All die Experten und die, die denken, solche zu sein, und eigentlich alle anderen auch ahnten es natürlich schon vor der Saison. Sie sahen sich nach dem 1:4 beim FC Liverpool bestätigt, sie sahen sich nach dem 1:4 bei Manchester United erneut und noch viel mehr bestätigt und wussten es schließlich nach dem 0:3 beim FC Chelsea so gut wie sicher: Ein Märchen wird nur einmal geschrieben und dann halt immer und immer wieder und wieder erzählt und von Mal zu Mal heldenhafter. Wiederholt wird es aber nicht. Leicester, das war einmal aber wird nicht zweimal sein.
Im vergangenen Winter, nach dem 20. Spieltag, waren einst 40 von 81 Kapiteln des Märchens namens "Leicester" geschrieben. Oder Punkte, wie man sagen würde, wenn es sich um gewöhnlichen Fußball handeln würde. Mit dieser Ausbeute wären die märchenhaften Foxes in dieser Saison nach dem 20. Spieltag lediglich einen Punkt vor Platz sechs.
Und Platz sechs, das ist die eine Seite der großen Schlucht, die nicht zu überbrücken ist. Es gibt ein Drunter und es gibt ein Drüber. Sechs Vereine, die großen Sechs, kämpfen um das Thronerbe von Leicester City. Der Sieger dieses Kampfes wird kein Märchen geschrieben haben, aber er wird als Sieger der wohl umkämpftesten und in der Spitze ausgeglichensten Premier-League-Saison aller Zeiten in die Geschichte eingehen.
Die Bewerber kommen aus London, Manchester und Liverpool. Vereint sind sie im Kampf um den Titel, getrennt nicht nur durch ihre Farben, sondern auch Philosophien und Probleme.
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Das Real Madrid seiner Zeit
Da wäre Manchester United (Platz 6, 39 Punkte), der Verein, der einst David Beckham an Real Madrid - den großen Glamour-Klub dieser Zeit - verlor. Heute würde ein fußballspielender Popstar wie Beckham wohl zu United wechseln, würde er nicht ohnehin aus der Jugendabteilung dieses Vereins kommen.
Rund 185 Millionen Euro gab United im Sommer aus und wäre Zlatan Ibrahimovic nicht ablösefrei zu haben gewesen, wohl noch beträchtlich mehr. Glamour United: Angeleitet vom größten Trainer-Selbstdarsteller der Welt Jose Mourinho sind Ibrahimovic und sein Teamkollege mit dem Titel "teuerster Spieler aller Zeiten" Paul Pogba wohl mit die größten Egos, die es in der aktuellen Welt des Fußballs überhaupt gibt. Selbstdarsteller zwar, aber solche, deren Leistungen das Selbstdarstellen zumeist rechtfertigen.
United spielt einen Heldenfußball, es lebt von den magischen Momenten und Geistesblitzen der großen Zauberer. Meist Ibrahimovic und Pogba, neuerdings auch manchmal Henrikh M. Flkhitaryan. So spektakulär United aber oft trifft, so unausgewogen ist der Kader. Läuft es bei den Stars nicht, läuft es bei United nicht.
Der Super6-Lotto-Verein
Da wäre der FC Arsenal (Platz 5, 41 Punkte), der große Lokalrivale der Tottenham Hotspur und der Klub, der sich besonders gerne am Versagen der Spurs erheitert. Einmal jährlich, dann, wenn Arsenal von Tottenham nicht mehr einzuholen ist, wird der "St. Totteringham's Day" gefeiert. Das letzte Mal, als er ausgefallen ist, war 1996.
Für Arsenal ist es gewissermaßen der Trostpreis dafür, dass es seit langem keine großen Titel zu feiern gibt. Die Endplatzierungen der Gunners seit dem Meistertitel 2004 lesen sich wie zwei recht einfallslose Super6-Lottoscheine hintereinander. 2, 4, 4, 3, 4,3 und 4, 3, 4, 4, 3, 2. Tabellarisch gesehen schon sehr gut, aber eben nicht gut genug.
Die aktuelle, vielleicht letzte Saison von Manager Arsene Wenger ist passenderweise eine Kurzzusammenfassung davon. Seit dem 5. Spieltag befindet sich Arsenal in den Top-Vier, Tabellenführer war es aber noch nie. Tabellenführer sind die Gunners dafür in der Scorerliste: 13 Treffer, acht Assists, Alexis Sanchez ist hier absolute Spitze und da er das auch mit seinem Verein sein will, kokettiert er mit einem Abschied.
Der unverstandene Suchende
Da wäre Manchester City (Platz 4, 42 Punkte). Als Titelfavorit und mit einem tollen Saisonstart legten die Skyblues los, um mittlerweile vielleicht trotzdem die größte Enttäuschung der Saison zu sein. Heilsbringer Pep Guardiola hat den durchschnittlich teuersten Kader der Liga, aber es ist nicht sein Kader.
Guardiola ist ein Suchender. Gefunden hat er die Lösung auf die Frage, wie sich die Stärken seiner Spieler mit denen seiner Philosophie vermengen lassen, noch nicht. Kein Trainer änderte seine Startelf bisher öfter als Guardiola. "Ich weiß es nicht", sagt Guardiola, wenn er gefragt wird, wann sein Team seine Philosophie verinnerlicht haben wird.
Nicht zu seiner Philosophie zählen jedenfalls Tackles, wie Guardiola jüngst kundtat. Er sei einfach kein Trainer für diese Grobheiten, sagte er sinngemäß (trotz bereits vier Platzverweisen seiner Spieler in dieser Saison), und das ließ die bereits skeptische britische Fußball-Öffentlichkeit noch skeptischer werden. "Guardiola glaubt, er könne den Mount Everest im T-Shirt besteigen", schrieb die Times. Mittlerweile wird der unverstandene Katalane gemerkt haben: Es ist durchaus schwierig, die Premier-League-Spitze mit maßgeschneidertem Anzug und Ballbesitz-Fußball zu erklimmen.