Dass sich diese vier Einzelspieler zu einem derart traumwandlerisch sicheren Quartett verzahnten und tatsächlich ineinander griffen, als würden sie sich seit Jahren kennen, ist neben ihrer Intuition einem ernsten Mann mit klarem Blick zu verdanken. Selbst im Moment des großen Triumphs 1984 zeigte er kein Lächeln und sprach im Fernsehinterview so nüchtern von der "Erfüllung eines Traums", als würde er von seinem letzten Zahnarztbesuch erzählen.
Michel Hidalgo war bereits als Spieler sehr intelligent, einer, der sich für Politik interessierte. Er war Präsident der Spielergewerkschaft und wurde 1976 im Alter von 46 Jahren Nationaltrainer. Er bewegte sich in linken Kreisen, seine Freunde lasen Camus und gingen gegen die Ölkrisen auf die Straßen, er selbst konnte den Gedanken nur bis zu einem gewissen Grad etwas abgewinnen, er war zu sehr analytischer Denker, um die romantischen Ideen der linken Szene zu absorbieren.
Als Trainer baute er bei der WM 1982 das feste 4-3-3 in ein 4-4-2 um, weil er um jeden Preis Platini, der im Spiel zuvor hervorragend von Tigana vertreten worden war, und ebenjenen in der Startelf haben wollte. Er setzte also auf vier Mann im Mittelfeld oder später sogar fünf. Dadurch verstärkte sich alleine schon aus numerischen Gründen die Dominanz. Er ließ Platini immer wieder in die Spitze vorstoßen, Giresse als seinen Adjutanten fungieren.
Und dahinter überwachte Tigana als Pass-Maschine mit dem Überblick einer Drohne das Geschehen. 1982 noch mit Genghini, später dann mit Fernandez als viertem Spieler, wurde Frankreich innerhalb kürzester Zeit zu einem europäischen Giganten.
Erst Europameister, dann Symbol
Mit kurzen Pässen im Mittelfeld, strategischer Vollendung und mit dem überragenden Individualisten Platini in den eigenen Reihen, dominierte man die EM 1984 nach Belieben. Ebenfalls stark besetzte Teams wie Nachbar Belgien wurden mit 5:0 auseinander genommen, im Finale griff die baskische Torhüter-Legende Luis Arkonada nach einem Platini-Freistoß daneben, später machte Bruno Bellone nach einem tollen Querpass von Tigana alles klar.
Frankreich war erstmals Europameister - und das im eigenen Land. In Paris tanzten die Menschen auf den Straßen, in Deutschland oder der Niederlande blickte man ehrfürchtig auf die Mittelfeldspieler der Equipe und in den Redaktionen Europas schrieben sich die Redakteure die Finger wund, um die Kunstfertigkeit der magischen Ästheten adäquat zu beschreiben.
Der Fußball wurde, auch wegen der Berichterstattung in linksorientierten Zeitungen, zu einem Symbol. Die Spieler zu Rebellen, die den Fußball ähnlich wie in Holland zehn Jahre zuvor nicht mehr nur als Kampf ansahen, sondern als Kunst. Auch wenn die Spieler selbst einfach gewinnen wollten und sich lediglich "respektierten" (Giresse) und keinesfalls eine eingeschworene Truppe mit politischen Botschaften waren, rieben sich die Philosophen und die langhaarigen Protestler die Hände.
Tigana wurde von vielen Schwarzen als Vorbild verehrt und war einer der ersten Schwarzen in Frankreich, der öffentlich eine Superstar-Rolle einnahm. So wurde auch er zum Symbol. Dafür, dass Schwarze genau so gute Chancen hatten, es nach oben zu schaffen wie Weiße. Er selbst wollte von einer etwaigen Vorbild-Funktion wenig wissen.
"Ich habe gelernt, dass Demut das Wichtigste ist", sagte der medienscheue spätere Trainer und versprachlicht dabei die Kernkompetenz, die neben ihm auch Giresse und Fernandez besaßen: Zurückhaltung. Sie standen im Schatten des großen Platini, der mit neun Toren EM-Torschützenkönig wurde und nach dem Turnier zu Juventus Turin wechselte.
"Sie mussten nur auf mich hören"
Weil Platini aber diese ganz besondere Gabe hatte, nahmen die anderen drei die Rolle als Wasserträger und Ergänzer gerne hin, nur so konnten sie zusammen überragen. "Im Fußball muss der Einzelne die anderen ergänzen, nicht umgekehrt. Spaß am Spiel entsteht doch erst, wenn jeder bereit ist, alles für die Mannschaft zu geben. Wir wussten genau, dass Michel Platini uns besser als jeder andere weiterhelfen konnte. Umgekehrt wusste Platini, dass er sich nur so frei entfalten konnte, weil wir ihm die Möglichkeit dazu gaben", analysiert Giresse die Rollenverteilung und auch Platini stellt klar: "Sie mussten nur auf mich hören, dann gab es da keine Probleme."
Hidalgo ließ seinen Spielern, ähnlich wie Helmut Schön, viele Freiheiten. So konnten seine taktischen Vorgaben und die Kreativität der Spieler voll zur Entfaltung kommen. In Giresses Worten: "Hidalgo gab das grobe Muster vor, und ausgehend von dem, was er uns gesagt hatte, steuerten wir noch etwas bei, damit es funktionierte."
Frankreich revolutionierte nicht den Fußball, wie manchmal behauptet wird, sie spielten einfach dominant und hatten diese vier tollen Spieler, die zu den besten ihrer Generation gehörten, was auch entsprechend honoriert wurde. Platini gewann dreimal den Ballon d'Or (1983 bis 1985) und auch Giresse (Zweiter 1982) und Tigana (Zweiter 1984) landeten einmal auf dem Podest.
Das Jahrhundertspiel
Wirklich Legendenstatus erreichten die Vier aber 1986 in Mexiko. Inzwischen war nicht mehr Schöpfer Hidalgo, sondern Henri Michel Trainer. Der Großteil der Mythisierung um die "Magie" zehrt sich aus der WM in der Gluthitze Mittelamerikas. Denn ein Duell versetzte die ganze Welt in Verzückung. Frankreich mit Platini, Giresse und Tigana gegen Brasilien mit Zico und Socrates.
Zwei ähnliche Fußball-Philosophien prallten aufeinander, zwei Teams, die ästhetisch noch heute im Olymp angesiedelt sind, zwei Teams, die beide vom Geist der Revolution umgeben waren. Am Ende standen sich im Finale die pragmatischen Teams von Argentinien und Deutschland gegenüber, das Spiel des Turniers war aber das zwischen der Selecao und der Equipe Tricolore am 21. Juni 1986.
"Fußball pur"
Vor 65.000 Zuschauern wirbelten beide Teams im Mittelfeld und setzten auf volle Offensive. Über allem schwebte die Magie der Vergangenheit, wie Giresse es später beschrieb: "Es war magisch. Wir waren furchtbar aufgeregt, zugleich stolz. Es war fast schon surreal. Kindheitserinnerungen kamen in mir hoch. Brasilien und die WM-Geschichte, damit verbindet jeder so viel. Und nun sollten wir plötzlich Teil dieser Geschichte werden. Es war Fußball pur."
Nach 120 Minuten, es stand 1:1, waren die Akteure stehend K.o., die Fans heiser. Die Sonne brannte vom Himmel wie bei einem Showdown in einem Western. High Noon in Guadalajara: Im Elfmeterschießen verschoss ausgerechnet der Stirnband tragende Kettenraucher und Fußball-Philosoph Socrates.
Obwohl auch Platini scheiterte, zog man ins Halbfinale ein, Fernandez wurde seinem Ruf als "Mann mit den Nerven aus Stahl" gerecht und schoss Frankreich weiter. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Wie vier Jahre zuvor scheiterte Frankreich im Drama 2.0 von Guadalajara an den deutschen Pragmatikern und in der Kabine herrschte nur Stille und Leere.
Fester Platz in der Geschichte
Das "Magische Viereck", es gewann nur einen großen Titel und scheiterte gleich zweimal an den Deutschen. Dennoch steht es für eine der genialsten Mittelfeld-Reihen der Fußball-Geschichte. "Platinissimus", schrieb die Presse nach den Sinfonien auf dem Rasen des orchestralen Mittelfelds, dessen Musiker im Rhythmus immer den Sinn fürs Feinsinnige wahrten. Sie konnten wahrlich fliegen und blieben dabei doch zielgerichtet, genau wie Rattle es musikalisch ausgedrückt hatte.
Sie harmonierten auf dem Platz in Vollendung und bescherten dem Fußball einige großartige Momente, die einen Sport im Verständnis vieler in ein Kulturgut verwandelten. Da war plötzlich die Literatur, der Wein - und der Fußball. Drei der Kulturschaffenden sind heute international fast vergessen, dabei wäre Platini ohne Giresse, Fernandez und Tigana niemals so groß geworden. Deshalb steht an dieser Stelle die Geschichte eines Vierecks und nicht eines Einzelnen.
"Leider haben wir verloren... Aber ich glaube, das ist nicht das Wichtigste, angesichts dessen, was wir erleben durften", sagte Platini über die WM-Pleite 1982 gegen Deutschland und er hat Recht. Sie durften Großes erleben. Denn sie durften als Autoren Fußball-Geschichte schreiben und sich so einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis dieser Sportart sichern: als magisches Vier-Mann-Orchester. Als Könige des Spiels, die sich nie mit einem WM-Titel krönten - und die dennoch wahrhaft majestätisch Fußball spielten.
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