Mit pochendem Herzen sitzt der Junge auf der bröckeligen Treppe, nervös wippt er auf und ab. Seine Freunde, die ein paar Meter weiter unten Fußball spielen, hat er kurz vergessen, würdigt sie gerade keines Blickes. Stattdessen schaut er abwechselnd auf die morsche Tür des Hauses seiner Familie und die Ecke der schmalen, ungeteerten Straße. Komm' endlich, komm' endlich, denkt er. Bis der Ruf seiner Mutter das Abenteuer für heute beendet.
"Immer, wenn ich die Frau sah, die Yakult verkaufte, rief ich Casemiro ins Haus", verriet Mutter Magda dem Bleacherreport. Yakult ist ein Joghurtdrink, sehr populär in Brasilien. Heute könnte sich Casemiro, dreimal in Folge Champions-League-Sieger mit Real Madrid und 30-facher brasilianischer A-Nationalspieler, wahrscheinlich eine ganze Yakult-Fabrik leisten. Als Kind war schon eine kleine Flasche utopisch. "Ich wollte immer Yakult trinken, aber wir hatten nie das Geld. Es kostete vielleicht 20 Cent", erinnerte sich Casemiro selbst.
Was klingt wie die traurige Version einer Miracoli-Werbung lässt erahnen, welch steinigen und mitunter aussichtslosen Weg Casemiro hinter sich hat. Aus dem Nichts nach ganz oben. Aus Sao Jose dos Campos, einer Stadt rund 80 Kilometer vor den Toren Sao Paulos, in die Weltspitze. Eine Geschichte voller Barrieren, voller Wendungen, voller Probleme eines sehr schüchternen Jungen, der dank seines Talents plötzlich berühmt wurde.
Casemiro ist erst fünf Jahre alt, als sein Vater die Familie nach einem heftigen Streit mit seiner Mutter Magda verlässt und nie wieder zurückkehrt. "Wenn ich ihn heute auf der Straße sehen würde, ich würde ihn nicht wiedererkennen", sagte Casemiro mal zu Globoesporte . "Aber ich wollte ihn immer treffen, weil ich keinen Groll gegen ihn hege."
Casemiro sucht Zuflucht im Fußball: Auf dem Platz konnte er vergessen
Ohne die ordnende Hand eines Vaters musste Casemiro extrem früh lernen, Verantwortung zu übernehmen. Seine Mutter arbeitete oft den ganzen Tag, um ihre Kinder irgendwie durchzubringen. Umso mehr war es Casemiros Aufgabe, sich um seine beiden jüngeren Geschwister zu kümmern. Ein eigenes Haus hatten sie nicht, mussten improvisieren. "Wir lebten bei meiner Tante, hatten nur ein Zimmer zum Schlafen und ein Bad", erzählt Casemiro.
Fußball war inmitten all dieser widrigen Umstände immer schon die Zuflucht des heute 26-jährigen Mittelfeldspielers. Auf dem Platz konnte er vergessen, war er nicht mehr der sehr zurückhaltende, fast ängstliche und irgendwie immer besorgt wirkende Junge. Auf dem Platz war er selbstsicher, dominant, alles andere als ängstlich.
Mit den Kumpels aus den Nachbarhäusern hatte er ohnehin schon immer auf der Straße gekickt, über seine Cousine Monica kam er mit sechs Jahren in eine Fußballschule. "Monica war Torhüterin in unserer Mädchenmannschaft, eines Tages erzählte sie mir von Casemiro. Wie gut er sei und ob sie ihn mal mitbringen könne", erinnert sich Nilton Moreira, ein ehemaliger Profi, der erwähnte Fußballschule 1997 in Sao Jose dos Campos eröffnet hatte.
Moreira, bis heute Casemiros vielleicht wichtigster Mentor und eine Art Ersatzvater, stimmte zu, hatte für den unscheinbaren Jungen, den Monica da anschleppte, zunächst aber lediglich als Ersatztorwart der Mädchenmannschaft Verwendung. "Doch er war so begabt, dass ich ihn nach kurzer Zeit zu den Jungs schickte. Er durfte bei einem Turnier mitspielen, als Stürmer - und beeindruckte sofort alles und jeden", blickt Moreira stolz zurück.
Heute vor allem für seine kompromisslose Zweikampfführung, seine Antizipationsfähigkeit, Robustheit, kurzum seine Aufräumerqualitäten bekannt und geschätzt, gefiel Casemiro als Jugendspieler meist durch Technik und Torgefahr. "Er hatte eine exzellente Ballkontrolle mit beiden Füßen", lobt Frühförderer Moreira. Und Bruno Petri, der ihn später in der Akademie des FC Sao Paulo trainieren sollte, sagte einmal: "Casemiro hätte alle technischen Voraussetzungen, um genau so zu spielen wie Toni Kroos und Luka Modric. Aber er hat verstanden, dass Real Madrid das nicht benötigt."
Casemiro sucht sein Glück in Sao Paulo
Es ist diese Fähigkeit, erkennen zu können, wofür man gebraucht wird, die bei Casemiros steinigem Aufstieg eine tragende Rolle spielt. Ihm war bereits als Kind schnell klar, dass der Fußball für seine Familie und ihn das Ticket in ein besseres Leben sein könnte. Früh war er in der Lage, sein Potenzial zu schützen und optimal zu nutzen. Schon als Achtjähriger begann er, die Kumpels aus seiner Mannschaft zu fragen, ob er die Nacht vor einem Spiel bei ihnen verbringen könne - und nicht auf seinem improvisierten Bett auf engstem Raum zuhause. "Um besseren Schlaf zu bekommen und fit für das Spiel zu sein", erklärt er.
In Moreiras Fußballschule war Casemiro bald ein kleiner Star, seine Mutter vertraute dem Coach ihren Sohn an: "Ich werde Moreira immer dankbar sein", sagt sie. "Carlinhos (angelehnt an Casemiros Vornamen Carlos, d. Red.) war meistens bei ihm und rutschte daher nie auf die schiefe Bahn ab. Wenn es den Fußball nicht gegeben hätte, hätte er in schlechte Dinge verwickelt werden können."
Casemiro machte sich einen Namen bei den Talentspähern rund um Sao Paulo. Immer mal wieder kreuzten die Wege seines Teams auch jene eines gewissen Neymar, keine drei Wochen älter und bekanntlich ebenfalls im Dunstkreis Sao Paulos aufgewachsen. Casemiro ähnelte seinem heutigen Nationalelfkollegen seinerzeit noch sehr in seinem Spielstil, war ebenfalls offensiv, erzielte viele Tore - und bekam pünktlich zu seinem 14. Geburtstag endlich die Chance, zum großen FC Sao Paulo zu gehen.
"Dort hatte ich ein eigenes Zimmer, geregeltes Essen, eine Klimaanlage, einen Fernseher", erinnert sich Casemiro an den ungewohnten Luxus, den er plötzlich kennenlernte. Ein Kulturschock für den Teenager, der sich im hektischen Trubel der Weltstadt Sao Paulo keineswegs auf Anhieb zurecht fand. Als ihn sein Coach Bruno Petri nach einem Training mal an der stets vor Menschenmassen strotzenden Avenida Paulista absetzte, damit er von dort seinen Bus in die Heimat erreichen konnte, brach Casemiro in Panik aus. "Er hatte solche Angst vor dem Lüftungsgitter der U-Bahn. Er sagte mir, er würde hineinfallen und sterben. Ich musste schließlich mit ihm gemeinsam darüber gehen", erzählte Petri.
Neben der neuen, großen Welt hatte Casemiro zu Beginn seiner Zeit in Sao Paulo aber auch ganz andere, noch viel schwerwiegendere Probleme. Bei einer Routinekontrolle kurz nach seiner Ankunft beim FC Sao Paulo wurde bei ihm Hepatitis A festgestellt. Drei Monate lang konnte er nicht trainieren, durfte teilweise nicht einmal mit seinen Mannschaftskameraden essen.
Er weinte viel, vermisste seine Familie nun umso mehr, hatte Angst, bei Sao Paulo zu scheitern. "Manchmal dachte ich darüber nach, den Fußball sein zu lassen. Sogar, als ich mich schon wieder erholt hatte", gestand er. "Doch meine Vergangenheit und das Leid meiner Familie gaben mir den stärksten Antrieb, doch weiter an meiner Karriere zu arbeiten."