Die ungekrönten Könige

Von Maximilian Schmeckel
Michel Platini und Co. wurden mit Frankreich Europameister
© getty

In den Achtzigerjahren machte ein Mittelfeld-Quartett Frankreich zu einem der besten Teams der Welt. Platini, Giresse, Tigana und Fernandez verstanden sich blind und wurden wegen ihres ästhetischen Stils zu Rebellen und Kulturschaffenden stilisiert. Trotz des EM-Titels 1984 haftet dem Vier-Mann-Orchester jedoch immer die Tragik der Unvollendeten an. Schuld sind zwei Halbfinal-Niederlagen gegen Deutschland.

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Sie saßen mit gesenkten Köpfen in der Kabine, keiner sagte ein Wort. Nur das Tosen der Fans im Estadio Jalisco in Guadalajara war zu hören. Die Spieler der französischen Nationalmannschaft starrten ins Leere, ihre abgekämpften Gesichter zeigten tiefe Trauer, denn alle wussten, dass eine Ära zu Ende und mit ihr die letzte Chance gestorben war, sich zur besten Mannschaft der Welt zu krönen. Michel Platini versuchte zu sprechen und als Kapitän ein Lob für ein großes Turnier auszusprechen, er fand die Worte nicht. Er setzte sich wieder und dachte an vergebene Chancen und kleine Fehler, die sie den Sieg gekostet hatten.

Vier Jahre vorher hatte man gegen Deutschland im legendären Halbfinale von Sevilla das Duell vom Punkt verloren, obwohl man in der Verlängerung bereits mit 3:1 geführt hatte. "Jeder saß heulend in seiner Ecke, am Boden zerstört. Wir fielen in ein schwarzes Loch", beschrieb Alain Giresse den letzten Akt des andalusischen Dramas im Interview mit 11 Freunde.

Kaum auszudenken also, wie sie sich 1986 in Mexiko fühlten. Denn wieder war man im WM-Halbfinale gescheitert. Wieder war man als Favorit an den pragmatischen Handwerkern Deutschlands wie Norbert Eder oder Wolfgang Rolff verzweifelt. "Die Kunst wurde mit dem Schmiedehammer zertrümmert. Das beste Team dieser WM ist ausgeschieden", schrieb L'Equipe.

Eine Ära war vorüber und mit ihr die Zeit der magischen Vier in der Mitte - eines Quartetts, das in seiner Vollendung einzigartig war und das doch vor allem über die bitteren Tage von Sevilla und Guadalajara definiert wird.

"Europas Brasilianer"

"Im Rhythmischen gibt es diesen besonderen Sinn fürs Feingewichtige. Diese Musik hat keine Bodenhaftung, sie kann fliegen, bleibt dabei aber enorm präzise und zielgerichtet", sagte der weltbekannte britische Dirigent Simon Rattle in der FAZ über französische Musik. Wohl kaum ein Satz passt besser als Charakterisierung des filigran-rythmischen Fußball-Quartetts der Equipe Tricolore in den Achtziger-Jahren.

"Sie nahmen Dinge wahr, die ich auch wahrnahm. Wir sprachen dieselbe Sprache, hatten die gleichen Werte und wollten alle nach vorne spielen", beschrieb Michel Platini, der Kommandeur des "Magischen Vierecks", den intuitiven Zustand des Schwebens, den sie, die vier Protagonisten der adidas-Schuhe tragenden personifizierten Harmonie, kreierten und mit dem sie die Welt-Presse zum Schwärmen brachten.

"Europas Brasilianer", hieß es und der eigentlich eher nüchterne Guardian schrieb: "Sie bewegen sich wie ein Uhrwerk, in dem jedes Rädchen genau ineinander greift. Sie dominieren das Spiel, als würden sie den ganzen Tag nichts anderes machen."

Kontrolle über alles

Sie, das sind neben seiner Heiligkeit Platini noch Alain Giresse, Jean Tigana und Luis Fernandez. Unter der Regie des Leder-Ästheten Michel Hidalgo verschmolzen die vier gegensätzlichen Fußballer zu einem orchestralen Konstrukt, das die totale Kontrolle ausübte.

"Wenn man den Ball kontrollieren und weiterspielen kann, kann man alles", sagte Giresse und brachte es so auf den Punkt. Auch Platini sah die Überwachung des Spiels als elementar an: "Wenn du den Ball nicht unter Kontrolle kriegst, kannst du auch keinen guten Pass spielen."

Diese so einfach aussehende und fast mühelos auf dem Rasen angefertigte Kontrolle war es, die Frankreich die ästhetischste Phase seiner fußballerischen Geschichte einbrachte und hinter der Ära von Zinedine Zidane erfolgreichste Phase überhaupt. Um den Wesens-Kern des Vierecks zu verstehen, muss man zunächst jeden Einzelnen für sich betrachten.

Der Solist

Da war natürlich Michel Platini, heute mit einigen Kratzern im Ruf nach dem Amt des FIFA-Präsidenten strebend. Wenn man den heutigen Mann mit dem Bauchansatz und den etwas zu langen Haaren sieht, dann kann man sich kaum mehr vorstellen, dass er einmal ein Genie auf dem Platz war, das sie in Frankreich "Platoche" riefen.

Besonders, wenn sein Wirken vor der eigenen Zeit liegt, bedarf es einiges an Vorstellungsvermögen, um sich den Anzugträger als formvollendete Symbiose aus Torjäger und Spielmacher vorzustellen.

Platini war das Gesicht der Europameisterelf von 1984, er war es, der mit der roten Binde am linken Arm den Pokal in den Nachthimmel von Paris reckte. "Michel Platini war der Schlüssel zu allem. Er war unser Spielmacher, er traf die Entscheidungen und gab die Richtung vor", beschreibt Giresse den Einfluss.

Gewissermaßen war Platini der Solist eines Orchesters, um den herum der Dirigent, Trainer Michel Hidalgo, und die anderen Musiker ihre Meisterwerke schufen.

Das Chamäleon

Da war Luis Fernandez, ein gebürtiger Spanier und willensstarker Spieler, der den Filigrantechnikern die nötige Aggressivität verlieh. Er agierte als sportliches Chamäleon und passte sich dem Gegner an. Er konnte Torjäger sein, Manndecker oder Antreiber.

Über allem stand immer die Mannschaft. Bei Paris Saint-Germain war er im Gegensatz zum Nationalteam der Chef, er führte das Team an und strahlte auch mehr Torgefahr aus als in der Landesauswahl.

Von 1982 bis 1986 gelang ihm das Kunststück, jedes Jahr einen Titel zu gewinnen. Er wurde in diesem Zeitraum Pokalsieger (1982, 1983), Europameister (1984), Interkontinentalcup-Sieger (1985) und französischer Meister (1986). Zudem wurde er 1985 zu Frankreichs Fußballer des Jahres gekürt - ein Titel, den das Quartett zusammen sieben Mal gewann (dreimal Giresse, zweimal Platini, einmal Tigana, einmal Fernandez).

Der Feingeist

Der Dritte im Bunde war Alain Giresse, ein nur 1,63 Meter großer Techniker, der mit hohem Fußball-IQ die Räume besetzte, die Platini offen ließ. "Ich versuchte, das Spiel zu lesen und Löcher zu stopfen", so Giresse, der als Feingeist und sensibler Beobachter auch außerhalb des Platzes Platini die große Bühne überließ.

Dabei hatte er alles, um den Rollenwechsel vom genialen, aber in der zweiten Reihe postierten, Streicher zum Solisten ganz vorne zu vollziehen: die Technik, das Auge, den Willen und die Intuition.

"Die große Bühne lag mir nicht. Ich wollte Fußball spielen, meine Liebe galt immer dem Ball", sagte er Le Monde, als er längst in Pension war. Giresse stach Platini bei der Wahl zu Frankreichs Fußballer des Jahres gleich dreimal aus (1982, 1983, 1987), heute kennen den vom Spieler-Typus mit Andres Iniesta vergleichbaren Giresse nur noch die Wenigsten.

Der Taktgeber

Das Quartett-komplettierende Puzzlestück war Jean Tigana. Der in Mali geborene Sechser war das Cello im Orchester, der zuverlässige Taktgeber. Ohne ihn hätte Platini niemals so viele Tore geschossen, ohne ihn hätte Giresse nicht die Rolle des auslotenden Seismographen einnehmen können.

Denn Tigana war als antizipierender Kilometerfresser nicht nur die defensive Königspersonalie, sondern auch offensiv von enormem Wert. Seine Pässe kamen an, egal, ob in Bedrängnis oder nicht. Pässe von Jean Tigana wurden in den Fuß des Mitspielers gespielt, nicht zu fest und nicht zu lasch.

"Jean Tigana, der schon aufgrund seiner physischen Präsenz einzigartig war, war ein Abräumer mit einer enormen mentalen Stärke und einem sehr präzisen Aufbauspiel", so Giresse über den stillen Chef, der die Karriere zum Profi fast nicht eingeschlagen hätte. Ihm, als aus Afrika stammendem Spieler, fehle es an Intelligenz auf dem Platz, lautete die einhellige Meinung. Er arbeitete in einer Nudel-Fabrik und als Briefträger, ehe er einen Vertrag in der zweiten Liga erhielt.

Erst der große Aime Jacquet entdeckte sein großes Potenzial und lotste ihn als 23-Jährigen zu Olympique Lyon. 1981 nahm er ihn zu Giondins Bordeaux mit, wo er auf Giresse traf. Sie spielten fünf Jahre als kongeniale Partner zusammen und holten zwei französische Meistertitel (1984, 1985) und einen Pokalsieg (1986).

Seite 1: Die einzelnen Komponenten des Quartetts

Seite 2: Der große Titel und das Jahrhundertspiel

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