Rätselfrage, 100 Punkte: Wer ist die mächtigste Frau im englischen Fernsehen? Karren Brady wäre eine gute Antwort. Die 42-Jährige ist Vize-Vorsitzende von West Ham United und leitete davor die Geschäfte des FC Birmingham. Sie ist die einzige weibliche Entscheidungsträgerin in der Premier League - zumindest auf dem Papier. Denn in der Praxis hat ihr in den letzten Monaten eine Dame den Rang abgelaufen, die bisher kaum jemand auf der Insel kennt: Marina Granovskaia, die persönliche Sekretärin von Roman Abramowitsch.
Granovskaia hatte als Sprachrohr des schweigsamen Milliardärs hinter den Kulissen schon länger großen Einfluss, doch seit Anfang des Jahres übt sie insgeheim jene Funktionen aus, die normalerweise in den Zuständigkeitsbereich eines Sport-Direktors fallen. Granovskaia war im Auftrag ihres Chefs direkt in die Transfers von David Luiz (Benfica) und Fernando Torres (Liverpool) involviert und führt bereits Gespräche mit potenziellen Neuzugängen wie Romelu Lukaku (17, Anderlecht) und Racing-Genk-Stürmer Kevin De Bruyne, 19.
Arnesen schon seit Monaten kalt gestellt
Chelsea dementiert zwar offiziell ("Marina Granovskaia bekleidet ein wichtiges Amt im Büro von Roman Abramowitsch und vermittelt manchmal zwischen dem Vorstand und dem Eigentümer. Aber es ist unwahr, dass sie die Rolle des 'director of football' ausübt."), doch in der Branche weiß jeder, über wen Abramowitsch seine Geschäfte abwickelt. Der zukünftige HSV-Chef Frank Arnesen ist an der Fulham Road schon seit Monaten kalt gestellt.
Für Chelsea-Fans ist Granovskaias inoffizielle Beförderung zunächst mal eine gute Nachricht. Denn sie signalisiert, dass der Russe sich nach mehreren Monaten Auszeit, als er sich kaum an der Stamford Bridge blicken ließ, wieder brennend für sein Spielzeug interessiert. "Roman legt persönlich Hand an, das hat es schon seit Jahren nicht gegeben", sagt der Chelsea-Insider Duncan Castles von der "Sunday Times".
Die neu erwachte Lust am Fußball führte dazu, dass die Blauen nach einem zweijährigen Sparkurs Ende Januar plötzlich 89 Millionen Euro für Luiz und Torres ausgaben - und dass, obwohl der Doppel-Deal die Erfüllung der demnächst in Kraft tretenden "Financial Fairplay"-Regeln der UEFA fast unmöglich macht. Chelsea hat die vergangene Saison trotz Gewinn des Doubles und großer Zurückhaltung auf dem Transfermarkt mit einem Minus von 81 Millionen Euro abgeschlossen.
Das Torres-Problem
Soviel Leidenschaft hat aber auch ihre negativen Seiten, besonders für den Coach Carlo Ancelotti. In der Vorsaison durfte der Italiener bis auf eine brenzlige Phase nach dem Champions-League-Aus gegen Inter in Ruhe arbeiten. Doch schon im November drehte sich der Wind. Abramowitsch feuerte Assistenztrainer Ray Wilkins wegen persönlichem Fehlverhalten, Ancelotti wurde nicht gefragt.
Der 51-Jährige konnte zwar im Trainingsbetrieb gut auf den Hütchenaufsteller verzichten, aber der Ex-Profi Wilkins war mit seiner derben Art besonders bei den englischen Spielern sehr beliebt und sorgte stets für gute Stimmung. Dass sich Ancelotti nicht gegen den Zwangsabschied von Wilkins wehrte, kam bei dem einen oder anderen Kicker nicht gut an.
Dann kam das Problem Torres. Einen 59-Millionen-Euro-Stürmer, der nicht trifft, konnte Chelsea verkraften, aber keinen 59-Millionen-Euro-Stürmer, der nicht trifft und immer spielen muss - und dazu System und Kabinen-Befindlichkeiten durcheinander wirbelt. Es gab vielleicht keine direkte Anweisung von oben, den 27-Jährigen gegen ManUtd einzusetzen, doch Ancelotti wusste nach acht Jahren unter Silvio Berlusconi, was er zu tun hatte.
Torres blieb im Hinspiel auf dem Platz, obwohl Kollege Didier Drogba besser war und er startete im Rückspiel, obwohl Drogba die bessere Variante gewesen wäre. "Es war vielleicht ein Fehler", sagte Ancelotti im "Old Trafford"-Presseraum achselzuckend. Man sah in seinem Gesicht: er hatte keine andere Wahl. "Sie mussten Torres bringen, er war ja so teuer", sagte Alex Ferguson beinahe mitfühlend.
Chelseas medizinische Abteilung in der Kritik
Für Abramowitschs Irrtum wird Ancelotti büßen müssen. Der Abschied des 51-Jährigen gilt laut Medienberichten als beschlossene Sache, obwohl es gar keinen offensichtlichen Nachfolgekandidaten gibt. Guus Hiddink steht, wenn überhaupt, nur als Sport-Direktor zur Verfügung, Jose Mourinho gar nicht. Der von Abramowitsch persönlich umworbene Pep Guardiala hat ebenfalls abgelehnt. Ancelotti zu feuern wird also leichter, als guten Ersatz zu finden. Als äußerst umgänglicher, diplomatischer Fachmann ist er prädestiniert für das Chelsea-Amt. Falls Chelsea den zweiten Platz schafft, könnte ihn Abramowitsch vielleicht noch ein weiteres Jahr gewähren lassen.
Das gilt aber nicht für den derzeitigen Kader. Chelsea wurde schon vor drei Jahren von Ferguson als leicht überaltert abgeschrieben, doch so unfrisch wie in dieser Saison sahen die Blauen tatsächlich noch nie aus. Ausfälle und fehlende Neueinkäufe (vor dem Winter) waren zwei Gründe dafür, Chelseas medizinische Abteilung glänzte - allerdings auch nicht mit zuviel Kompetenz.
Frank Lampard und Michael Essien sind nach zunächst falsch bewerteten Verletzungen nur noch Schatten ihrer selbst. Drogba brauchte sechs Monate, um sich von einer zunächst unterschätzten Malaria-Erkrankung zu erholen. Jose Bosingwas Knieprobleme wurden verschleppt, bei Yossi Benayoun übersah man, kein Witz, eine gerissene Achillessehne.
Das Ende einer Ära
Am Dienstagabend hatte man in Manchester das untrügerische Gefühl, dass eine Ära zu Ende ging. Die Zeit der blauen Maschine, des Ergebnismonsters, des wellenförmig über die Gegner kommenden Kraftfußballs ist vorbei. Chelsea wird sich neu erfinden müssen.
Einen Millionen-Kraftakt wie im Januar kann es diesen Sommer allerdings nicht noch einmal geben. Abramowitsch, der die neuen Auflagen aus Nyon in einem Gespräch mit UEFA-Präsident Michel Platini selbst befürwortet hat, weiß, dass man bei Chelsea ganz genau hinsehen wird, ob sich Ausgaben und Einnahmen die Wage halten. Die Londoner müssen zwar nicht über Nacht profitabel werden - die UEFA genehmigt vorübergehend eine Unterdeckung des Etats und lässt Gnade walten, wenn sich "ein positiver Trend" bei der Kostenentwicklung abzeichnet - aber Transfers in Torres-Dimension sind wenn überhaupt nur dann möglich, wenn Chelsea endlich einen Abnehmer für die Namensrechte des Stadions findet oder sich von einer Hand voll teurer Stars (Essien, Anelka, Drogba, Malouda) verabschiedet.
Die Verpflichtung jüngerer, billigerer Spieler ist auch aus sportlichen Gründen dringend notwendig. Die Ironie der Geschichte ist, dass ausgerechnet Abramowitsch, der Impulskäufer, der in der Vergangenheit so gerne in seine Lieblingsspieler (Stichwort: Andreij Schewtschenko) investierte, nun strategisch handeln muss. Haben er und Granovskaia das Talent dazu? Rätselfrage, 100.000 Punkte.
Die Premier League im Überblick
Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.comtätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.