NBA

Statistiken sind wie ein Bikini

Von Simon Haux
Charles Barkley ist ein scharfer Kritiker moderner Analytics in der NBA
© getty

Die Zahlen, die die Welt bedeuten: Statistiken spielen in der Berichterstattung über die NBA, aber auch für Manager und Coaches eine immer größere Rolle. SPOX blickt in einer Themenwoche auf den "Siegeszug der Analytics", erklärt die Stärken und Schwächen verschiedenster Advanced Stats und spricht mit einem deutschen Informatiker, der in den USA zum Stats-Guru wurde.

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"Nur weil deine Statistiken gut aussehen, bist du noch lange kein gutes Defensivteam", legte Charles Barkley kurz vor dem All-Star-Break 2015 los: "Sie haben 118 Punkte kassiert. Kein gutes Team kassiert 118 Punkte."

Gerade hatten die Houston Rockets mit einem 127:118-Erfolg Platz drei in der Western Conference gefestigt. Und abgesehen davon, dass die Phoenix Suns der Saison 1992/93 - das Team, mit dem Barkley die Auszeichnung als Most Valuable Player gewann und in die NBA-Finals einzog - ganze elfmal 118 oder mehr Punkte zugelassen hatten, schien diese Meinung natürlich nachvollziehbar.

Doch der TV-Experte, als Spieler elffacher All-Star und Top-Scorer des Dream Teams bei den Olympischen Spielen in Barcelona, war noch nicht fertig. "Analytics funktionieren überhaupt nicht", so Barkley: "Das ist nur irgendein Scheiß, den sich schlaue Leute ausgedacht haben, um in die NBA zu kommen, obwohl sie kein Talent haben."

Rockets-GM Daryl Morey: Prototyp des "Analytics Guy"

Der Prototyp dieser "Analytics Guys", die Barkley zufolge "nie Basketball gespielt und in der High School keine Mädchen abgekriegt" haben, ist seit Jahren Daryl Morey. Der General Manager der Rockets ist aber bei Weitem nicht der Einzige seiner Zunft, immer mehr Teams setzen auf frisches Personal ohne eine klassische NBA-Vergangenheit.

Seit 2011 wurden in der Liga 30 General-Manager-Posten neu besetzt (in manchen Franchises gab es natürlich mehr als einen Wechsel) - in 25 Fällen ging der Job an einen Bewerber, der zuvor weder als Spieler noch als Head Coach in der Liga aktiv gewesen war. Auch weiter unten in der Hierarchie ist ein Trend zu "modernen" Methoden zu beobachten.

Beschäftigten vor knapp zehn Jahren gerade einmal fünf Organisationen wenigstens einen Datenanalysten, so gibt es heute in der gesamten NBA bereits 70 festangestellte "Analytics Guys". Die Vorreiter scheinen davon bereits zu profitieren, während andere Franchises der Entwicklung hinterherhinken: Von den zehn Teams, die vor 2012 noch keine Statistiker in ihren Reihen hatten, gehören acht zu den erfolglosesten der vergangenen fünf Jahre.

Zu dieser Gruppe zählen u.a. die Orlando Magic, Los Angeles Lakers, Sacramento Kings und New Orleans Pelicans, deren geringe Anzahl an Siegen auch mit teils enttäuschenden Draftpicks, verlorenen Trades und antiquierter Spielweise Hand in Hand geht. Es wäre aber natürlich zu einfach, dies nur auf das Verschlafen des Statistik-Trends zu schieben.

Charles Barkley: "Es geht nur um Talent"

Charles Barkley hat selbstverständlich eine andere, nicht weniger einfache Erklärung parat: "Es geht nur um Talent." Bei der Suche nach eben diesem Talent können statistische Daten aber durchaus hilfreich sein. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür lieferte John Hollinger, der seinen Job als Datenanalyst bei ESPN gegen den Posten des "Vice President of Basketball Operations" bei den Memphis Grizzlies eintauschte. Schon kurz nach seinem Amtsantritt traf Hollinger dort eine Entscheidung, die viele im Umfeld des Teams zunächst überraschte.

Im Januar 2013 verschiffte er Rudy Gay für Tayshaun Prince, Ed Davis, Austin Day und einen Zweitrundenpick zu den Toronto Raptors. Zu diesem Zeitpunkt war der 26-Jährige Gay mit 17,2 Punkten pro Spiel der Topscorer der Grizzlies und entsprechend beliebt bei den Fans. Doch Hollinger vertraute anderen Zahlen.

Das von ihm entwickelte Player Efficiency Rating (PER) sah in Gay einen unterdurchschnittlichen Offensivspieler, dessen effektive Feldwurfquote (eFG%) zu den schlechtesten der Liga gehörte. Dennoch war der Forward gemeinsam mit Zach Randolph der teuerste Spieler in einem Kader, dessen Gehaltskosten bereits fünf Millionen Dollar über der Luxussteuergrenze lagen.

Die Vermutung, dass Gays Abschied das Team sportlich kaum schwächen würde, bestätigte sich. Während Memphis auch dank Neuzugang Prince die zweitbeste Verteidigung der Liga stellte, blühte offensiv vor allem der junge Mike Conley auf. Letztlich gewann das Team 56 Spiele, schaltete in den Playoffs die topgesetzten Oklahoma City Thunder aus, scheiterte erst in den Conference Finals an den San Antonio Spurs - und sparte dabei auch noch mehrere Millionen Dollar an Gehaltskosten.

Moreyball: Der Siegeszug des Dreiers in der NBA

Eines konnte den Memphis Grizzlies jedoch auch unter John Hollinger zunächst nicht nachgesagt werden: ein radikaler Fokus auf Moreyball. Dieses von Dreiern und Korblegern dominierte Offensivsystem treibt Namensgeber Daryl Morey in Houston seit Jahren auf die Spitze. In Tennessee schob man sich bei den Dreierversuchen dagegen erst ins Liga-Mittelfeld, als ein alternder Z-Bo in der vergangenen Saison in eine neue Rolle als Backup schlüpfte.

Dennoch ist Moreyball das wohl deutlichste Indiz für den "Siegeszug der Analytics". Seitdem in den Hallen der NBA Kameras installiert wurden, die jede Bewegung von Ball und Spielern in Datenpunkte verwandeln, bieten sich den Teams ungeahnte Möglichkeiten. "Analytics sind ganz einfach Informationen", stellte der ehemalige Sixers-Manager Sam Hinkie nüchtern fest. "Wir nutzen sie ständig und überall. Wenn man vor fünfzig Jahren wissen wollte, ob Regen kommt, musste man nach Westen schauen. Heute machst du dein Handy an und Millionen von Sensoren geben dir eine Wettervorhersage. Das ist viel besser, als nach Westen zu schauen."

Aus den Informationen über den durchschnittlichen Wert verschiedener Würfe zog Morey einen zentralen Schluss: Versuche aus der Mitteldistanz sind die schlechtesten Würfe der NBA. Sie sind schwieriger zu treffen als Korbleger und bringen weniger Punkte als Versuche von jenseits der Dreierlinie. Das Ziel eines erfolgreichen Teams müsste also sein, auf diese "schlechten" Würfe, wenn möglich, zu verzichten.

Warriors-GM Bob Myers: "Analytics sind wie ein Bikini"

Diese simple Erkenntnis scheint die Liga in den vergangenen Jahren im Sturm erobert zu haben. Bis 2012 hatten Teams jahrelang durchschnittlich rund 18 Distanzwürfe pro Spiel genommen, gut ein Fünftel der Feldwürfe kam von jenseits der Dreierlinie. Bis zur Saison 2016/17 stieg dieser Wert rasant an, inzwischen ist fast jeder dritte Wurf in der NBA ein Dreier (27 pro Spiel). In Houston wurden auf der Suche nach maximaler Effizienz sogar fast die Hälfte aller Versuche aus der Distanz abgefeuert.

Doch natürlich garantieren auch die besten Datenanalysen noch lange keinen Erfolg. Man braucht - da würde kein Morey, Hinkie oder Hollinger Barkley widersprechen - talentierte Spieler. Man braucht Tradepartner, die solche Spieler abzugeben bereit sind. Dazu müssen diese talentierten Spieler gesünder sein als Chandler Parsons in Memphis und sich besser verstehen als Dwight Howard und seine Mitspieler in Houston.

Ein Mann, der sich dessen genauso bewusst ist wie der Bedeutung von Statistiken in der modernen NBA, ist Bob Myers. Bei der MIT Sloan Sports Analytics Conference, dem jährlichen "Dorkapalooza" (Bill Simmons) talentfreier Nerds, Analysten und Manager, sagte der GM der Golden State Warriors im Jahr 2016: "Analytics sind wie ein Bikini. Sie zeigen viel, aber sie zeigen nicht alles."

NBA-Themenwoche: Stats, Stats, Stats

Die SPOX-Themenwoche soll ein wenig Licht ins Dunkel des Zahlendschungels bringen. Den Anfang macht ein Interview mit Jeremias Engelmann. Der Stats-Guru von ESPN erzählt von seinem Weg von der Uni in Karlsruhe in die beste Basketball-Liga der Welt, seiner Zeit bei den Phoenix Suns und erklärt den Nutzen von Daten für Teams, Spieler und Fans. Außerdem gibt er einen Einblick in die Entstehung seines Real Plus-Minus (RPM), spricht über unterbewertete Rollenspieler und überbewertete Stars und gibt Prognosen für die kommende Saison ab.

Ab Dienstag steht dann alles im Zeichen der Zahlen. Egal ob die individuelle Offensivleistung von Spielern, ihre Rolle im Mannschaftsgefüge, ihr Beitrag zur Verteidigung oder die Leistungsstärke und Spielidee ganzer Teams: Das alles wird in der heutigen NBA anhand verschiedenster Zahlen und Metriken bewertet. Wir erklären, was diese Statistiken aussagen - und was nicht. Schließlich sind viele von ihnen kein "Scheiß", sondern Bikinis.

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