NFL

Die mysteriöse Bestie

Von Adrian Franke
Marshawn Lynch trifft mit den Seahawks im Super Bowl auf New England
© getty

Marshawn Lynch ist das Herz und die Seele der Seahawks-Offense. Doch der NFL ist er trotzdem ein Dorn im Auge. Dabei zeichnet ein Blick hinter die Kulissen ein anderes Bild von Seattles Running Back, der im Super Bowl gegen die New England Patriots seinen zweiten Ring gewinnen kann (Mo., 0.30 Uhr im LIVE-TICKER).

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Es war einer dieser seltenen Momente, in denen man das Gefühl hatte, dass sich Marshawn Lynch wirklich öffnet. "Ich würde gerne sehen, wie diese ganzen Kritiker in Sozialwohnungen aufwachsen, die ganze Zeit aufgrund ihrer Hautfarbe verurteilt werden, manchmal nicht einmal etwas zu essen haben und die gleichen verdammten Klamotten eine Woche lang in die Schule anziehen müssen", sagte der 28-Jährige vor einigen Jahren gegenüber "ESPN" im Rahmen eines größeren Interviews.

Mit Tränen in den Augen fuhr er fort: "Dann kommt plötzlich dieser unfassbare Wandel in ihrem Leben. Ihr Traum wird wahr und sie beginnen als 20-Jähriger ihre Profi-Karriere, wenn sie von nichts eine Ahnung haben. Ich würde gerne einige der Fehler sehen, die sie dann machen würden."

Unglücklich in Buffalo

Für Lynch war es gleichzeitig Teil seiner öffentlichen Aufarbeitung der eigenen Fehler. An zwölfter Stelle holten sich die Buffalo Bills den Running Back 2007 im Draft, einige Jahre später blickte Lynch, der sein ganzes Leben bis dahin in Oakland und im College in Berkeley verbracht hatte, zurück: "Ich wusste nicht, was ich erwarten sollte. Ich wusste nur, dass ich jetzt nach New York gehe." Schnee hatte er zuvor in seinem Leben noch nie gesehen, dennoch ließ der Einstand auf dem Platz kaum Wünsche offen.

Der damals 20-Jährige startete seine NFL-Karriere mit zwei 1000-Rushing-Yard-Seasons, doch es folgten Probleme. 2008 erwischte er einen Fußgänger mit seinem Auto und fuhr davon, ein Jahr später brachte ihm der illegale Besitz von Waffen eine Drei-Spiele-Sperre ein.

"Ich habe meine Familie, mich selbst und das ganze Team im Stich gelassen", sollte Lynch später sagen. Doch die Bills hatten genug von ihrem Running Back, zumal mit Fred Jackson sowie First-Round-Pick C.J. Spiller bereits zwei Alternativen mit den Hufen scharrten.

Zudem wurde Head Coach Dick Jauron, zu dem Lynch ein sehr gutes Verhältnis hatte, entlassen. Kurzum: Buffalo erhielt einen Viertrunden-Draft-Pick 2011 sowie einen Fünftrunden-Pick 2012 und gab Lynch dafür 2010 nach vier Saisonspielen an Seattle ab. Eine Business-Entscheidung, durch die sich Lynch zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückzog. Dabei konnte es den Bills offenbar gar nicht schnell genug gehen: Angeblich waren die New Orleans Saints bereit, einen Drittrunden-Pick abzugeben, wurden aber nie kontaktiert.

Der Earthquake-Run

Seattle konnte sein Glück derweil kaum fassen. Head Coach Pete Carroll, der Lynch schon seit dessen High-School-Tagen kannte, machte dem Running Back klar, dass er sich an bestimmte Regeln hinsichtlich des Teams zu halten habe - sich aber abseits des Platzes nicht verstellen oder anpassen müsse. Und das bis dahin sechstschwächte Running Game der Liga hatte plötzlich einen neuen charismatischen Anführer.

Lynch erlief in dieser Saison für die Seahawks in 12 Spielen 573 Yards sowie fünf Touchdowns und hatte entscheidenden Anteil an der Playoff-Teilnahme trotz negativer Bilanz.

Unvergessen ist bis heute sein Beast-Mode-Signature-Run gegen die Saints im folgenden Wild-Card-Game, als Lynch das Team mit 131 Rushing-Yards trug. Die Fans im Stadion rasteten derart aus, dass Seismographen in dem Moment leichte Erdbeben-ähnliche Erschütterungen feststellten. Der "Earthquake-Run" war geboren.

"Beast Mode... auf dem Platz"

Sein Spitzname Beast Mode, längst auch vom Marketing für diverse Produkte ausgeschlachtet, reicht aber deutlich weiter zurück. Schon in der High School war der Running Back in und um Oakland ein Star und dafür bekannt, dass er kaum zu Boden zu bringen ist. In seinem letzten Spiel vor dem Schulabschluss gelangen ihm fünf Touchdowns. Als er kurz vor dem Draft zu seinem Spielstil befragt wurde, antwortete Lynch: "Beast Mode!" Nur um nach kurzem Zögern grinsend hinzuzufügen: "Auf dem Platz."

Müsste man Marshawn Lynch in einem Satz zusammenfassen, seine Selbstcharakterisierung ist wohl schwer zu schlagen. Denn so hart und rücksichtslos der Running Back mit Gegnern und mit sich selbst auch läuft, umso uneigennütziger ist er bei allem anderen. Lynch wuchs mit seinen drei Geschwistern in Goldenville, einem der gefährlichsten Bezirke Oaklands, auf, sein Vater verbrachte mehr Zeit im Gefängnis als zuhause.

"Du fängst irgendwann an, das Schlechteste in den Menschen zu sehen", gibt Lynch heute offen zu und betont, seinen Vater nie vermisst zu haben. Stattdessen hatte seine Mutter zwei Jobs, um die Familie durchzubringen, und füllte gleichzeitig die Rolle der Mutter sowie die des Vaters aus.

Doch selbst sie konnte an der Perspektivlosigkeit in dem harten Umfeld, das Lynch ohne Zweifel geprägt hat, wenig ändern: "Dort, wo ich aufgewachsen bin, sehen viele Leute das Licht am Ende des Tunnels nicht. Ich habe es auch nicht gesehen."

Seattles Legion of Boom: Das vierköpfige Monster

"Haben viel Scheiße mitbekommen"

Immerhin durften Lynch und seine Geschwister das Grundstück häufig nicht verlassen, weil es schlicht zu gefährlich war. "Du wusstest nie, was passieren würde. Du hättest eine Schießerei sehen können, oder jemanden, der Drogen verkauft. Du konntest von der Polizei angehalten werden oder Prostituierte sehen. Wir haben viel Scheiße mitbekommen, die Kinder nicht sehen sollten", erzählt er noch heute.

Aber Lynch will nicht wegschauen und stattdessen etwas ändern. In jeder Offseason ist er in Oakland, mit Blick auf seine eigene Kindheit liegt ihm vor allem der Nachwuchs unglaublich stark am Herzen.

Wenn Lynch über irgendetwas auch nur ansatzweise gerne mit den Medien spricht, dann ist es seine Fam First Family Foundation, deren Ziel es ist, unterprivilegierten Kindern und Jugendlichen mit ihrem Selbstvertrauen und ihrer schulischen Ausbildung zu helfen.

"Ich liebe Kinder, deshalb bin ich immer dabei, wenn ich Kindern helfen kann", betonte der 28-Jährige jüngst und sieht darin auch seine Post-Karriere-Planung: "Wenn ich mehr Zeit haben werde, kann ich mich das ganze Jahr über mit diesen Kindern beschäftigen. Wir wollen ihnen grundsätzliche Fähigkeiten beibringen, die meiner Meinung nach viele nicht haben. Wie man mit Geld umgeht, wie man einen Lebenslauf schreibt, wie man Bewerbungen ausfüllt oder wie man selbstbewusst auftritt."

Große Verantwortung als Motivation

Es ist beeindruckend zu sehen, wie der sonst so verschlossene Running Back aufblüht, wenn er mit absoluter Überzeugung über die Kinder spricht, die häufig so aufwachsen wie er selbst. Man merkt, dass man es mit einem Menschen zu tun hat, für den der Sport, so viel Spaß er ihm auch macht, nicht an erster Stelle steht. Doug Hendrickson, seit 2007 Lynchs Berater, berichtete einst: "Bei unserem ersten Treffen hat er keine Fragen zum Vertrag oder Marketing gestellt. Sein Traum war es einfach, ein Jugendzentrum für Kinder in Oakland zu bauen."

Darüber hinaus spendet er etwa den Gemeinden an Thanksgiving hunderte Truthähne sowie an Weihnachten Geschenke, 600 Kinder sind jedes Jahr bei seinem Sommer-Football-Camp - kostenlos, versteht sich.

Bis heute hat Lynch, der nach wie vor ein Haus in der Bay Area hat, seine Wurzeln nicht vergessen und ermöglicht es immer wieder Kindern aus seiner Stiftung, Spiele im Stadion zu sehen und hinter die Kulissen zu blicken, ohne dabei großen medialen Wirbel darum zu machen.

Und er selbst sieht diese Verantwortung als Ansporn, nicht wieder auf die schiefe Bahn zu kommen: "Es war damals eine Erfahrung, die mich auf den Boden der Tatsachen geholt hat. Viele dieser Kinder dachten, ich könnte keinen Fehler machen. Ich würde nicht sagen, dass es ein Weckruf war. Davon hatte ich einige. Es ist vielmehr eine Motivation. Ich will keines dieser Kinder noch mal enttäuschen."

Seite 1: Die Geburt von Beast Mode

Seite 2: Ärger mit den Medien und das Karriereende

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