"Home of firsts" wird das Stadion Goodison Park des FC Everton von seinen treuen Fans ehrfürchtig genannt und das nicht ohne Grund: Rechtfertigungen für diesen Titel gibt es nämlich etliche, auf der vereinseigenen Homepage sind immerhin 28 vermerkt. Die Toffees waren demnach beispielsweise der erste Klub, der nummerierte Trikots verwendete, 5.000 Liga-Punkte sammelte sowie der erste mit eigenem Social-Media-Auftritt. Ihr Stadion war das erste mit drei Rängen und auch das erste, in dem ein WM-Halbfinale auf britischem Boden ausgetragen wurde. Historische Errungenschaften.
Everton gilt also als einer der traditionsreichsten Vereine des Landes mit der größten Fußball-Tradition der Welt. Darüber wissen auch die aktuellen Angestellten bestens Bescheid. "Everton ist ein Klub mit großer Geschichte", sagte etwa Romelu Lukaku (23) kürzlich mit einigem Recht über seinen Arbeitgeber (139) und dessen Spielstätte (124). Wie er das finden soll, weiß er jedoch selbst nicht so genau. Da Lukaku an nicht einmal zwei Prozent dieser Geschichte aktiv mitgewirkt hat, ist er nur Einer von Vielen.
"Es wird immer über die Teams der 70er und 80er Jahre gesprochen, aber wir Spieler wollen, dass die Fans über uns sprechen und nicht über die Vergangenheit", sagte Lukaku: "Statt in der Vergangenheit zu leben, sollte man nach vorne schauen und sich darüber Gedanken machen, wie dieser Klub wachsen kann, wo er sich verbessern kann und welche Spieler kommen sollten, damit er um die großen Trophäen kämpfen kann."
Nicht ganz so treffsicher wie Dixie Dean
Mit diesen Aussagen sprach Lukaku einerseits die Fans seines Klubs an, die bei jedem Heimspiel eben nicht nur ihm und seinen aktuellen Kollegen innerhalb des Goodison Parks huldigen, sondern etwa immer auch einer Statue vor dem Stadion. Dort steht in Bronze gegossen Dixie Dean. Er hatte in den 20er Jahren mal 60 Treffer in einer Saison erzielt und insgesamt über 380 für seinen Klub.
Lukaku sprach aber natürlich auch seinen Trainer und die Vereinsführung an: Holt mir bessere Mitspieler! Er selbst trifft zwar nicht ganz so regelmäßig wie einst Dean, aber immerhin am regelmäßigsten aller aktueller Spieler der Premier League. Mit 21 Treffern führt Lukaku die Torschützenliste an und sagt: "Man will nicht nur für Treffer in Erinnerung bleiben, sondern auch für Titel."
Solche gab es bei Everton in einer gewissen Regelmäßigkeit zuletzt in den Jahren vor der Einführung der Premier League 1992 zu bejubeln. Damals zählte Everton zu den führenden Klubs des Landes, holte zwei Meistertitel, einen FA-Cup und einmal den Europapokal der Pokalsieger. Seitdem rutschten die Toffees in der nationalen Bedeutungs-Skala fortlaufend ab, belegen aktuell den siebten Platz der Tabelle und befinden sich dort am Scheideweg.
Zu groß für Evertons Gegenwart
Und niemand verkörpert diesen Scheideweg besser als dieser 23-jährige Stürmer aus Belgien, der die Frage, ob er denn eines Tages einer der weltbesten Stürmer sein wird, mit "definitely" beantwortet, um hinterherzuschieben: "Aber um das zu werden, braucht man die nötige Plattform, um sich zu zeigen." Diese Plattform erstreckt sich von Porto bis Moskau und trägt den Namen Champions League. Sechs Vereine kämpfen im England der vergangenen Jahre aktiv darum, diese Plattform zu erklimmen. Everton arbeitet daran, in den Kampf um den Aufstieg auf diese Plattform mitzukämpfen - in dieser Saison wohl noch vergeblich.
Wie erfolgsversprechend dieser Kampf künftig sein wird, hängt elementar mit der persönlichen Zukunft Lukakus und auch der seines Trainers Ronald Koeman zusammen. Beide zählen zu den wichtigsten Zutaten einer erfolgreichen Zukunft Evertons, beide sind gleichzeitig aber auch auf dem besten Weg, zu groß für Evertons Gegenwart zu werden.
Im vergangenen Sommer übernahm Koeman den Trainerposten und bewirkte in den ersten Monaten seiner Amtszeit gleichzeitig eine attraktivere Spielweise und eine bessere Punkteausbeute. Daraus resultierte aber auch angebliches Interesse an seinen Diensten von größeren Arbeitgebern, dem FC Barcelona und dem niederländischen Verband etwa. Er möchte aber weiterhin am "Projekt Everton" mitarbeiten, bekundete Koeman: "Wenn Everton kein Klub mit großen Ambitionen wäre, wäre ich nicht mehr hier."
Unzuverlässige 99,9 Prozent
Lange Zeit führte Everton diese großen Ambitionen aber einzig und alleine auf seine große Vergangenheit zurück. Seit etwa einem Jahr jedoch auch auf die großen finanziellen Ressourcen seines neuen Mit-Besitzers Farhad Moshiri. Der Iraner investierte in dieser Saison knapp 85 Millionen Euro in neue Spieler (der bisherige Vereinsrekord lag bei 50) und tätigte mit den Verpflichtungen von Yannick Bolasie und Morgan Schneiderlin zwei der drei teuersten Transfers der Vereinsgeschichte.
"Wir haben keine finanziellen Einschränkungen", tönte Moshiri kürzlich, "der Trainer kauft die Spieler, die er für nötig erachtet. Er tut was er will und ich unterstütze ihn dabei." Derzeit wollen Koeman, die Fans und alle anderen mit dem Verein emotional verbundenen Personen aber keine neuen Spieler, sondern vor allem eines: Dass Lukaku trotz seines 2019 auslaufenden Vertrages langfristig im Klub bleibt.
Genau ein Merseyside-Derby gegen den FC Liverpool ist es her, dass dieser Wunsch kurz vor der Erfüllung stand: Fünf Jahre Laufzeit, 115.000 Euro pro Woche, alles ausverhandelt. "Ich sehe keine Probleme mehr, der Vertrag muss nur mehr unterschrieben werden", sagte Präsident Bill Kenwright damals, Mitte Dezember. "Wir haben uns zu 99,9 Prozent geeinigt", analysierte Lukakus Berater Mino Raiola. Einige Tage vor dem nun anstehenden Rückspiel gegen den Lokalrivalen äußerte sich der Stürmer selbst und sagte, dass er seinen Vertrag nicht verlängern wolle.
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Die Spuren der Spurs
Mit seinen 23 Jahren will Lukaku Erfolge, Titel und Ruhm. Jetzt. Ungeduld und Angst um die krönenden Karriere-Elemente treiben Lukaku um, während sein Klub mit seinen 139 Jahren auch noch ein bisschen warten kann. "Die Entwicklung braucht Zeit", sagt Koeman. Zeit, die sich ein Ligarivale, der als Vorbild dient, nahm. Koeman fragt: "Wie lange hat Tottenham gebraucht, um dort hinzukommen, wo sie mittlerweile sind?" Und beantwortet die Frage sicherheitshalber gleich selbst: "Drei oder vier Jahre."
Die Spurs befanden sich davor in einer ähnlichen Situation wie Everton jetzt. Große Historie, erfolgreicherer Lokalrivale, eher triste Gegenwart. Mittlerweile hat Tottenham aber die große Plattform Champions League erklommen. Ausländische Stars wie Gareth Bale oder Luka Modric wurden auf dem Weg dorthin gewinnbringend veräußert, statt sie gegen ihren Willen zu halten, während sich junge, einheimische Spieler wie Danny Rose, Kyle Walker, Dele Alli, Eric Dier oder Harry Kane entwickeln konnten.
Koeman will mit Everton den Spuren der Spurs folgen und einen ähnlichen Weg einschlagen, unterstützt wird er dabei von Sportdirektor Steve Walsh. Der 52-Jährige wechselte im Sommer von Leicester City zu Everton. Er war es, der unter anderem Jamie Vardy, Riyad Mahrez und N'Golo Kante in der Versenkung fand und zu englischen Meistern machte. Walsh kennt nicht nur die Premier League, sondern auch das, was sich darunter verbirgt.
Zu Everton holte Walsh bisher etwa die zuvor allseits unbekannten Offensivspieler Ademola Lookman (19, von Charlton Athletic) und Dominic Calvert-Lewin (20, von Sheffield United). Beide sind hochtalentiert und werden derzeit von Koeman behutsam an die erste Mannschaft herangeführt.
Geerbte Mähne und Arbeitgeber
Bereits fester Bestandteil dieser ist seit Anfang des Jahres der 18-jährige Mittelfeldspieler Tom Davies. "Es gibt junge Spieler, die sehr gut trainieren, aber dann im Spiel eingeschüchtert sind", sagt Außenverteidiger Leighton Baines, "Tom ist das exakte Gegenteil." 15 Spiele, ein Treffer, drei Assists und viele Sympathiepunkte lautet Davies' bisherige Bilanz. "Er ist ein liebes Kind, ein großartiger Spieler", sagt Baines, "und er ist Everton."
Seit Davies zehn Jahre alt ist, spielt er für die Toffees; seit seiner Geburt ist er der Neffe von Alan Whittle. Geerbt hat er von ihm nicht nur die wallend-blonde Mähne, sondern auch den Arbeitgeber. Whittle spielte einst für Everton, 1970 gewann der Offensivspieler mit den Toffees gar die Meisterschaft. Um den Goodison Park erzählt man sich immer noch gerne von diesen Zeiten - zum Ärger von Stürmer Lukaku, zur Freude nostalgischer Fans und auch zur Freude von Davies. Er war Überlieferungen zufolge schon als Kind stets beeindruckt, wenn ihm sein Onkel stolz seine Meister-Medaille des Everton der Vergangenheit vorführte.
Sollte aber Davies mit dem Everton der Gegenwart Erfolge feiern, würde man sich beim Everton der Zukunft wohl nicht mehr in den Gassen um den Goodison Park von diesen Heldentaten erzählen, sondern am Ufer der Mersey. Für 350 Millionen Euro soll dort eine neue Arena mit rund 50.000 Plätzen entstehen. Ein uriger Traditionsverein bricht mit großer Erblast auf in die Moderne.
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