Schmerzhafte Revolution?

Sebastian Hahn
03. August 201400:14
Die Mitspieler von Paul George waren nach seiner schweren Verletzung geschocktgetty
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Paul Georges Verletzung ist nicht nur ein herber Rückschlag für den Small Forward, sie lässt die Debatte um das Abstellen von Superstars für die Nationalmannschaft auch wieder neu aufflammen. Die großen Fragen: Was bedeutet der Schien- und Wadenbeinbruch von PG für das Team USA? Wie gehen die Indiana Pacers damit um? Und auf welchem Level kann George nach seiner Rückkehr überhaupt agieren?

Den Zuschauern und Spielern im Bankers Life Fieldhouse steht der Mund offen. Gerade hatte Paul George einen Pass von Clippers-Guard Darren Collison abgefangen und war zum gegnerischen Korb gesprintet.

Zwei lange Schritte, dann schraubt sich der Star der Pacers in die Höhe und schließt per beeindruckendem 360-Dunk ab. Die älteren Zuschauer fühlen sich an Vince Carters Jam aus dem Jahr 2000 erinnert. Die Menge tobt.

Am Freitagabend steht den Zuschauern und Spielern im Thomas & Mack Center zu Las Vegas ebenfalls der Mund offen. Gerade eben war George zum Blockversuch gegen James Harden abgehoben.

Der Pacer verpasst allerdings den Ball, springt ins Aus und knallt mit dem rechten Bein an den Fuß der Korbanlage. Schien- und Wadenbein brechen unter dem Druck zusammen, die TV-Bilder zeigen für kurze Zeit, wie Georges Bein in einem abnormalen Winkel wegknickt.

Wie Livingston 2007

Die Reaktionen sind bezeichnend. Derrick Rose schleicht orientierungslos über den Platz, Kenneth Faried hält sich den Bauch, DeMarcus Cousins betet, Mason Plumlee und Gordon Hayward ziehen sich das Handtuch über den Kopf. Kyrie Irving weint nach Spielende sogar in den Armen seines Vaters auf der Tribüne.

Knapp sieben Monate liegen zwischen diesen Szenen, die unterschiedlicher nicht sein können. Paul Georges Horror-Verletzung ist die schlimmste, die einem Spieler je beim Team USA widerfahren ist. "Es hat mir den Magen umgedreht, als ich davon erfahren habe. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich brauche dich da draußen, werd' schnell gesund!", erklärte LeBron James via "Twitter".

Viele vergleichen die Szene schon mit der furchtbaren Verletzung von Shaun Livingston 2007, der nach einem Korbleger unglücklich landete und sich beide Kreuzbänder, den Meniskus und das Innenband riss. Zudem sprang die Kniescheibe heraus.

Der Point Guard brauchte eineinhalb Jahre, bis er überhaupt wieder einen Basketball anfassen konnte. Es dauerte allerdings bis 2013, bis er wieder an die Leistungen vor seiner Verletzung anknüpfen konnte und sich seinen Platz in der NBA zurückeroberte.

"Alle geschockt"

"Im Moment sind alle geschockt wegen ihm. Aber er wird zurückkehren, er hat eine Krieger-Mentalität. Dasselbe habe ich zu Derrick Rose gesagt. Beide sind jung und haben schwere Verletzungen erlitten, aber manchmal macht dich so etwas stärker. Sie fordert dich, mit deinem Körper über die Grenzen zu gehen. Ich glaube an Paul Georges Rückkehr an die Spitze", twitterte Livingston.

Taugt Livingston also als Vergleich für Paul George? Definitiv nicht. Der offene Bruch des Schien- und Wadenbeins, den George erlitt, ist zwar einer schwerwiegende Verletzung, im Gegensatz zu Livingston blieben die Bänder des Small Forwards aber vollkommen intakt.

Sofern die Nerven im rechten Unterschenkel nicht dauerhaft geschädigt sind, wird die Verletzung voraussichtlich gut verheilen und George wird weiterhin in der NBA spielen können. Das Beispiel Steve Nash, der sich 2012 das Schienbein brach, zeigt allerdings, dass speziell in den ersten Monaten nach dem Comeback die Nerven noch große Probleme bereiten können. So verpasste Nash in der vergangenen Spielzeit mehr als 60 Partien.

Das Video ist nichts für schwache Nerven. Anschauen auf eigene Gefahr!

Erinnerungen an Hill und T-Mac

Vielmehr muss man sich um die Explosivität und Athletik des Small Forwards Sorgen machen. Wird man auch in Zukunft diese atemberaubenden Dunks von George sehen, die es in der abgelaufenen Saison zur Genüge zu bestaunen gab? Blickt man in die Vergangenheit, machen vor allem die Beispiele von Tracy McGrady und Grant Hill Sorgen.

T-Mac wurde nach einer OP am linken Knie fast vollständig seiner Explosivität beraubt und war danach nur noch ein Schatten seiner selbst. McGrady war allerdings schon 30 Jahre alt, als er sich unters Messer legte.

Hill dagegen war in einer ähnlichen Situation wie George. Auch er war auf dem Sprung zum absoluten Superstar, in den ersten vier Jahren bei den Orlando Magic absolvierte er aber aufgrund von mehreren Knöchelverletzungen nur 47 Partien. Sein Problem: Er startete zu früh sein Comeback, um seinen neuen Vertrag zu rechtfertigen.

Kein verfrühtes Comeback

George sollte sich Zeit lassen. Eine Rückkehr wäre frühestens zwischen Februar und April ein Thema, vermutlich wird George aber die komplette Saison aussetzen. Beispiele wie Derrick Rose und Kobe Bryant unterstreichen, dass ein frühes Comeback niemandem weiterhilft.

Neben der physischen Komponente wird sich auch die Frage stellen, ob George mental dann wieder bereit ist, Vollgas zu geben. "Auch nach meinem Comeback hatte ich immer noch etwas Angst, in die Zone zu ziehen", erklärte etwa Derrick Rose nach seinem ersten Kreuzbandriss. Auch George wird sicherlich noch eine Zeit lang mit der Verletzung im Hinterkopf agieren.

Team-USA-Debatte neu entfacht

Die Verletzung des Small Forwards entfacht allerdings eine weitere Debatte neu: Sollen weiterhin NBA-Superstars für das Team USA abgestellt werden, wenn sie sich dort folgenschwer verletzen können?

Wie "ESPN" vermeldet, sind mehrere NBA-Verantwortliche beunruhigt, dass die Stars der Liga durch Verletzungen bei der Nationalmannschaft lange ausfallen. Beispiele sind Pau Gasols Fußbruch bei der WM 2006 und Manu Ginobilis Knöchelverletzung während der Olympischen Spiele 2008.

Der Fall George ist besonders tragisch. Immerhin war es ein Testspiel, bei dem es zwar um die letzten Plätze im Kader ging, George hatte seinen aber eigentlich schon sicher. Hätte er zum Block gegen Harden in die Luft steigen müssen? Sicherlich nicht. Dass er es trotzdem tat, spricht für seine Einstellung.

Korb zu dicht am Feld

Hinzu kommen die Begebenheiten im Thomas & Mack Center in Las Vegas. Die Korbanlage steht nur 66 Zentimeter von der Grundlinie entfernt, in normalen NBA-Hallen ist der Abstand meist doppelt so groß. "Paul George ist wahrscheinlich mit so viel Wucht zum Block gesprungen, weil er nicht damit gerechnet hat, dass der Fuß der Anlage so nahe ist", erklärte Brian Windhorst von "ESPN".

US-Coach Krzyzewski erklärte aber im Anschluss an das Spiel, dass eine Rückkehr zu dem alten System von vor 1992, als nur College-Spieler für die Nationalmannschaft antraten, nicht zur Debatte stünde: "Sowas kann immer und überall passieren. Heute ist es bei einem Basketball-Spiel passiert. Darum müssen wir uns kümmern. Das bedeutet nicht, dass so etwas immer und immer wieder passiert. Es bedeutet, dass es nun mal heute passiert ist. Wir müssen jetzt die richtigen Schlüsse ziehen und uns dann auf die WM konzentrieren."

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Wieder schlagbar?

Krzyzewski und Jerry Colangelo sehen sich jetzt mit einer schweren Aufgabe konfrontiert. Nach den Absagen von Blake Griffin und Kevin Love fällt mit Paul George nun der nächste potentielle Starter aus.

Auf die eigentlich für Samstag angekündigte Kader-Bekanntgabe verzichtete man. "Es ist unangemessen, nach solch einer Verletzung über den Kader zu diskutieren", ergänzt Coach K.

Aufgrund des Überangebots an Guards ist der Backcourt die geringste Sorge des Trainers. Der Frontcourt steht dagegen auf wackligen Beinen. Stand jetzt sind Anthony Davis, Andre Drummond, Kevin Durant, DeMarcus Cousins, Kenneth Faried, Paul Millsap und Chandler Parsons die einzigen Spieler für die großen Positionen.

Die Chance für La Roja?

Spanien (Ibaka und die Gasol-Brüder) und Brasilien (Nene, Varejao und Splitter) dürften dem US-Team Probleme bereiten. Hinzu kommt noch, wie die Spieler den Schock über Georges Verletzung verdauen werden.

Zwar bleibt die USA weiterhin Top-Favorit auf den vierten großen Titel in Folge, die Konkurrenz darf sich aber gute Chancen ausrechnen, den Amerikanern die erste Niederlage auf internationaler Ebene seit acht Jahren zuzufügen.

Besonders die Spanier scheinen nach ihrem starken Auftritt bei den Olympischen Spielen 2012 eine echte Bedrohung für das US-Team.

Pacers in der Klemme

Viel schlimmer als das US-Team erwischt es aber die Indiana Pacers, die zum ungünstigsten Zeitpunkt ihren Superstar verlieren. Statt zu nörgeln, hält aber auch Präsident Larry Bird einen Verzicht auf Superstars im Nationalteam für unsinnig:

"Wir unterstützen weiterhin das Team USA und vertrauen in die NBA, die unsere Teams uns Spieler weltweit vermarktet. Das ist eine extreme unglückliche Verletzung, aber sie hätte überall passieren können, nicht nur beim Team USA."

Fakt ist aber, dass die Pacers angesichts des Abgangs von Lance Stephenson nun eine enorm große Lücke auf der Small-Forward-Position haben. George war für die kommende Spielzeit als Go-to-Guy vorgesehen, über ihn sollte Indianas Spiel laufen. Jetzt ruhen die Hoffnungen auf Roy Hibbert und David West, die die eh schon statische Offense von Frank Vogels Truppe nicht großartig beleben werden.

Schon im vergangenen Jahr war George der einzige Spieler, der die Offense mit seiner Kreativität und Athletik beleben konnte. Zum aktuellen Zeitpunkt verfügt Vogel nur über drei Spieler, die überhaupt als Small Forward auflaufen können.

Wer übernimmt für PG?

Solomon Hill, Chris Copeland und Neuzugang Damjan Rudez, der aber eigentlich auf der Vier spielt, müssen sich nun die Minuten teilen. Die Pacers werden sich wohl noch verstärken. Die großen Fische auf dem Free-Agent-Markt sind jedoch schon weg, aktuell wären Michael Beasley und Shawn Marion die besten verfügbaren Akteure für die Drei.

Finanziell sind den Pacers auch die Hände gebunden, Georges neuer Vertrag über fünf Jahre und 90 Millionen startet ab der kommenden Spielzeit. Die Versicherung dürfte allerdings sein Gehalt übernehmen, zudem wird sich Indiana wohl für eine Disabled Player Exception bewerben, die es den Verantwortlichen erlaubt, in den kommenden 45 Tagen einen Ersatz für George zu verpflichten.

Folgt der Blockbuster-Trade?

Dennoch wird Indiana keinesfalls um die Ost-Krone mitspielen, selbst die Playoffs sind in Gefahr. Nimmt man ein schwaches Jahr in Kauf, um dann mit einem hohen Draft-Pick plus einem wiedergenesenen George wieder anzugreifen? Oder packt GM Kevin Pritchard den Blockbuster-Trade aus? Roy Hibbert hat im kommenden Sommer eine Player Option, die er nach einem schwachen Jahr eventuell nicht ziehen wird.

Zuletzt gab es immer wieder Gerüchte um einen Trade des Centers. Gut möglich, dass Pritchard so Spieler ins Team holt, die die Franchise in diesem Jahr konkurrenzfähig machen und die Pacers auch nach der Rückkehr von Paul George langfristig verstärken. Indiana steckt in der Klemme. Langfristig darf und kann man keinen neuen Starter für die Drei an sich binden, da George über kurz oder lang zurückkehren wird.

Die Auswirkungen von Georges Verletzung betreffen nicht nur kurzfristig das Team USA und die Indiana Pacers, sie könnte sich auch langfristig als wegweisend für die Abstellung von NBA-Profis zu ihren Nationalteams erweisen.

Zum jetzigen Zeitpunkt wünschen sich aber wohl alle Fans, Verantwortlichen und Spieler nur eines: Dass ihnen bei Paul George wieder der Mund offen stehen bleibt - im positiven Sinne.

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