die bereits skeptische britische Fußball-Öffentlichkeit noch skeptischer werden. "Guardiola glaubt, er könne den Mount Everest im T-Shirt besteigen", schrieb die Times. Mittlerweile wird der unverstandene Katalane gemerkt haben: Es ist durchaus schwierig, die Premier-League-Spitze mit maßgeschneidertem Anzug und Ballbesitz-Fußball zu erklimmen.

Die teamgewordene Eingespieltheit

Da wären die Tottenham Hotspur (Platz 3, 42 Punkte). "The game is about glory", ruft es einem an der White Hart Lane von einer Tribünen-Balustrade entgegen, aber eigentlich geht es bei den Spurs derzeit nicht um Ruhm, sondern um Eingespieltheit. Tottenham ist das philosophische Gegenstück zu Manchester United. Oder auch: Das Manchester United vergangener Tage.

Viele aktuelle Schlüsselspieler wurden von den Spurs selbst ausgebildet oder entscheidend und über lange Zeit geformt. Viele stehen schon seit zwei Jahren unter Vertrag, die meisten sogar länger. Das fällt auf, wenn sie zusammen spielen und es fällt auch auf, dass ihnen das Zusammenspielen Spaß macht.

Das Motiv des glücklich grinsenden Trainers Mauricio Pochettino mit seiner linken Hand auf einem Schreibtisch und seiner rechten auf der Schulter eines neben ihm sitzenden Leistungsträgers, einen Kugelschreiber in seiner Hand und ein unterschriebenes Vertragswerk vor ihm, ist bei den Spurs mittlerweile das, was bei Paul Pogba ein Foto in extravaganter Kleidung ist. Taucht alle paar Wochen in den sozialen Medien auf.

Hugo Lloris, Christian Eriksen, Eric Dier, Harry Kane, Dele Alli - sie alle haben vor kurzem langfristig verlängert. Langfristig werden sie also wohl auch gemeinsam ihren begeisternden Fußball, den ihnen der herrlich unaufgeregte Pochettino beibrachte und beibringt, spielen. Bis zu einer möglichen Krönung dieser Generation wird es aber noch dauern - für Highlights wie die beiden 2:0-Siege gegen Manchester City und jüngst gegen Chelsea sind sie aber auch jetzt schon zu haben.

Der Haufen wilder Hornissen

Da wäre der FC Liverpool (Platz 2, 44 Punkte) mit seinem Trainer Jürgen Klopp, der in England so verstanden ist, wie Guardiola unverstanden. "Wir müssen von Zweiflern zu Glaubenden werden", sagte Klopp bei seiner Ankunft im Oktober 2015 und hat dieses Unterfangen mittlerweile realisiert. Das Umfeld in Liverpool ist emotionalisiert und siegessicher wie lange nicht mehr.

Klopp lässt seine Spieler wie wilde Hornissen über den Platz schwirren. Werden sie mal aufgescheucht, sind sie meist nicht mehr einzufangen. Das Tempo Sadio Manes, die Kreativität Roberto Firminos und Philippe Coutinhos sowie die raumgreifende Übersicht Adam Lallanas und die aggressive Arbeit aller Spieler gegen den Ball - all das sucht in der Liga seinesgleichen. Manchmal, geht es gegen vermeintlich einfache Opfer wie Bournemouth oder Burnley, vergessen die roten Hornissen aber noch entscheidend zuzustechen.

Dass sie überhaupt so ausdauernd schwirren können, liegt auch daran, dass sie unter den Wochen nicht nach Europa fliegen müssen, sondern sich ganz auf die heimischen Rasenfelder konzentrieren können.

Die blaue Taktik-Maschine

Da wäre der FC Chelsea (Platz 1, 49 Punkte), der ebenfalls von den fehlenden Flügen über den Ärmelkanal profitiert. Am meisten profitieren die Blues aber vom taktischen Geistesblitz ihres Trainers Antonio Conte, der ihm irgendwann Ende September kam: Dreierkette! Genial!

"Die Umstellung ließ uns die Offensivkraft nicht verlieren und verschaffte uns gleichzeitig mehr defensive Stabilität", sagte Verteidiger David Luiz dazu. In anderen Worten: Eine Win-Win-Situation. Conte kreierte ein taktisches System, das perfekt auf seine Spieler abgestimmt ist.

Die besungenen Helden sind der ewig schuftende, foulende, provozierende und treffende Torjäger Diego Costa und der von Conte wiederbelebte Eden Hazard, den der italienische Trainer "meinen Referenzpunkt" nennt. Mindestens so wichtig - aber nicht annähernd so besungen - sind die beiden Spieler, die sich um die für dieses System so neuralgischen und laufintensiven Berufsposten auf den Außenbahnen kümmern: Victor Moses und Marcos Alonso.

Fünf Punkte beträgt nach 20 Spieltagen Chelseas Vorsprung auf den ersten Verfolger Liverpool, 28 auf den Klub, der noch auf dem Thron thront: Leicester City. Am kommenden Spieltag treffen die Blues zum zweiten Mal in dieser Saison auf die Foxes. Es wird wohl die Zusammenkunft des märchenhaften Meisters der Vergangenheit mit dem Meister der Zukunft.

Alles zur Premier League