Das Kind mit der donnernden Linken

Liane Killmann
09. Oktober 201514:20
Zwei Tage nach seinem 19. Geburtstag gewinnt Rafael Nadal 2005 sein erstes Grand-Slam-Finalegetty
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Rafael Nadal durchlebt eine Krise. Seit seinem neunten Triumph bei den French Open im letzten Jahr hat er nur noch ein Turnier gewonnen. In der Weltrangliste ist der Spanier nur noch die Nummer sieben. Doch Nadal in Paris, das ist ein Mythos. SPOX blickt zurück auf Roland Garros 2005, als der Stern des spanischen Teenies aufging.

"Momentan wäre Novak ganz klar der Favorit." Andy Murrays Antwort auf die Frage nach dem Paris-Favoriten lässt im Interview mit SPOX keinen Zweifel daran: Etwas ist anders in diesem Jahr. Der Seriensieger, der Dominator, der Sandplatzkönig Rafael Nadal verbreitet derzeit wenig Schrecken unter den Konkurrenten.

Das weiß der Spanier natürlich selbst. Neu ist, dass er seine Schwächen offensiv artikuliert. "Ich beginne diese europäische Sandplatzsaison in der vielleicht schlechtesten Form meiner Karriere", sagte der 14-malige Grand-Slam-Champion im April gegenüber Television Espanola.

Da hatte Nadal zwar bereits das kleinere Sandplatzturnier in Buenos Aires gewonnen, anschließend aber nicht nur auf den Hartplätzen von Miami und Indian Wells zeitweise alt ausgesehen, sondern auch auf der europäischen Asche Niederlagen kassiert.

Nadal: Ein Erdbeben in Paris

Nur mit der Finalteilnahme in Madrid hat der Spanier ein Fünkchen Hoffnung bei seinen Fans entfacht. "Das Selbstvertrauen kehrt nur zurück, wenn du Matches gewinnst. So einfach ist das", weiß Nadal.

Man muss die Konkurrenz nicht vor einem Nadal in Paris warnen. Allein Djokovic unterlag dem Seriensieger am Bois de Boulogne sechs Mal, zwei Mal davon im Finale. Federer erwischte es fünf Mal, er verlor gleich vier Endspiele.

2005 hatte der 19-Jährige aus Manacor auf Mallorca in Roland Garros ein Erdbeben ausgelöst. Er war der jüngste Grand-Slam-Sieger seit Michael Chang 1989 in Paris (17 Jahre und 4 Monate alt) und der erste Teenager seit Pete Sampras in New York, dem dieses Kunststück gelang.

Kein Triumph aus dem Nichts

"Das Wunderkind" (FAZ) reiste mit den Titeln aus Monte Carlo, Barcelona und Rom an und war bereits Fünfter der ATP-Weltrangliste. Es verließ Paris mit dem vierten Titel in Folge und 24 Siegen am Stück. Am Ende gewann er in seinem Breakthrough-Year elf (!) Titel und katapultierte sich von Rang 51 auf Weltranglistenplatz zwei.

Kurios: Bei den anderen drei Grand Slams war Nadal schon mit 16 und 17 Jahren angetreten. Ausgerechnet Paris verpasste er 2004 wegen eines Ermüdungsbruchs im Knöchel. Statt mit dem Training auszusetzen, setzte er sich mitten auf dem Trainingsplatz auf einen Tisch und schlug Bälle, die Coach Onkel Toni ihm zuspielte. "Ich wollte das Gefühl für mein Spiel nicht verlieren", erzählte Nadal später und verstand die verwunderten Blicke nicht, die er mit dieser Geschichte auslöste.

Der Pirat mit den starken Beinen

Für Kopfschütteln sollte auch sein Outfit in Paris sorgen: grünes ärmelloses Hemd, weiße Dreiviertelpumphosen und ein weißes Bandana, das die wilde Mähne zähmte. Kurzum, er erinnerte an einen Piraten. Und in Wimbledon hätten sie definitiv einen Herzkasper bekommen.

Der Linkshänder spielte mit heftigem Topspin, diktierte die Matches mit seiner Vorhand. Dank starker Beine überzeugte er mit einer exzellenten Abdeckung des Platzes. Er zeigte keinerlei Furcht, bewies Nervenstärke und fegte mit einer Leidenschaft über die rote Asche, die ihm sofort Vergleiche mit dem jungen Boris Becker oder John McEnroe einbrachte. Wobei sich die Parallelen, zumal auf Sand, in engen Grenzen halten.

Denn anders als die Trashtalker der 80er Jahre fällt Nadal von Anfang an durch Höflichkeit und besonders gute Manieren auf. Starke Punkte bejubelte er allerdings schon damals mit geballter Faust und lauten "Vamos"-Anfeuerungsrufen. Seine Gegner nahmen dieses Ritual als psychologische Kriegsführung wahr.

Filmreife Zutaten

Der Junge lieferte alle Zutaten zur Legendenbildung: Der Latin-Look mit den langen Haaren eignete sich für die Poster in den Zimmern der Mädchen ebenso wie seine Heldengeschichte für die Hochglanzcover.

Seine Geschichte war absolut filmreif, aber eigentlich war er noch ein Kind, wenn auch mit ernstem Gesicht. So extrovertiert und wild er sich auf dem Platz gebärdete, so schüchtern und bescheiden zeigte er sich abseits. Eine Schokomilch war zu dieser Zeit sein Hauptsponsor. Wie passend.

Ob er eine Freundin habe? Zurückhaltendes Lächeln: "Nein, eine Freundin habe ich nicht." Ob er eitel sei? "Nein, das ist nicht mein Stil. Im Bad brauche ich morgens sehr wenig Zeit." Er liebe das Golfspielen. Und das Angeln. Er mag es, sagt er, früh aufzustehen und mit dem Boot in den Sonnenaufgang rauszufahren.

Verliebt in Rafa

Presse und Publikum verliebten sich in Paris in das "Kind mit der donnernden Linken", der "Tornado Nadal schonte niemanden" (L'Equipe). Eine "Frisur wie Gabriela Sabatini, Beine wie Madonna (nur 30 Zentimeter länger)" bescheinigte ihm der Telegraph. "Kaum 19, hat er das Spiel, den Look und bemerkenswert gute Manieren", überschrieb die New York Times am Tag nach dem Finale ihr Nadal-Porträt.

In den ersten drei Runden war Nadal in Paris noch unter Radar geflogen. Mit Lars Burgsmüller, Xavier Malisse und Richard Gasquet hatte der 18-Jährige keinerlei Mühe. Auch gegen Landsmann David Ferrer lief es im Viertelfinale glatt. Nur Sebastien Grosjean tags zuvor und der Nummer eins Roger Federer im Halbfinale gelang es, dem Teenie einen Satz abzuknöpfen.

Am Tag des Duells mit dem Schweizer wurde Nadal 19 Jahre alt. Es gab eine Torte und den Sieg über sein großes Vorbild.

Juan Carlos vergisst die Etikette

Was folgte, war ein "verwegener Triumph" (Telegraph), der Spanien verzückte und Nadal weltweit bekannt machte. Den ersten Satz verlor er noch im Tiebreak mit 6:8 gegen den ungesetzten Mariano Puerta. Auch im vierten Satz hatte der Gaucho die Chance zum Ausgleich, als er bei 5:4 drei Satzbälle vergab.

Doch mit seiner unnachahmlichen Athletik und Präsenz schaffte Nadal das Rebreak und machte anschließend mit 6:3, 6:1 und 7:5 den Sack zu - und kürte sich selbst zum Helden. Seit Mats Wilander 1982 hatte niemand mehr die French Open im ersten Anlauf gewinnen können.

Der Moment brachte sogar den spanischen König zu stehenden Ovationen. Nadal, der wie in den nächsten Jahren so häufig nach verwandeltem Matchball erst einmal ungläubig den Schläger fallen ließ und in die rote Asche sank, durfte sich von seiner Majestät umarmen lassen. Juan Carlos musste wohl erst die rote Asche von seinen Sakko-Ärmeln klopfen, ehe er an diesem heißen Sonntagnachmittag seine Loge verließ.

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Mit dem wilden Piraten auf dem Chatrier hatte der schüchterne Gentleman in Anzug und Schlips, der kurz vor Mitternacht umrahmt von seinen Eltern an einem Champagnerglas nippte, nichts mehr zu tun. Im Hintergrund der Restaurant-Terrasse, auf der nach dem "donnernden Triumph" (New York Times) die leise Siegesfeier stieg, schimmerten Eiffelturm und Invalidendom.

Als er vier Tage später nach Spanien zurückkehrte, feierte ihn die Nation als Volkshelden, hofiert wie ein Hollywoodstar. Monitore pflasterten den Pressebereich, das Sicherheitspersonal hatte alle Hände voll zu tun und Nadals Agent telefonierte ohne Unterlass. Kameras hielten jede Regung des Teenies fest, er musste unzählige Tennisbälle signieren. Und seine Rede wurde live in alle Teile Spaniens übertragen.

Sein Englisch kam noch zögernd und unbeholfen daher. Der Sieg sei "himposseeble. There's nothing I can say." Rafa vermied daher die fremde Sprache, wo er konnte. "Ich hoffe, das alles verändert mich nicht", sagte er auf der Pressekonferenz deshalb in seiner Muttersprache. "Ich möchte weiterhin ein 19-jähriger Jugendlicher sein und mein Tennis spielen."

"Alles war möglich"

Spricht Nadal heute über seinen Durchbruch, tut der Mallorquiner das in fließendem Englisch mit spanischem Zungenschlag, etwa gegenüber dem Roland-Garros-Magazine. "Ich wusste, dass das gegen Puerta ein tricky Match werden würde, und das wurde es. Aber ich wusste auch, dass alles möglich war." So zurückhaltend er hinter den Kulissen auftrat, so selbstsicher war der Youngster schon damals mit seinem Spiel auf der Asche.

"Ich war in zwei Monaten von Rang 50 zum Roland-Garros-Champion aufgestiegen. Aber ich bin gut damit umgegangen, weil ich derselbe blieb und weiter hart arbeitete." Was seinen schnellen Aufstieg ermöglichte? Er sei ein Spieler mit "unglaublicher mentaler Energie und einer großen Fähigkeit zur Konzentration" in "erstaunlicher Form" gewesen, und noch dazu "mit viel Intensität und Leidenschaft" aufgetreten.

Nadal: "Ich bin nervös"

An der Gefühlslage vor einem Grand-Slam-Turnier habe sich trotz seiner immensen Erfahrung nichts geändert. "Ich bin nervös. Ich will gewinnen, weil ich noch einmal dieses unbeschreibliche Gefühl fühlen möchte, das du fühlst, wenn du ein Grand-Slam-Turnier gewinnst."

Die spezielle Verbindung zwischen ihm und Paris sei auch im elften Jahr noch immer vorhanden. "Ein Sieg in Roland Garros gibt mir die Stärke, andere Turniere zu gewinnen."

Mit einem weiteren Triumph könnte Nadal am 7. Juni 2015 Geschichte schreiben. Wieder einmal. Der Spanier würde zum zehnten Mal in elf Jahren den Coupe Suzanne Lenglen in die Höhe hieven.

Auf der Jagd nach La Decima

Federer glaubt trotz der Schwächephase an den Spanier: "Ich bleibe dabei, Nadal ist mein Favorit. Egal, was alle meinen. Der Kerl hat nur einmal in zehn Jahren verloren." Er hat aber seit Paris 2014 kein Viertelfinale mehr bei einem Grand Slam gewonnen, ihm gelang nur noch ein Turniersieg (Buenos Aires 2015).

Und der Weg zum Titel war schon lange nicht mehr so hart: Als Nummer sieben der Welt droht Nadal ein frühes Aufeinandertreffen mit Novak Djokovic und Co. Erstmals seit Mai 2005 rangiert der Linkshänder außerhalb der Top 5. SPOX

Von Murray entzaubert

Was Experten und Fans bei Nadals Niederlagen in Rom (Viertelfinale vs. Stan Wawrinka) und Madrid (Finale vs. Andy Murray) am meisten überraschte? München-Champion Murray demonstrierte auf seinem einst ungeliebten Belag, wie man die tödlichste Waffe im Welttennis der vergangenen zehn Jahre - Nadals überragende Topspin-Vorhand - ausschaltet.

Der Matchplan des Schotten: Näher an der Grundlinie stehen, Nadals Vorhand früh attackieren und ihn mit druckvollen Inside-Out-Schlägen weit aus dem Platz treiben. Auf der linken Seite seiner Platzhälfte festgenagelt, kam der Spanier nicht mehr dazu, seine Rückhand zu umlaufen und von der Einstandseite aus mit der Vorhand zu diktieren. Außerdem produzierte Nadal dadurch 26 (!) Vorhandfehler und wurde mehrfach auf dem falschen Fuß erwischt.

Murray war erst der vierte Spieler überhaupt, der Nadal in einem Sandplatz-Finale schlagen konnte (nach Djokovic/4 Mal, Roger Federer/2 und Horacio Zeballos/1). Auch in den letzten 52 Wochen kassierte der Spanier nur fünf Niederlagen auf diesem Belag.

Doch der Mythos des Sandplatzkönigs, der es auf Asche zwischen April 2005 und Mai 2007 auf 81 gewonnene Spiele brachte, bröckelt. Wenn Nadal den Trend umkehren kann, dann auf dem Court Centrale de Paris.

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